[HN] Die Karten neu mischen! Frieden statt Krieg – Freiheit statt Repression!

Karten neu mischen

Bombenattentate auf Oppositionsparteien und Friedensinititativen, belagerte Städte mit zahlreichen toten Zivilisten, geschändete Leichen und eine Regierung, die eine islamistische Terrorgruppe unterstützt und gleichzeitig diejenigen ausbluten lässt, die die Menschen vor Mord, Vergewaltigung und Folter schützen – dies ist die bittere Realität in der Türkei, einem NATO-Partner Deutschlands. Bei dem jüngsten Anschlag auf eine linke pro-kurdische Friedensdemonstration am 10. Oktober 2015 in Ankara starben 128 Menschen. Sie wurden zum Ziel, weil sie für ihre Rechte ihre Stimme erhoben und für Demokratie, Selbstbestimmung und Frieden kämpften. Die Anschläge und Angriffe bringen Leid und Verwüstung, doch sie können den Menschen nicht die Hoffnung auf eine bessere Zukunft nehmen. Eine Zukunft, wie sie schon heute in Rojava trotz Krieg und Armut aufgebaut wird und für die tausende Menschen in Gefängnissen sitzen oder sogar sterben.

 

Kein Luftschloss, sondern greifbare Realität

Bereits seit 2005 versucht die kurdische Bevölkerung die Idee des demokratischen Konföderalismus umzusetzen. Von Abdullah Öcalan entwickelt stellt er das Modell einer „demokratischen, ökologischen, geschlechterbefreiten Gesellschaft“ dar. Durch Rätestrukturen, die bis in die kleinsten Stadtteile reichen, werden nach und nach staatliche Institutionen abgelöst und die Bevölkerung gestaltet ihr Leben nach ihren Bedürfnissen selbst – gemeinsam und über religiöse und ethnische Grenzen hinweg. Durch den Aufbau dieser Strukturen soll der Staat dazu gebracht werden, den Willen der Bevölkerung nach Demokratie und Selbstverwaltung anzuerkennen. Als positives Beispiel, wie die Selbstverwaltung aussehen kann, steht Rojava (Westkurdistan) im Norden Syriens. In Mitten des syrischen Bürgerkriegs werden dort die Bereiche Ökologie und Frauenbefreiung mit einer kooperativen Wirtschaft, welche sich an den Bedürfnissen der Menschen orientiert, verknüpft. Parallel dazu wird die Selbstverteidigung der dort lebenden Menschen organisiert. Mit der Selbstverwaltung, die zu Beginn hauptsächlich von den Kurdinnen und Kurden getragen wurde, entwickelte sich erstmals in der Region eine Form des Zusammenlebens, die alle religiösen und ethnischen Gruppen gleichberechtigt teilhaben lässt. Egal ob in den Rätestrukturen, den Volksverteidigungseinheiten oder Bildungseinrichtungen: die Erfahrungen aus Jahrzehnten der Unterdrückung werden genutzt, um eine Gesellschaft frei von Ausgrenzung zu schaffen. Dazu gehört vor allem die Befreiung der Frau. Mit einer durchgehend paritätischen Besetzung von Organisationen und Organen in Rojava und einem System des Ko-Vorsitzes, welches immer eine Doppelbesetzung von Mann und Frau für alle Ämter vorsieht, ist in Rojava eine Perspektive entstanden, die für Frauen auf der ganzen Welt als Beispiel dient. Neben den Frauenverteidigunseinheiten YPJ, welche einem eigenständigen Kommando unterstellt sind, gibt es weitere Strukturen von Frauen, wie z.B. eine Akademie für die Bildung der Frau und eigene Frauenräte. Während der erfolgreichen Verteidigung der Stadt Kobanê spielten die Frauenverteidigungseinheiten YPJ eine wichtige Rolle. Im Gegensatz zur frauenfeindlichen Ideologie der Islamisten kämpften sie nicht nur für die Freiheit der Stadt, sondern auch für die Freiheit der Frau.
Trotz der massiven Angriffe durch den Islamischen Staat (IS) und andere Gruppierungen beweist Rojava, dass eine Alternative im Nahen Osten möglich ist.

