Der Terror rückt ein Land nach rechts

Erstveröffentlicht: 
30.08.2016
Palästinensische Einzeltäter töten Juden in kleinen, unberechenbaren Attacken – die „Facebook-Intifada“ zermürbt Israel
VON ANN-KATHRIN SEIDEL

 

Hallel Yaffa Ariel hatte keine Chance. Der Attentäter schlich nachts ins Schlafzimmer der 13-Jährigen in einer jüdischen Siedlung bei Hebron und stach auf sie ein. Fotos zeigen ein in Blut getränktes Kinderzimmer. Auf Kissen, Laken, Teppich, überall Blut.

 

Israel hat wie Deutschland in diesem Jahr einen beängstigenden Sommer erlebt. Nur: Die Anschläge in Deutschland oder Frankreich machen weltweit Schlagzeilen. Die Gewaltwelle in Israel wird international kaum zur Kenntnis genommen. Vielleicht, weil die Täter nicht dem „Islamischen Staat“ Treue geschworen haben. Vielleicht, weil der Teufelskreis von Verbrechen und Rache und neuem Verbrechen immer undurchdringlicher wird.

 

Der Mord an der jungen Hallel ist nur die brutalste Tat in einer Reihe von rund 300 Attentaten, bei denen in den vergangenen zehn Monaten 33 Israelis, mehrere Ausländer und mehr als 200 Palästinenser getötet worden sind. Die meisten sind jung, viele noch Teenager. Der Mörder von Hallel war erst 17 Jahre alt. Er hatte, auch das typisch, keine Verbindungen zu Terrororganisationen. Die Attentäter ziehen alleine los, stechen Juden mit Messern nieder oder überfahren sie mit Autos.

 

Es ist der Aufstand der einsamen Wölfe. Sie lassen sich, so jedenfalls stellt es die israelische Seite dar, von Hetzreden im Internet aufstacheln zu einer Strategie der begrenzten Katastrophen. „Facebook-Intifada“ nennen Israelis diesen Krieg der Einzeltäter. Gewohnheitsmäßig reißt der israelische Staat die Häuser der Attentäter ein, bestraft ihre Familien. Es hält keinen Nachahmungstäter ab.

 

Keiner kann vorhersagen, wann und wo der nächste Anschlag passiert. Israelische Juden müssen das Gefühl ertragen, immer und überall zum Ziel werden zu können. Die einsamen Wölfe haben Erfolg: Die Gesellschaft droht daran zu zerbrechen. Jedenfalls wirkt diese Intifada anders als andere zuvor wie ein Verstärker für die ohnehin bestehende gesellschaftliche Spaltung.

 

„Ich habe große Sorgen, in welche Richtung sich Israel bewegt. Wenn das so weitergeht, sind wir bald völlig isoliert von der Welt“, sagt Bar Gissin. Die 27-jährige Studentin ist Vorsitzende von Young Meretz, der Jugendorganisation der gleichnamigen linksliberalen Oppositionspartei – und Protestführerin. Die junge Frau hat, ebenfalls via Facebook, Tausende Demonstranten auf die Straße geholt, darunter knapp ein Dutzend Knesset-Abgeordnete. Sie alle sehen Israel an einem Tiefpunkt angekommen.

 

Dabei hat der kleine jüdische Staat sich gerade erst mit der Türkei versöhnt. Mitte Juli landete Ägyptens Außenminister zu einem Überraschungsbesuch am Flughafen Ben Gurion, das erste Mal seit neun Jahren. Innenpolitisch aber steuert das Land in eine ganz andere Richtung. Symptomatisch dafür sei die Ernennung von Avigdor Lieberman zum Verteidigungsminister Ende Mai, sagt Gissin: „Es ist unvorstellbar, dass ein Rassist dieses wichtige Amt innehat.“

 

Mit Liebermans Partei „Israel Beitenu“ hat Premier Benjamin Netanjahu seine knappe Mehrheit ausgebaut, aber Israel gleichzeitig die rechteste Regierung seit seiner Staatsgründung verschafft. Lieberman ist so etwas wie der Donald Trump des Heiligen Landes: ein Ultranationalist, der in der Vergangenheit oft gegen Araber Stimmung gemacht hat und häufig populistische Töne anschlägt. Er ist ein Befürworter des Siedlungsbaus und wohnt demonstrativ im von Israel besetzten Westjordanland.

