BDI-Chef zur Flüchtlingskrise: Politik soll die Wahrheit sagen

Erstveröffentlicht: 
04.11.2015
Verbandspräsident Grillo: Integration wird lange dauern und Kraft kosten
VON STAHL

 

Berlin. Die deutsche Industrie hat die Große Koalition zu geschlossenem Handeln in der Flüchtlingskrise aufgefordert und zugleich vor zu großen Erwartungen gewarnt. „Diese Situation wird lange dauern und eine gewaltige Kraftanstrengung für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft“, sagte der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Ulrich Grillo, gestern in Berlin auf einer Tagung vor 1200 Gästen. Im Beisein von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) sagte Grillo: „Mehr Einigkeit in der Koalition ist unabdingbar.“ Deutschland müsse für lange Zeit große Summen aufbringen, um der Lage Herr zu werden. Diese Aufwendungen brächten aber langfristig Nutzen, sagte Grillo.

 

Zentrale Herausforderung sei es, möglichst viele Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt zu integrieren.   Die deutsche Industrie stehe bereit, „ihren Teil“ zu leisten, betonte der BDI-Präsident. Es gebe hierzulande aktuell 600 000 offene Stellen, dazu kämen noch jene, die gar nicht offiziell ausgeschrieben seien. Zugleich warnte er davor, „überzogene Erwartungen“ zu wecken. „Qualifikation und Spracherwerb können nicht herbeigebetet werden. Ebenso sind die Bedürfnisse des deutschen Arbeitsmarkts nicht nach Wunsch gestaltbar.“

 

Grillo riet der Politik, der Bevölkerung mit Blick auf die Chancen und die Probleme der Integration von Anfang an die Wahrheit zu sagen. „Einige von ihnen werden sich schwer tun in ihrem neuen Leben, andere werden sich leichter zurechtfinden. Es wird Probleme und Spannungen geben, wahrscheinlich auch Streit. Die Politik ist aufgefordert, das den Menschen klar zu sagen.“ Dann würden die Bürger die Aufgabe mittragen, wenn sich auch andere europäische Staaten beteiligten. Im ARD-Morgenmagazin wandte sich Grillo strikt gegen Überlegungen, Flüchtlinge vom Mindestlohn auszunehmen. Das berge sehr große Gefahren für die öffentliche Stimmung gegenüber Migranten, warnte er. Wenn sich die Auffassung verbreite, dass Flüchtlinge anderen etwas wegnähmen, dann sei das „ganz gefährlich“.

 

Der Wirtschaftsforscher Marcel Fratzscher kritisierte in der „Welt“ die viel zu einseitige Ausrichtung der Diskussion auf die Lasten der Flüchtlingsaufnahme. „Was dabei völlig übersehen wird: Viele Flüchtlinge schaffen schon nach wenigen Jahren einen Mehrwert für die deutsche Wirtschaft“, sagte der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). Berechnungen seines Instituts zufolge erwirtschaftet ein Flüchtling nach fünf bis sieben Jahren mehr, als er den Staat kostet. Flüchtlinge schafften Einkommen, sorgten für Binnennachfrage, steigerten Unternehmenserträge und erhöhten die Produktivität von Firmen. All das gehe aber meist unter, weil sich die Debatte auf die staatlichen Ausgaben fokussiere. Aus dieser Sicht wäre „auch die Hälfte aller Deutschen für den Staat ein Verlustgeschäft“. Das sei „irreführend“.

 

Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) setzt bei der Integration der Flüchtlinge auf praktische Erfahrungen in den Unternehmen. Zentral sei die Erprobung der Betroffenen, sagte Nahles nach einem Treffen mit den Personalvorständen und Betriebsratsvorsitzenden der wichtigsten börsennotierten Unternehmen gestern in Berlin. „Wir müssen herausfinden, was sie können, auch wenn nicht die typischen Zertifikate dahinterliegen, wie wir sie kennen.“