Haue in Aue

Erstveröffentlicht: 
07.07.2016

Ein Reporter hat den Rassismus in Aue kritisiert, die Stadt wurde wütend. Nun traute er sich erneut hin

 

Neulich erreichte Raphael Thelen ein Paket, das ihm merkwürdig erschien. Er holte die Polizei, vorsichtshalber. Die stellte fest, dass sich eine Flüssigkeit darin befindet. Das Paket wurde geöffnet.

 

Der Inhalt: ein Glas voller Fäkalien und ein Hinweis, dass es sich hierbei um eine plastische Darstellung seiner Berichterstattung handle.

 

Thelen stammt aus Bonn, er lebt seit Kurzem in Leipzig, und er hatte vor einiger Zeit eine Idee. Er wollte Sachsen, diese in Verruf gekommene Gegend, verstehen. Er wollte wissen, was dran ist an dem Vorwurf, dass die Sachsen einen Hang zum Rechtspopulismus hätten. Gemeinsam mit dem Fotografen Thomas Victor fuhr er mehrere Wochen durch kleine und große Orte, berichtete darüber auf einem Internetblog: neuenormalitaet.de.

 

Dann gab er der ZEIT ein Interview, Mitte Mai 2016. Es trug die Überschrift: Was ist bloß in Sachsen los? "Die Sache ist", sagte Thelen in dem Gespräch, "dass uns auf unserer Tour schnell klar wurde: Das Problem ist nicht kleiner, als die Medien es machen – sondern es ist eher größer."

 

Die Kleinstadt Aue im Erzgebirge, eine der Stationen von Thelens Reise, kam dabei besonders schlecht weg. In Aue sei es so gewesen, sagte Thelen, dass "wir erschöpft waren von üblen Geschichten. Eine Weile kannst du professionelle Distanz halten. Irgendwann geht es dir selber schlecht. Wir dachten: Was zum Teufel ist in dieser Stadt los?" Und: "Ich hätte es einfach nicht für möglich gehalten, dass es in diesen Kleinstädten bei vielen Leuten so eine problematische Grundeinstellung gibt. Offenbar lebt dort niemand, der Menschen widerspricht, wenn sie ihre Vorurteile ablassen."

 

Diese Worte lösten in Aue einen Sturm der Entrüstung aus. Die Frage ist: Wie schnell darf man beleidigt sein, wenn es Kritik hagelt? Und wie kritisch darf man sein, ohne zu beleidigen?

 

Es sind in den vergangenen Monaten viele harte Sätze über Sachsen geschrieben worden, auch härtere als die, die Thelen verwendet hat. Es gab dann Leserbriefe und Online-Kommentare, vereinzelt Anrufe in Redaktionen. Aber dass sich eine ganze Stadt vereint über einen Reporter empört hätte? Dass ein ganzer Ort erzürnt gewesen wäre? "Das habe ich auch noch nicht erlebt", sagt Raphael Thelen. In Aue geschah genau das. Zu behaupten, er habe eine "Debatte angestoßen" – wie Journalisten es gerne formulieren –, wäre heftig untertrieben. Unter den Leuten, die sich aufregten, waren der Oberbürgermeister, Stadträte, Unternehmer. Auch die Lokalzeitung mischte mit.

 

Der Oberbürgermeister, Heinrich Kohl von der CDU: Erst gab er der Freien Presse Interviews und beschwerte sich über Thelen. Es gebe, sagte er, auch in Westdeutschland "rechtsgerichtete" Einstellungen. Dann, als Ende Mai auf eine Auer Asylunterkunft ein Brandsatz geworfen wurde, spekulierte Kohl: Eine fremdenfeindliche Motivation der Täter liege zwar zunächst auf der Hand. Sie, die Täter, könnten jedoch auch Trittbrettfahrer sein, "aufgrund der medialen Berichterstattung nach einem sehr einseitigen Bericht eines Journalisten in einer großen deutschen Wochenzeitung".

 

Damit war Thelens ZEIT-Interview gemeint. Aber ist das wirklich der richtige Zusammenhang? Ein Oberbürgermeister sagt, dass die kritische Berichterstattung eine Art Anstiftung zur Brandstiftung gewesen sein könnte? Ist das noch normale Auseinandersetzung?

 

"Ich habe mich schon gefragt, ob ich es übertrieben habe", sagt Raphael Thelen. "Aber dann bekam ich Anrufe von Leuten aus dem Erzgebirge, die mir sagten: ›Danke, dass Sie das geschrieben haben! Ich verzweifle hier.‹" 

 

Ein normal großes Neonazi-Problem?