 

Folgen des Rechtsrucks sind vielerorts spürbar. Mitte Juli verabschiedete die Knesset ein Gesetz, das die Arbeit von Nichtregierungsorganisationen, die aus anderen Staaten finanzielle Unterstützung erhalten, stark einschränkt. Betroffen davon sind vor allem Menschenrechtsorganisationen, die die Besetzung des Westjordanlands kritisieren. Ein „Facebook-Gesetz“ soll jetzt die Löschung von Inhalten erzwingen, die dem Staat nicht passen oder von ihm als „Gefahr für die öffentliche Sicherheit“ benannt werden. Ein anderes Beispiel ist ein neues Schulbuch mit dem Titel „Bürger in Israel sein“. Kritiker werfen den Autoren vor, die jüdische vor die demokratische Identität zu stellen. Damit treffen sie den Kern des aktuellen gesellschaftlichen Ringens.

 

„Das Land befindet sich mitten in einer großen Debatte darüber, wie der Staat verfasst ist und was für ihn aufgegeben wird“, sagt Kerstin Müller, ehemalige grüne Staatsministerin im Auswärtigen Amt und seit 2013 Leiterin der Heinrich-Böll-Stiftung in Tel Aviv. „Das säkulare, zionistische Lager verliert an Boden gegenüber jenen, die sich eher mit ihrem Tribe identifizieren, mit einer bestimmten ethnischen, religiösen oder gesellschaftlichen Gruppierung wie den Ultraorthodoxen.“

 

Eine Gewalttat habe diesen Trend besonders deutlich gemacht, sagt Müller. Ende März veröffentlichte die Menschenrechtsorganisation B’Tselem – eine jener Organisationen, die von dem restriktiven Gesetz betroffen sind – ein Video aus Hebron. In der Stadt im Westjordanland leben 200 000 Palästinenser und 800 militante jüdische Siedler, die von der Armee beschützt werden. Die Szene beginnt, kurz nachdem zwei Palästinenser einen israelischen Soldaten verletzt haben: Auf der Straße liegen die Angreifer, einer ist tot, einer verletzt. Ein Soldat nähert sich, lädt seine Waffe durch, zielt auf den Kopf des Verletzten und drückt ab.

 

Vor dem Militärgericht in Jaffa läuft derzeit der Prozess gegen diesen Soldaten, Elor Azaria. Was die Tat zu einem Kristallisationspunkt macht, ist jedoch nicht die Beiläufigkeit, mit der er den Palästinenser tötete. Es ist die Frage: Ist Azaria ein Held oder ein Mörder?

 

Im Grunde ist es ein uralter Konflikt, den schon Staatsvater Theodor Herzl lange vor der Gründung Israels in seinem utopischen Roman „Altneuland“ beschrieb: Soll Israel ein jüdischer und demokratischer oder nur ein jüdischer Staat sein? Bei Herzl setzen sich die Gemäßigten durch, im heutigen Israel ist die Tendenz eine andere. „Kurz nach der Ermordung des Palästinensers in Hebron hat eine Umfrage ergeben, dass 60 Prozent der Israelis das für richtig hielten. Da ist gesellschaftlich etwas richtig verrutscht“, sagt Kerstin Müller.

 

Auch Aktivistin Gissin hat Angst vor den Folgen einer immer stärker auf das Jüdische gerichteten Staatsidee. Gleichzeitig muss sie zugeben, dass das linke Lager derzeit keine Alternative bietet. „Ich träume davon, eine Einigkeit wie unter Jitzchak Rabin wiederherzustellen“, sagt sie. Davon sind die Parteien aber weit entfernt. Im Gegenteil, die Stärke der Rechten baut auch auf der Zerstrittenheit der Linken und ihrer Unfähigkeit aus, linke Kernthemen zu besetzen – allen voran die sozialen Fragen.

