Von Ausländerfeindlichkeit bis Antisemitismus: Mehr als 1800 rechtsextreme Vorfälle in Berlin

Erstveröffentlicht: 
08.03.2016

Die "Koordinierungsstelle Berliner Register" zählte 2015 deutlich mehr rassistische Angriffe, Demos gegen Flüchtlinge und Nazi-Propaganda. Grund ist auch die AfD: Die Aktivitäten der Partei führten letztlich "zu mehr Gewalt". von Thomas Loy und Susanne Romanowski

 

Demos gegen Flüchtlingsheime, fremdenfeindliche Propaganda oder rassistische Angriffe auf Migranten – solche rechtsextrem motivierten Vorfälle haben 2015 in der gesamten Stadt massiv zugenommen, vor allem in der zweiten Jahreshälfte.

 

Insgesamt zählte die „Koordinierungsstelle Berliner Register“ und die Opferberatungsstelle "Reach out" 1820 Vorfälle im Jahr 2015, einen Großteil davon in der zweiten Jahreshälfte. Im Vorjahr waren es noch 1128. Einen „enormen Anstieg“ nannte das die Koordinierungsstelle, als sie am Dienstag die genauen Zahlen bekanntgab. Die Dunkelziffer sei allerdings immer noch hoch.

 

Das häufigste Motiv bei den Vorfällen: Rassismus. Auch die Zahl der Angriffe - darunter fallen erfolgte Attacken, aber auch Bedrohungen - stieg deutlich, von 179 auf 320. Darunter waren auch 42, zum Teil tätliche, Angriffe auf Kinder. Außerdem nahm die Gewalt gegenüber Juden (von 18 auf 25) sowie Homo- und Transsexuellen (von 22 auf 43) merklich zu. Grundsätzlich sieht Sabine Seyb von "Reach Out" "immer weniger Tabus". Viele der Vorfälle ereigneten sich laut der Beratungsstelle "im Vorbeigehen", die Täter fänden sich "in allen Altersschichten, in allen sozialen Schichten".

 

Alternative für Deutschland auf dem Radar

 

Neu sei für die Koordinierungsstelle das Erstarken von Rechtspopulismus, insbesondere in Form der AfD. In der Statistik erfasst wurden unter anderem Demonstrationen der Partei, Infotische im Straßenwahlkampf, aber auch Plakate, die sich beispielsweise gegen die Homo-Ehe richteten. Sabine Seyb sieht bei der Partei ein "inhaltliches Gefahrenpotenzial". Die Partei mache fremdenfeindliche Einstellungen salonfähig und "führt letztlich zu mehr Gewalt".

 

Schwerpunkte Marzahn und Tiergarten

 

Am stärksten ist Marzahn-Hellersdorf von dieser Entwicklung betroffen, dort verdreifachten sich die Vorfälle im Vergleich zu 2014, besonders wegen der Demos gegen Flüchtlingsheime, die von NPD-Mitgliedern gesteuert wurden. Seit den ersten „Nein zum Heim“-Demos 2013 versucht die NPD, unter dem Deckmantel von Bürgerinitiativen zu mobilisieren. 2015 wurden 298 rechtsextremistische Vorfälle in Marzahn-Hellersdorf registriert, darunter 72 tätliche Angriffe, 48 Bedrohungen oder Pöbeleien und 83 „Veranstaltungen“, also Demos oder Mahnwachen. Die meisten Vorfälle hatten einen rassistischen Hintergrund, der örtliche Schwerpunkt war Marzahn - in dem Ortsteil hat sich die Zahl der Angriffe auch fast verzehnfacht.

 

Neben Marzahn-Hellersdorf fällt auch der Bezirk Mitte negativ auf. Dort gab es 190 Vorfälle, mehr als doppelt so viele wie 2014. Hier war der antimuslimische Rassismus besonders stark. Dies führen die "Berliner Register" und "Reach Out" vor allem auf die Bärgida-Demonstrationen in Tiergarten zurück.