 

Demokratische Türkei – Freies Kurdistan

Auch in den kurdischen Gebieten in der Türkei wird das Prinzip des demokratischen Konföderalismus entwickelt und vor allem in Städten wie Diyarbakir (Amed), Ankara und Dêrsim umgesetzt. Durch den demokratischen Konföderalismus hat sich auch die Perspektive der Kurdinnen und Kurden verändert. Es geht nicht mehr darum einen eigenen Staat zu errichten, sondern über nationale Grenzen hinweg die Selbstverwaltung aufzubauen. Mit der Partei der Völker (HDP) wird dieser Entwicklung Rechnung getragen. In ihr organisiert sich nicht nur die kurdische Bewegung, sondern auch linke und sozialistische Parteien, Menschen aus feministischen Zusammenhängen, Gewerkschaften, der LGBT- und Gezi-Park-Bewegung und anderen unterdrückten Minderheiten wie den Alevit*innen. Das gemeinsame Ziel der bunten Partei ist eine demokratische Türkei, in der die Menschen ohne Angst vor Repression, Unterdrückung oder Diskriminierung leben können. Dass dieser Wunsch eine breite Basis hat, zeigten die Parlamentswahlen am 7. Juni 2015. Die HDP erreichte über 13 % der Stimmen und zog mit 80 Sitzen in das türkische Parlament ein. Damit schaffte es nicht nur das erste Mal eine pro-kurdische Partei über die 10%-Hürde. Mit ihrem Sieg vereitelte die HDP auch Präsident Erdogans Reformen hin zu einem Präsidialsystem, welches ihm umfassende Machtbefugnisse geben soll.

 

Strategie der Spannung

Die Reaktion des türkischen Staates auf die fortschrittlichen Entwicklungen: Repression, Diffamierung und Terror. Seit 2009 wurden tausende Personen unter Anwendung der Antiterrorgesetze wegen angeblicher Mitgliedschaft in der Koma Civakên Kurdistan (KCK – Union der Gemeinschaften Kurdistans) festgenommen. Unter ihnen befinden sich auch gewählte Bürgermeister*innen und Abgeordnete. Trotz der zum Newroz-Fest am 21. März 2013 von Abdullah Öcalan erklärten Waffenruhe und dem angekündigtem Rückzug der PKK-Einheiten vom türkischen Gebiet, verweigerte die türkische Regierung Reformen zum Wohl der kurdischen Bevölkerung. Spätestens seit der Isolation des Kantons Kobanê in Rojava und der aktiven Unterstützung des Islamischen Staates ist klar: die Regierung um Erdogan hat kein Interesse an einer friedlichen Lösung der kurdischen Frage. Sie will die kurdische Bewegung zerschlagen.
Während in Kobanê die Menschen um ihr Leben kämpften, sperrte die Türkei die Grenzen und setzte Tränengas gegen Flüchtende ein. Erdogan setzte dabei die Volksverteidigungseinheiten YPG und Frauenverteidigungseinheiten YPJ mit den IS-Terroristen gleich und ließ verwundete Kämpfer*innen in Krankenhäusern verhaften. Bei Protesten gegen diese unmenschliche Politik wurden dutzende Menschen festgenommen und 30 getötet. Im Vorfeld der Wahlen zielten diese Provokationen darauf ab, den Konflikt zu befeuern und Erdogan als starken Führer zu präsentieren. Mit rabiater Hetze gegen die Partei der Völker HDP heizte er über Wochen und Monate die Stimmung an und bezeichnete ihre Mitglieder und Unterstützer*innen als „Ungläubige“. Die Folge waren pogromartige Angriffe auf Parteibüros der HDP und ihre Mitglieder durch nationalistische und faschistische Schlägertrupps, sowie Angriffe auf Demonstrationen und Kundgebungen der kurdischen Bevölkerung. Auch in Deutschland kam es z.B. in Hannover, Köln, Berlin und Frankfurt zu Angriffen. Einem jungen Mann wurde dabei sogar in den Hals gestochen. Doch damit nicht genug.
Zwei Tage vor der Wahl am 7. Juni 2015 explodierten kurz hintereinander zwei Bomben auf einer zentralen Kundgebung der HDP in ihrer Hochburg Diyabakir (Amed). Fünf Menschen starben, hunderte wurden verletzt. Einen Monat nach der Wahl folgte der Anschlag in Suruç auf eine Delegation der Föderation der sozialistischen Jugendverbände der Türkei, die sich auf den Weg nach Kobanê machen wollte, um beim Wiederaufbau zu helfen. 30 Menschen starben und über 70 Menschen wurden verletzt. Am 10. Oktober 2015, drei Wochen vor den Neuwahlen, folgte der Anschlag auf die Friedensdemonstration in Ankara.
In welcher Form die türkische Regierung in diese Anschläge verwickelt ist, kann schwer nachvollzogen werden. Aufgrund ihrer aktiven Unterstützung des „Islamischen Staates“ (IS) und dem fragwürdigen „Versagen“ der Sicherheitsbehörden ist klar, dass sie die Verantwortung trägt. Ihre Strategie der Spannung wird umgesetzt. Die Menschen, die für Frieden und Demokratie auf die Straße gehen, sollen eingeschüchtert werden, bis ihre Stimmen verstummen. Die Neuwahlen am 1. November 2015 haben gezeigt, dass die Maßnahmen der AKP erfolgreich waren und Erdogans Partei erneut alleine regieren kann. Doch selbst die blanke Gewalt und Repression hat nicht verhindert, dass die HDP erneut in das Parlament einzieht und den Menschen dort eine Stimme gibt.

