Gastbeitrag von Professorin Sylke Nissen über Instrumentalisierung von Statistiken
Heute veröffentlichte die Leipziger Polizei ihre Kriminalitätsstatistik 2015. Gestern stellte Sachsens Innenminister Markus Ulbig die für Sachsen vor. Bei der LVZ lautete die Überschrift auf der Titelseite heute: »Minister Ulbig: Zuwanderer häufiger straffällig als Deutsche« – nur um auf einer hinteren Seite beiläufig zu bemerken, dass dieser Prozentsatz so klein sei, dass sich Vorurteile damit nicht erfüllen werden. Ein anderes Ergebnis der Statistik ist, dass rechtsmotivierte Straftaten in Sachsen um 74 Prozent angestiegen sind, was eine weitaus signifikantere Steigerung und damit eine treffendere Überschrift gewesen wäre. Wieso die Berichterstattung über Kriminalität Fallstricke birgt und viele Vorurteile bedient, schreibt Sylke Nissen, Professorin am Institut für Soziologie der Universität Leipzig, in ihrem Gastbeitrag für den kreuzer. In der Flüchtlingskrise werde die Instrumentalisierung der Statistiken besonders deutlich.
»Straffällig gewordene Flüchtlinge aus Nordafrika werden in Sachsen immer mehr zum Problem.« Das ist der erste Satz eines Beitrags auf der Titelseite der Leipziger Volkszeitung vom 31. Januar. Mit ähnlichem Tenor beginnen zahlreiche journalistische Beiträge, die Kriminalität im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise thematisieren. Der eingangs zitierte Bericht bringt viele Zahlen zur Belegungsstruktur in sächsischen Gefängnissen und keinen einzigen Hinweis auf die Art und Ursachen der Straftaten der ausländischen Häftlinge.
Berichterstattung über Kriminalität ist schwierig, weil Definition und Erfassung kriminellen Verhaltens längst nicht so klar sind, wie man glauben mag. Die wichtigsten Faktoren, die die Messung von Kriminalität beeinflussen, lassen sich in Stichworten skizzieren: Nicht alle Straftaten werden entdeckt, viele werden nicht angezeigt, das Dunkelfeld ist groß. Das Hellfeld, also jener Bereich von bekannt gewordenen Straftaten und gegebenenfalls Tatverdächtigen, das in der polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) dokumentiert wird, bildet die Kriminalitätswirklichkeit verzerrt ab. Straftaten mit Schäden, für die das Opfer Versicherungsschutz genießt, sind ebenso überrepräsentiert wie einzelne Tätergruppen, die spezifische Delikte begehen und in höherem Maße zu Geständnissen neigen – zum Beispiel Jugendliche. Im Vergleich mit Opferbefragungen und Kriminalitätsfurchtanalysen kommt außerdem ans Licht, dass die PKS nicht unbedingt jene Kriminalitätsbedrohung zum Ausdruck bringt, der sich die Bürger ausgesetzt fühlen.
Trotz aller bekannten Grenzen der PKS dient diese Statistik als Grundlage für die öffentliche Einschätzung von Kriminalität. Außerdem wird sie für Informationen über Ausmaß und Struktur der Kriminalität herangezogen. Die dem Artikel der LVZ zugrunde liegenden Daten des sächsischen Innenministeriums zeigen zum Beispiel, dass die Zahl tatverdächtiger Zuwanderer zwischen 2010 und 2015 in Sachsen um das 3,3-Fache anstieg, die Zahl aller Zuwanderer sich aber im selben Zeitraum nahezu verzehnfacht hat. Des Weiteren bringen die Statistiken zum Ausdruck, dass für die Hälfte aller Straftaten knapp 600 sogenannte »Mehrfach-/intensiv tatverdächtige Asylbewerber« zur Verantwortung gezogen werden, die wiederum gerade mal 1,3 Prozent aller Zuwanderer nach Sachsen ausmachen.
Aus den Zahlen des Ministeriums geht auch hervor, dass 40 Prozent der registrierten Straftaten Diebstahlsdelikte und fast 20 Prozent »Beförderungserschleichung«, also Schwarzfahren, sind und der Anteil der Körperverletzungsdelikte bei 11 Prozent liegt. Da in den Massenunterkünften viele Menschen unterschiedlicher Herkunft, Religion und Sozialisation auf sehr engem Raum und mit ungewisser Zukunft zusammenleben müssen, rund 70 Prozent der Asylantragsteller des Jahres 2015 männlich und fast drei Viertel davon unter 35 Jahren alt sind, diese Männer keine Beschäftigung und in vielen Fällen kaum Aussicht auf Anerkennung als Flüchtling haben, sind Gewalttätigkeiten mit Asylbewerbern als Täter und Opfer keine Überraschung. In den Statistiken wird der Anteil solcher situationsbedingter oder anderer ausländerspezifischer Delikte wie Straftaten gegen das Aufenthalts-, das Asylverfahrens- oder das Freizügigkeitsgesetz der EU manchmal ausgewiesen, manchmal nicht.