 

Im Pankower Norden sind Neonazis aktiv

 

In Pankow sind besonders die nördlichen Ortsteile Buch und Karow betroffen, dort agierte 2015 eine „junge Neonazi-Clique unter dem Dach der NPD gegen Flüchtlingsheime“, sagt Andreas Ziehl vom Pankower Register. Neben Demos gegen Flüchtlinge sei auch die Zahl der tätlichen Angriffen und Pöbeleien gestiegen. Insgesamt wurden 2015 in Pankow 241 rechtsextreme oder rassistische Vorfälle registriert, 2014 waren es 166.

 

In Pankow gibt es seit 2005 das Projekt „Register“, das neben Polizeimeldungen auch Angaben von Kirchen, Parteien und Beratungsstellen aufnimmt. Registriert werden auch Aufkleber und Flyer, die rechtsradikales Gedankengut verbreiten. Ziel ist, neben Demos und Straftaten auch den Alltagsrassismus abzubilden. Weitere Bezirke zogen nach, seit 2014 wird das „Berliner Register“ aus Landesmitteln mit 90.000 Euro unterstützt. Bis auf Steglitz-Zehlendorf, das erst in diesem Jahr ein Register aufbaut, sind alle Bezirke vertreten.

 

In West-Bezirken wird eher in Hinterzimmern agitiert

 

In Treptow-Köpenick ist die NPD weiterhin aktiv, vor allem im Umfeld ihrer Parteizentrale in Köpenick. Dort gebe es „spontane Angriffe“ auf Besucher eines benachbarten Jugendzentrums. In Schöneweide, ihrer einstigen Hochburg, trete die Partei „nicht mehr so offensiv“ auf, sagt Register-Koordinator Samuel Signer.


Der Rechtsextremismus in den West-Bezirken ist deutlich anders gelagert als im Osten. In Charlottenburg-Wilmersdorf gibt es nach Einschätzung der Register-Verantwortlichen Lea Lölhöffel „die meisten rechten und nazistischen Aktivitäten“, bezogen auf den Westteil der Stadt. 182 Fälle wurden 2015 registriert, mit Schwerpunkt in Charlottenburg (105 Vorfälle). Im Bezirk ist die NPD praktisch inaktiv, allerdings würden sich „Neurechte“ – dazu zählt auch die AfD – und „andere nazistische Gruppen in Hinterzimmern von Kneipen“ regelmäßig treffen.

 

Betrunkener kam mit Samuraischwert

 

Jede dieser Versammlungen, sofern bekannt, wird als „Veranstaltung“ registriert, insgesamt 74 gab es davon in 2015. Demos gegen Flüchtlingsheime finden eher selten statt, allerdings gab es mehrere schwerwiegende Angriffe gegen Heime, wie etwa in Westend, als ein Betrunkener mit einem Samuraischwert auftauchte und Asylbewerber bedrohte. Die Zahl antisemitischer Vorfälle war mit 25 im Jahr 2015 höher als in anderen Bezirken. In Mitte stieg die Zahl der Vorfälle von 79 im Jahr 2014 auf 196, allein 52-mal marschierten die Bärgida-Anhänger durch die Stadt. 60 rassistisch motivierte Angriffe wurden registriert.

 

Mehr Geld für Beratungsstelle

 

„Die Zahlen stehen nicht in Konkurrenz zu den Zahlen der Berliner Polizei, sondern ergänzen diese und sind ein Beitrag zur Ausleuchtung des Dunkelfeldes rechtsmotivierter Gewalt.“, sagt Integrationssenatorin Dilek Kolat (SPD). Eine "schonungslose Problembenennung" sei für die Gewaltprävention essentiell. Entsprechend werden die Zuschüsse für "Reach Out", die "Register" und die Dokumentationsstellen für antisemitische und antiziganistische Gewalt weiter erhöht. Den Einrichtungen stehen im laufenden Jahr mehr als 800.000 Euro zur Verfügung.

 

2015 wurden erstmals Vorfälle in elf Bezirken registriert, mehr Informationen auf der Seite des Berliner Registers. Den Zwischenbericht vom August 2015 finden Sie unter diesem Link.