 

Derzeit ist die soziale Ungleichheit in keinem Industriestaat größer als in Israel. Dennoch wählen selbst jene, die zu den Verlierern gehören, tendenziell rechts. 2011 gingen Hunderttausende gegen soziale Ungleichheit auf die Straßen. „Heute ist es immer noch so, dass sich junge Leute niemals eine eigene Wohnung in Tel Aviv leisten könnten. Da hat sich nichts verändert. Und deswegen müssen wir eins verstehen: Die soziale Frage geht Hand in Hand mit der Sicherheitsfrage“, sagt Gissin.

 

Die Regierung Netanjahu hat das Bedürfnis verstanden. Nach dem Mord an Hallel hat sie den Bau weiterer Siedlerwohnungen in Ostjerusalem angekündigt. Die jungen Attentäter verstehen das auf ihre Weise. Und antworten auf Rache mit neuen Verbrechen.

 

Es istunvorstellbar, dass ein Rassist Verteidigungs­minister ist.“

 


 

Sie schnappen sich ein Messer und ziehen los“


Armeesprecher Shalicar sieht in vielen Attentätern Jugendliche, die „keinen Ausweg im Leben wissen“

 

Major Shalicar, Israel hat innerhalb von zehn Monaten rund 300 Angriffe von Einzeltätern verzeichnet. Warum schafft es die Armee nicht, die Attentate zu stoppen?


Wir haben es nicht mit einer Terrorgruppe zu tun. Viele Attentäter sind Jugendliche. Sie wollen persönliche Rache oder wissen keinen Ausweg im Leben. Es gibt darunter Mädchen, die häusliche Gewalt erlebt haben, und Jungen, die schwul sind und sich Respekt verschaffen wollen. Viele schauen sich nachts Videos von arabischen Sendern an, spielen Computerspiele oder surfen in Foren, in denen zu Gewalt gegen Juden aufgerufen wird. Morgens schnappen sie sich ein Messer und ziehen los. Als die Angriffe im Oktober begannen, hatten wir 81 Attentate im Monat. Inzwischen gehen sie zurück, aber es ist unmöglich, sie zu 100 Prozent zu unterbinden.


Wo bekommen die jungen Leute die Waffen her?


Ein besorgniserregender Trend ist, dass immer mehr selbst gebaute Schusswaffen kursieren, die sogenannten Carl Gustaf. Das sind Maschinenpistolen, die in privaten Waffenschmieden zusammengebastelt werden. Wir haben allein in den letzten Tagen drei dieser Fabriken ausgehoben.


Viele Angriffe finden im Westjordanland und in Ostjerusalem statt. Sehen Sie einen Zusammenhang mit der militärischen Besatzung?


Ein solcher Zusammenhang wird immer wieder hergestellt. Damit macht man es sich aber zu einfach. Wir sehen vielmehr auch, dass die Nähe entscheidend ist. Attentäter wollen Grenzkon­trollen nach Israel umgehen und greifen daher die nächstgelegenen Dörfer an.


Derzeit steht ein Soldat vor Gericht, der in Hebron einen verletzten Attentäter mit einem Kopfschuss getötet hat. In Israel wird darum gestritten, ob er ein Held oder ein Mörder ist. Was sagt die Armee dazu?


Darüber muss das Militärgericht entscheiden, vor dem Elor Azaria sich verantworten muss. Wir haben sehr hohe ethische Standards, und wenn er etwas falsch gemacht hat, muss er dafür bestraft werden.


Nun gehört der neue Verteidigungsminister Avigdor Lieberman zu den prominentesten Unterstützern des Soldaten Azaria. Ist das ein Problem für diese Standards?


Nein, absolut nicht. Wir haben das immer wieder gesehen: Der Verteidigungsminister nimmt seine politische Meinung nicht mit ins Amt, egal aus welchem Lager er stammt.


Interview: Ann-Kathrin Seidel