All diese Hintergründe werden in den Medien zu oft nicht erwähnt. Doch selbst wenn die Strukturen von Straftaten und Straftätern erklärt werden und im Vordergrund beispielsweise die Botschaft steht, dass mehr als 90 Prozent der Geflüchteten nicht mit Gesetzen in Konflikt geraten und die Zahl der Straftaten gegen Flüchtlinge viel stärker gestiegen ist als die Zahl der Straftaten von Flüchtlingen, sind die Aussichten auf eine sachliche Auseinandersetzung mit dem Thema und eine Beruhigung der damit verbundenen Emotionen eher gering. Denn der statistische Filterprozess, dessen Ergebnis in der PKS sichtbar wird, ist Teil der Konstruktion einer Kriminalitätswirklichkeit, die sich informations- und interessenpolitisch einsetzen lässt.
Dafür gibt es wenigstens vier Hinweise: Die einfachste und hinlänglich bekannte Form der Instrumentalisierung von Kriminalitätsdaten erfolgt über den sogenannten Nachrichtenwert, der Informationen über Kriminalität – vor allem von Journalisten – immer noch beigemessen wird. Crime sells.
An zweiter Stelle ist zu berücksichtigen, dass Kriminalitätsstatistiken als Arbeitsstatistiken anzusehen sind, die Auskunft über Behördentätigkeit geben. Für die Polizei ist dieser Nachweis einerseits Beleg für die angemessene Verwendung der Ressourcen und kann andererseits Forderungen nach verbesserter personeller und finanzieller Ausstattung bekräftigen – wenn die Kriminalität steigt. Die Sicherheitsbranche zieht aus Verbrechensszenarien nicht nur ihre Existenzberechtigung, sondern auch Wachstumsimpulse. Die steigende Nachfrage nach Sicherheitsdiensten, Überwachungskameras, Selbstverteidigungskursen und Pfefferspray will befriedigt werden. Kriminalität schafft Arbeitsplätze.
Darüber hinaus orientiert sich Politik gern an Wählerinnen und Wählern, deren Weltbild durch Sicherheitsversprechen bestätigt wird. Obwohl Deutschland zu den friedlichsten Staaten der Erde gehört, überbieten sich Politiker der bürgerlich-konservativen Parteien mit Ankündigungen zur Wiederherstellung nationaler Sicherheit. Wenn laut ZDF-Politbarometer vom 29. Januar zwei Drittel der Befragten glauben, dass die »Kriminalität durch Flüchtlinge« zunehmen wird, scheinen Gesetzesverschärfungen die logische Antwort. Nur zwölf Tage nach den Ausschreitungen in der Silvesternacht in Köln legten das deutsche Innen- und das Justizministerium einen »Gemeinsamen Vorschlag zur erleichterten Ausweisung von Straftätern« vor. Es ist fraglich, ob solche Anlassgesetzgebung wirklich nötig ist, um Kriminalität von Ausländern in den Griff zu bekommen. Aber als Nachweis für angemessenes und zügiges politisches Handeln kommt ein schneller Gesetzentwurf beim Wahlvolk gut an, jedenfalls besser, als darauf zu verweisen, dass die vorhandenen Rechtsmittel ausreichen. In diesem Reaktionsmodus wird dann unwichtig, dass die Erhebung des ZDF auch ergab, dass 70 Prozent der Befragten äußern, persönlich keine Angst vor möglicherweise wachsender Kriminalität durch Flüchtlinge zu haben.
Von der Bevölkerung schließlich mögen die Ströme der Flüchtenden als Globalisierungsfolgen wahrgenommen werden, die nun bis zur eigenen Haustür reichen und Vorboten einer Entwicklung sind, die Migration auch aus anderen Teilen der Erde nach Europa wahrscheinlich werden lässt. Das macht die Angst vor Armutskonkurrenz für jene, die sozialen Abstieg befürchten oder bereits erleben, nur stärker. Der Rekurs auf ein Bedrohungsszenario durch kriminelle Asylbewerber dient in dieser Situation als Abwehrmechanismus und Ventil für eine Unzufriedenheit, deren Ursachen viel tiefer gehen.
Die Silvesterereignisse in Köln und anderswo haben dieser Wahrnehmung und den entsprechenden Reaktionen Vorschub geleistet. Jetzt drohen die Geflüchteten zum Sündenbock zu werden, und angesichts der geschilderten Interessenlagen gibt es kaum eine einflussreiche Instanz, die dem entgegenwirken kann. Solange Bürger, Politik oder Medien nur einfache Lösungen für die Komplexität der Realität haben, wird sich an diesem Zusammenspiel nicht viel ändern. Der Ausweg aus dem Teufelskreis heißt Prävention. Im engeren Sinne beinhaltet dies täter-, situations- und opferbezogene Verbrechensprävention. Im weiteren Sinne aber setzt Vorbeugung bei Bildung und Aufklärung für Ausländer und Inländer an, erstreckt sich auf intelligente, personalintensive Maßnahmen zur Integration und bekämpft Fluchtursachen wie Furchtursachen. Dieser Weg ist langwierig, mühsam und nicht kostenlos, aber beinhaltet zumindest die Chance auf Problemlösung.
Die Autorin Sylke Nissen ist Professorin am Institut für Soziologie der Universität Leipzig
Der Text erschien in der April-Ausgabe des kreuzer.