Sarrazin’s „Apologie des weißen Mannes“ im Bürgersaal

Erstveröffentlicht: 
17.05.2016

Vergangenen Montag durfte Thilo Sarrazin sein neues Buch „Wunschdenken“ in der bayerischen Provinz vorstellen. Den Auszügen aus seiner „Apologie des weißen Mannes“, bestehend aus analytisch schwachen Vorwürfen an die Politik, völlig ahistorischen Ausführungen zu Deutschlands Rolle in der Welt und diversen rassistischen Zuschreibungen lauschten allerdings gerade einmal 70 Personen. Ausgelegt war die Veranstaltung für weit mehr Gäste. Das Podium bot die Gemeinde Betzigau mit ihrem Bürgersaal.

 

Eingeführt und moderiert wurde Sarrazin am 9.5. von Hans-Hermann Gockel. Der ehemalige TV-Journalist spricht auf Veranstaltungen der AfD – unter Anderem im sächsischen Freital. Dort gefalle es ihm – anders als in seiner Heimat sehr, denn: „Wenn ich in Bielefeld durch die Innenstadt gehe, dann habe ich an manchen Tagen das Gefühl, ich bin im Nahen Osten oder in Afrika auf jeden Fall nicht mehr in Deutschland.“

 

An diesem Punkt trifft er sich mit Sarrazin, der in der Öffnung der Grenzen für Geflüchtete „die größte politische Torheit seit dem Zweiten Weltkrieg“ sieht. Durch die seiner Ansicht nach „Millionen kulturfremden Einwanderern mit durchschnittlich niedriger kognitiver Kompetenz“ drohe der Abstieg Deutschlands.

 

Seinem Publikum präsentiert Sarrazin auch gleich eine einfache Erklärung für das von ihm konstatierte Versagen der Politik. Es sei darauf zurückzuführen, dass sich Politiker von einem “utopischen Denken” leiten lassen, das zunehmend an die Stelle der technokratisch inspirierten Problemlösung vergangener Jahrzehnte trete. Im Bestreben, die Welt zu einem besseren Ort und es allen recht zu machen, setzten sie “Wünsche an die Stelle der Wirklichkeit” und blendeten dabei “die realen Zusammenhänge” aus. Diese realen Zusammenhänge – das sind für Sarrazin offenbar die Gesetze der Ökonomie und der menschlichen Natur, denen er eine überzeitliche Geltung zuspricht. Wer sich als Politiker über diese Gesetze hinwegsetzen will, der muss aus Sarrazins Sicht scheitern.

 

Zu diesen „Gesetzen der menschlichen Natur“ gehören für Sarrazin „niedere Antriebe aus dem Stammhirn“. Die seien für das Handeln der Menschen verantwortlich. Der Verstand würde dann erst im Nachhinein zur Rechtfertigung aktiviert und benutzt, um die entsprechenden Ziele auch zu erreichen.

 

Mit Blick auf Griechenland, Nigeria und andere afrikanische Staaten behauptet er, es fehle an Fleiß, Pflichtbewusstsein und westlichen Gesetzen. „Jede Gesellschaft hat exakt den Wohlstand, den sie sich selbst geschaffen hat.“ Sämtliche Entwicklungen innerhalb von Gesellschaften seien allein auf Bedingungen innerhalb dieser zurückzuführen. Er selbst nennt ausdrücklich ehemalige Kolonialstaaten. Von denen dürfe aber keines sich erdreisten, ein anderes Land – insbesondere Deutschland – mit der eigenen Lage in Verbindung zu bringen. Auch eine Verantwortung Deutschlands im Hinblick auf Geflüchtete weist er so zurück. Den Menschen müsse es so schlecht gehen, dass sie gezwungen sind, ihre Probleme selbst zu lösen: „Verantwortlich für die Verhältnisse seid ihr ganz alleine.“

 

In der Gemeinde Betzigau sei man laut Hans-Hermann Gockel „mit offenen Armen empfangen“ worden. Das Kulturamt der Gemeindeverwaltung ist verantwortlich für den Veranstaltungsort. In die Vorbereitung der Buchvorstellung war diese zwar nicht involviert, hätte aber das letzte Wort bei einer möglichen Absage. Die Gemeinde sah – so gab Herr Bürgermeister Helfrich auf telefonische Nachfrage vorab Auskunft – keinerlei Veranlassung zum Handeln. Sarrazin bewege sich schließlich mit seinen Thesen auf dem Boden der Verfassung. Angesprochen auf den Rassismusvorwurf gegen Sarrazins Thesen und den derzeitigen Rechtsruck in der Gesellschaft sagt er: Dann dürfte Frauke Petry auch nicht mehr auftreten.

 

Auch Kritiker besuchten die Gemeinde mit weniger als 2800 Einwohnern und protestierten vor dem Bürgersaal. Eine ältere Dame nimmt an der Veranstaltung teil, um ihre Kritik zu äußern. Mit ihrem Schild „Schafft Sarrazin ab“ und einer Trillerpfeife betritt sie den Saal. Während andere Klatschen ruft sie „Buh“, wodurch sich in der Lokalzeitung, die die Veranstaltung zuvor mehrmals unkritisch angekündigt hatte und den Verkauf der Anfangs etwa 300 verfügbaren Tickets übernahm, auch kritische Töne niederschlugen: „Eine Zuhörerin zwei Reihen vor ihr steht abrupt von ihrem Sitz auf, kommt nach hinten. ‚Wir haben Meinungsfreiheit in Deutschland‘, sagt sie laut. Und sie wolle sich ihre Meinung bilden. ‚Klar, sie klatschen und ich pfeife‘, entgegnet ihr die Seniorin unbeeindruckt.“

 

In der Nacht zuvor brachten Unbekannte einen Schriftzug gegen die Veranstaltung an der Fassade des für die Bewirtung des Bürgersaals zuständigen Gasthaus Hirsch an. Die Zufahrtsstraßen wurden von Bereitschaftspolizei kontrolliert und Fahrzeuge durchsucht. Laut einem Polizeisprecher weil Sarrazin in der Öffentlichkeit „durchaus umstritten“ sei.