Berlin. Die Türkei sei „zentrale Aktionsplattform“ für islamistische Gruppen in Nahost. So steht es in einem vertraulichen Regierungsbericht.
Im deutsch-türkischen Verhältnis steht neuer Ärger ins Haus. Nach der von Präsident Recep Tayyip Erdogan betriebenen Verhaftungswelle hatte es in Berlin bereits parteiübergreifend Kritik gehagelt. Die drastischen Maßnahmen liefen auf einen Abbau des Rechtsstaats hinaus, die Türkei drifte in ein autoritäres Regime ab, hieß es. Zuvor hatten Erdogans geharnischte Proteste gegen die Schmähgedichte des Satirikers Jan Böhmermann in Deutschland für Empörung gesorgt.
Bislang hatte sich Merkel öffentlich zurückgehalten
Bundeskanzlerin Angela Merkel hielt sich allerdings bislang mit öffentlicher Missbilligung zurück, um den mühsam ausgehandelten Flüchtlingspakt zwischen der EU und der Türkei nicht zu gefährden. Dafür warnte Präsident Erdogan unverhohlen, den Pakt platzen zu lassen, sollte es nicht zu einer zügigen Visaliberalisierung für Reisen in EU-Länder kommen. Doch Brüssel legte sich quer. Ankara müsse für die Visafreiheit die Antiterrorgesetzgebung ändern und vier weitere Bedingungen erfüllen, bekräftigte gestern eine Sprecherin der EU-Kommission.
Nun droht eine Einschätzung des Bundesinnenministeriums das Verhältnis der beiden Länder schwer zu belasten. Demnach stuft die Bundesregierung die Türkei als Unterstützer islamistischer und terroristischer Gruppen im Nahen Osten ein. „Die zahlreichen Solidaritätsbekundungen und Unterstützungshandlungen für die ägyptische Muslimbruderschaft, die Hamas und Gruppen der bewaffneten islamistischen Opposition in Syrien durch die Regierungspartei AKP und Staatspräsident Erdogan unterstreichen deren ideologische Affinität zu den Muslimbrüdern“, zitierte die ARD am Dienstag aus der Antwort des Innenministeriums auf eine Anfrage der Linkspartei.
„Zentrale Aktionsplattform für islamistische Gruppen“ in Nahost
Mit dieser Bewertung stellt die Bundesregierung erstmals offiziell eine direkte Verbindung zwischen dem türkischen Präsidenten und einer Terrororganisation wie der Hamas her. Bislang war lediglich inoffiziell von Hilfen Ankaras für die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) die Rede. Dabei wurde ebenso auf Waffenlieferungen verwiesen wie auf die medizinische Versorgung von IS-Kämpfern in der Türkei oder laxe Grenzkontrollen, etwa beim Schmuggel von Öl. Wie Saudi-Arabien sei die Türkei daran interessiert, die islamistischen Rebellen gegen Syriens Staatspräsidenten Baschar al-Assad zu stärken, lauteten die Vorwürfe.
Als Folge der in den vergangenen Jahren schrittweise islamisierten Innen- und Außenpolitik habe sich die Türkei „zur zentralen Aktionsplattform für islamistische Gruppierungen im Nahen Osten“ entwickelt, zitierte der Sender weiter aus der auf Einschätzungen des Bundesnachrichtendienstes basierenden Stellungnahme. Die wesentlichen Aussagen daraus wurden vom Innenministerium „aus Gründen des Staatswohls“ als vertraulich eingestuft.
Keine Absprache mit dem Auswärtigen Amt
Das Ressort von Innenminister Thomas de Maizière (CDU) hatte sich dabei offenbar nicht mit dem für diese Fragen eigentlich zuständigen Auswärtigen Amt abgesprochen. Formal gilt die Antwort des Ministeriums an den Bundestag allerdings dennoch als offizielle Position der Regierung. Ein Vorgang, den der SPD-Außenpolitiker Rolf Mützenich rügte. Er befürchtet Konsequenzen im Verhältnis zu Ankara. „Bei einer so sensiblen und weitreichenden Einschätzung hätte das Auswärtige Amt einbezogen werden müssen. Immerhin handelt es sich bei der Türkei um ein Nato-Land, und deutsche Soldaten sind dort gegenwärtig stationiert“, sagte Mützenich.
Erdogan machte bislang kein Geheimnis aus seiner Unterstützung für die Muslimbruderschaft als politische Bewegung und die Nähe zu radikalen Palästinensern. Bekannt ist auch seine Sympathie für Teile der Opposition in Syrien, darunter die bis vor Kurzem der extremistischen al-Qaida angehörende Al-Nusra-Front. Im Juni traf sich Erdogan türkischen Regierungskreisen zufolge in Istanbul mit dem Chef der im Gazastreifen herrschenden radikalislamischen Hamas, Chaled Maschaal.
Linke fordert klare Kante gegen Ankara
Die Linke-Politikerin Sevim Dagdelen forderte die Bundesregierung auf, aus dieser Einschätzung Konsequenzen zu ziehen und ihre Politik gegenüber der Türkei radikal zu ändern. „Die Bundesregierung muss sich schon entscheiden. Es kann nicht angehen, dass man in der Öffentlichkeit den Terrorpaten Erdogan als Partner bezeichnet, während man intern vor der Türkei als Drehscheibe des bewaffneten Islamismus warnt“, betonte die Linke-Abgeordnete. Wenn die Bundesregierung nun nicht bereit sei, gegenüber Erdogan klare Kante zu zeigen, mache sie sich mitschuldig an dessen Verbrechen, die Türkei als Heimstatt des bewaffneten Islamismus zu etablieren.
Der außenpolitische Sprecher der Grünen, Omid Nouripour, äußerte sich ähnlich. „Es ist gut, wenn die Bundesregierung endlich kritische Punkte gegenüber Erdogan öffentlich anspricht“, sagte er. „Es ist nur verwunderlich, dass sie mit seiner Gesinnung anfängt und nicht mit den konkreten brennenden Fragen, die sich aktuell stellen: Meinungsfreiheit, Minderheitenrechte, die Unabhängigkeit von Justiz und Presse sind in der Türkei derzeit massiv bedroht.“
Dilemma für Angela Merkel
Der Druck auf Kanzlerin Merkel in der Türkei-Frage wird jedenfalls stärker. Und damit auch ihr Dilemma. Redet sie im Lichte der neuesten Erkenntnisse Tacheles mit Erdogan, mag ihr das innenpolitisch Punkte bringen. Ob ihr großes strategisches Ziel – der Flüchtlingspakt – hält, ist angesichts der Dünnhäutigkeit des türkischen Präsidenten eine andere Frage.