Viele Jahre sitzt ein Politiker für die SPD im Gemeinderat, doch niemand ahnt etwas von seiner dunklen Vergangenheit. In Italien ist er ein verurteilter Kriegsverbrecher. Nun holt den 94-Jährigen die Geschichte ein.
Als er 2008 in Italien wegen eines Nazi-Massakers in Abwesenheit zu lebenslanger Haft verurteilt wird, kann sich Wilhelm Kusterer im idyllischen Enzkreis zurücklehnen. Die deutsche Justiz kennt keine Mordurteile in Abwesenheit. Eine Auslieferung muss der Mann in seiner Heimatgemeinde Engelsbrand im Nordschwarzwald also nicht befürchten. Hier ist der 94-Jährige angesehen als langjähriges Mitglied der SPD im Gemeinderat, engagierte sich in Vereinen des Ortes mit rund 4300 Einwohnern. Dann am 4. März 2015 der Höhepunkt eines langen Lebens: Die Verleihung der Ehrenmedaille an Wilhelm Ernst Kusterer ist Punkt 1 der Tagesordnung der Gemeinderatssitzung. Für soziale Verdienste.
Ein Jahr später mag es Bürgermeister Bastian Rosenau kaum fassen. Niemand habe etwas geahnt oder gar gewusst von dieser Vergangenheit des Mannes. "Uns ist diese Info völlig neu", beteuert der 35-Jährige. Überrascht ist er auch, als er erfährt, dass bei der Staatsanwaltschaft Stuttgart bereits seit 2013 ein Mordverfahren gegen den früheren SS-Unterscharführer anhängig ist. Vor dem Sommer will die Behörde die Ermittlungen abschließen. Ob der Fall vor Gericht kommt, wird sich dann zeigen.
Was aber klar ist, sind die geschichtlichen Fakten. Bei dem Nazi-Massaker in der mittelitalienischen Ortschaft Marzabotto töteten Deutsche 1944 mehr als 800 Zivilisten. 2002 gedachte auch Bundespräsident Johannes Rau der Opfer. "Wenn ich an die Kinder und Mütter denke, an die Frauen und an die ganzen Familien, die an diesem Tag Opfer des Mordens geworden sind, dann ergreifen mich Trauer und Scham", sagte Rau auf dem Gelände der ehemaligen Kirche San Martino, wo viele Menschen erschossen worden waren.
Kusterer war laut Urteil der italienischen Justiz dabei und wurde als Kriegsverbrecher zu lebenslanger Haft verurteilt, wie Laura Garavini, die Vorsitzende der deutsch-italienischen Parlamentariergruppe in Rom, an Bürgermeister Rosenau schreibt. Mit ihrem Kollegen Lars Castellucci im Bundestag unterzeichnete sie einen Protestbrief an die Gemeinde: "Wir sind zutiefst empört über Ihre Entscheidung, Wilhelm Ernst Kusterer zu ehren, und fordern Sie mit Nachdruck auf, diese Entscheidung zurückzunehmen." Nicht nur die Opfer von Marzabotto würden verhöhnt. Die Parlamentarier beklagen auch, das "gerade in Zeiten eines wieder aufflammenden Rechtspopulismus in Europa" ein Kriegsverbrecher derartiger Ehrung für würdig befunden werde. "Das Massaker von Marzabotto ist das schlimmste Kriegsverbrechen des Zweiten Weltkriegs auf italienischem Boden", betont Garavini.
Bürgermeister Rosenau mag es wie viele im Ort nicht glauben, dass ein Bürger aus seiner Gemeinde an solchen Verbrechen beteiligt gewesen sein soll. Er stehe mit der Familie in Kontakt - nicht aber mit dem betagten Kusterer. Rasche Aufklärung tue nun Not, räumt Rosenau ein. "Ganz grundsätzlich verstehen wir die emotionalen Reaktionen. Das tut uns auch leid", meint Rosenau. Angesichts des Wirbels in Deutschland und Italien soll nun der Gemeinderat über eine Aberkennung der Medaille entscheiden.
Auch italienische Medien seien inzwischen im Ort, um auf Rücknahme der Auszeichnung zu drängen. Die in Italien am Wochenende bekannt gewordene Ehrung hatte dort einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. Der Kulturbeauftragte der Region Emilia Romagna, Massimo Mezzetti, sprach von einer "absurden Auszeichnung". Diese Ehrenmedaille beleidige alle, die gegen ein Vergessen der Nazi-Gräuel kämpften.