Vom Krankenhaus auf die Anklagebank - der Knastspaziergang 2008 hat 13 Monate später ein juristisches Nachspiel
Während der Knastspaziergang für die Freiheit von sozialen und politischen Gefangenen in Stuttgart-Stammheim an Silvester 2009 zum zwanzigsten Mal und ohne Zwischenfälle stattfand war das vor mehr als einem Jahr anders. Damals wurde ein Großaufgebot der Polizei eingesetzt, um Personalien von AktivistInnen, die am Knast Böller und Raketen gezündet hatten, festzustellen. Die Bilanz: 14 Festnahmen, Verletzungen durch Hundebisse und prügelnde Polizisten, inzwischen haben zwei Personen Strafbefehle erhalten.
Als die Situation vor dem Gefängnis am Silvesterabend aufgeheizter wurde rannte ein Teil der DemonstrantInnen in verschiedene Richtungen, einige wurden in einem Seitenweg von Polizisten verfolgt. Dabei schlug einer der Beamten einem Aktivisten von hinten mit seinem Schlagstock auf den Kopf. Dieser verlor für einen Moment das Bewusstsein und fand sich dann blutüberströmt und mit geschlossenen Handschellen am Boden liegend wieder.
Kurze Zeit später wurde der noch immer blutende Genosse in einen Polizeibus gebracht. Auf die Drohung des Aktivisten mit einer Anzeige wegen unterlassener Hilfeleistung reagierten die anwesenden Polizisten nicht etwa mit der Erstversorgung der Platzwunde, sondern mit dem Hinweis, dass ein Krankenwagen bereits unterwegs sei.
Für den Demonstranten endete der Abend in der Notaufnahme des Robert-Bosch-Krankenhauses: die Platzwunde am Kopf wurde mit 8 Stichen genäht, der Aktivist musste die Silvesternacht und den ersten Januar auf der Überwachungsstation verbringen. Der Genosse erstattete Ende Januar 2009 über einen Anwalt Anzeige wegen „Körperverletzung im Amt und unterlassener Hilfeleistung“.
Im August 2009 bekam der Aktivist eine Vorladung des polizeilichen Staatsschutzes „im Ermittlungsverfahren wegen Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und Körperverletzung (Versuch) am 31.12.2009 in Stuttgart-Stammheim“. Hintergrund dieser absurden Unverschämtheit: die Polizei hat den Spieß einfach umgedreht! Das Opfer wird zum Täter, der Anzeige des Aktivisten folgte die Gegenanzeige der Polizei. Konkret ist der Polizist, der zugeschlagen hat, im Ermittlungsverfahren, das der Anzeige des verletzten Demonstranten folgte, als Zeuge aufgetreten und hat sich selbst entlastet! Während es in einem normalen Ermittlungsverfahren undenkbar ist, dass der Tatverdächtige gleichzeitig als Zeuge aussagt und sich dadurch selbst entlasten kann ermöglicht hier alleine das Tragen einer Polizeiuniform diese Absurdität.
Nach der fantasievollen Darstellung des Polizisten kam es zu einem „Handgemenge“ bei dem der Genosse angeblich versuchte den Polizisten mit „seinem rechten Ellenbogen ins Gesicht zu schlagen“, dieser konnte jedoch „den Schlag abblocken“, wodurch allerdings der Aktivist „aus dem Gleichgewicht geriet“ und dadurch „unbeabsichtigt am Kopf getroffen wurde“.
Aus dieser Aussage folgte dann, dass das Ermittlungsverfahren gegen den prügelnden Polizisten eingestellt wurde. Ein Verfahren, in dem der beschuldigte Polizist als Zeuge aussagt und die einzige weitere Zeugin eine Polizistin des Dezernats für Staatsschutz ist, die nicht vor Ort war, lässt eigentlich auch keinen anderen Ausgang erwarten.
Ein anderes Ende nahm dagegen das Ermittlungsverfahren gegen den Genossen: ein Strafbefehl des Amtsgerichtes Stuttgart über 1350 Euro (45 Tagessätze zu 30 Euro) wegen „Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit versuchter Körperverletzung“! Hiergegen hat er Widerspruch eingelegt, so dass er nun auf der Anklagebank Platz nehmen muss.
Polizei und Staatsanwaltschaft versuchen also für die Erstattung der Anzeige „Rache zu nehmen“ - eine Vorgehensweise, die zur polizeilichen Routine geworden ist. Zahlreiche Fälle in der Vergangenheit verdeutlichen das. Es ist zu befürchten, dass die bürgerliche Klassenjustiz auch in diesem Fall der abstrusen Argumentation von Polizei und Staatsanwaltschaft Glauben schenken wird.
Dass die Polizei bei Ermittlungen in den eigenen Reihen offensichtlich nicht mit einer Akribie arbeitet, die sie sonst gegen politisch aktive Menschen an den Tag legt, macht auch folgende Statistik deutlich: Im Jahre 2007 endeten von 1834 Strafverfahren, die gegen Berliner Polizeibeamte geführt wurden gerade einmal 3 mit einer Verurteilung, das entspricht einer Quote von 0,16% (1).
Kommt zur Gerichtsverhandlung und unterstützt den Genossen!
Werbt und werdet Mitglieder der Roten Hilfe!
Prozesstermin:
Dienstag, 26. Januar 2010, 13:00 Uhr.
Amtsgericht Stuttgart, Hauffstr. 5, Saal 104.
(1) Quelle: ARD-Sendung Panorama vom 05.03.2009
Link zum Beitrag: http://www.youtube.com/watch?v=UL6MAeFy42I