 

Thelen hätte es sich einfach machen können. Er hätte sagen können: Prima, Aue streitet, ich schaue es mir aus der Ferne an. Aber er ist, in der vergangenen Woche, wieder nach Aue gefahren. Die Mitglieder des Stadtrats haben ihn zu einer Diskussionsrunde eingeladen. "Klar habe ich daran teilgenommen", sagt Thelen, "das ist ja, was ich wollte: eine Debatte anstoßen." Der vorige Donnerstagabend: Im Rathaussaal sitzen 80 Gäste. Als Moderator ist Frank Richter aus Dresden angereist, Direktor der Landeszentrale für politische Bildung. Die Stühle im Saal sind in Kreisen aufgestellt, alle sollen einander ansehen können, aber eigentlich gucken die meisten vor allem zu Raphael Thelen. Die Stimmung ist so angespannt, wie man das von den vielen Asyldiskussionen kennt, die in Deutschland in den vergangenen Jahren stattgefunden haben. Manche fangen an, laut zu werden, noch ehe sie ihren ersten Satz ausgesprochen haben.

 

Dankbar sind sie Thelen fast alle wenigstens dafür, dass er gekommen ist. Das war’s dann aber mit der Höflichkeit. In den nächsten 45 Minuten findet, erst einmal, ein Tribunal statt. Die Wortmeldungen der Auer klingen so: "Jetzt kommt einer dahergelaufen, ich betrachte Herrn Thelen als Nestbeschmutzer, und beleidigt unsere Bevölkerung auf gröbste, unflätigste Weise." Ja: "Solche Leute wie Sie, Herr Thelen, gehören nicht in unsere Stadt. Wenn in meine Wohnung einer reinkommt und versucht, Stunk zu machen, den schmeiß ich raus, dem geb ich Hausverbot. Das würde ich Ihnen auch geben."

 

In Aue gebe es viele Ehrenamtliche, die sich um Flüchtlinge kümmerten, Aue tauge nicht als schlechtes Exempel, Aue habe kein besonderes Problem mit Fremdenfeindlichkeit: Das Auer Problem sei keines, das aus dem sächsischen Fremdenfeindlichkeits-Durchschnitt herausrage, soll das wohl heißen. Oder: Wir haben womöglich ein Neonazi-Problem, aber ein normal großes Neonazi-Problem? In dieser ersten Phase des Abends, vielleicht kann man sie die Nestbeschmutzer-Phase nennen, steht eine Klage im Vordergrund: Aue werde beleidigt. Das Schlimmste, was dieser Stadt offenbar zustoßen konnte, war dieser Reporter. Nicht die Rechtsextremen, die im April einen Sternmarsch durch die Stadt anführten und deretwegen Thelen hierherkam.

 

"Natürlich bin ich damals hergekommen, um nach den Rechten zu suchen", sagt er an dem Abend in Aue. "Aber die sind mir auch überall begegnet."

 

Raphael Thelen hat mit seinem Bericht einen empfindlichen Punkt getroffen. Ostdeutsche Kleinstädte sind verunsicherte Orte. In Sachsen jedenfalls waren es meistens kleinere Städte, in denen sich klandestine rechtsextremistische Strukturen bildeten (Freital), in denen die Bundeskanzlerin wüst bepöbelt wurde (Heidenau) oder in denen Flüchtlingsheime angezündet wurden (Meißen). Verständlich, dass kein Bürgermeister seine Heimat in diese Liste neuer deutscher Schäm-Orte eingereiht sehen will. Das Problem in diesen Kleinstädten ist, so hat es auch Raphael Thelen wahrgenommen: Dort überbrüllen viel zu oft die Unverschämten die Normalos, dort widersprechen die Vernünftigen nicht häufig genug, wenn die Alltagsrassisten ihre Vorurteile ausbreiten.

 

Nach 45 Minuten Debatte passiert etwas, was man gar nicht mehr erwartet hätte. Es beginnt in Aue eine weitere Phase, es ist die Selbstkritik-Phase, und in der greifen andere Auer Bürger zum Mikrofon. Eine Auswahl der Wortmeldungen: "Wir machen es uns zu einfach, die beleidigte Leberwurst zu spielen. Was Herr Thelen eigentlich sagen wollte, und das überprüfe jeder für sich in seinem Bekanntenkreis, wie weit Nazidenke, rassistisches Denken in den Köpfen der Leute angekommen ist. Über Judenwitze wird wieder gelacht, Negerwitze zu machen ist wieder schick."

 

"Sie haben gesagt, Herr Thelen sei ein Nestbeschmutzer. Lassen Sie sich von einer jungen Frau sagen, die als linke Jugendliche im Erzgebirge aufgewachsen ist: Ich kann das Bild bestätigen, das er gezeichnet hat. Und aus diesem Grund habe ich das Nest verlassen." Nun wird auf einmal über ein Problem gesprochen, von dem einige bislang meinten, dass es gar nicht existiere. Aues Oberbürgermeister Kohl gesteht ein, Rassismus sei ein Problem, das durchaus in die Mitte der Gesellschaft gesickert sei. An vielen Orten, nicht nur in Aue. Einig sind sich zum Schluss alle darin, dass Aue seine Probleme nicht exklusiv habe.

 

Verabschiedet wird Raphael Thelen mit neuer, ungekannter Herzlichkeit. "Herr Thelen, vielleicht finden Sie mich aggressiv", hat ein Zuhörer im Rathaussaal gesagt. "Aber wenn Sie wieder mal zu uns kommen, dann lade ich Sie zum Fußballspiel ein."