 

Türkei bombardiert…

Gleichzeitig nutzte die Türkei die Anschläge in Suruç direkt, um eine Offensive gegen den „Terrorismus“ anzukündigen. Nach symbolischen Luftangriffen gegen IS-Stellungen zeigte sich in den letzten Monaten deutlich, dass die neue Offensive gegen die Stellungen der PKK im Kandil-Gebirge gerichtet ist. Obwohl die PKK als einzige die Jesidinnen und Jesiden im Singal-Gebirge vor dem IS rettete und von Beginn an effektiven Widerstand gegen die Terrorbanden leistete, sprechen die NATO-Partner der Türkei von einem berechtigten Angriff gegen „Terroristen“. Das Ziel der türkischen Regierung ist es, den kurdischen Konflikt militärisch zu gewinnen und nicht am Verhandlungstisch eine friedliche Lösung zu finden. In den kurdischen Städten leistet die PKK gegen diese vernichtende Politik Widerstand und verteidigt die Bevölkerung und die bisherigen Errungenschaften im Aufbau eigener Rätestrukturen. In manchen Städten herrschen inzwischen bürgerkriegsähnliche Zustände. Die Stadt Cizre wurde von türkischen Sicherheitskräften neun Tage belagert und beschossen. Niemand konnte in die Stadt hinein oder heraus, Telefon und Internet waren unterbrochen, teilweise wurde Wasser und Strom abgedreht. Die Toten konnten in diesen neun Tagen nicht begraben werden. Es starben 23 Menschen, darunter auch Kinder. Viele der Waffen, die die türkischen Sicherheitskräfte einsetzen, stammen aus Deutschland oder werden unter deutscher Lizenz hergestellt – Panzer, Gewehre, Munition und sogar U-Boote. Doch nicht nur für die Rüstungsindustrie ist die Türkei von Bedeutung, sondern für die gesamte deutsche Exportwirtschaft. Der Profit deutscher Unternehmen zählt für die Bundesregierung im Zweifelsfall mehr als dokumentierte Menschenrechtsverletzungen oder die Unterstützung islamistischer Terrorgruppen.

 

…Deutschland inhaftiert

Der NATO-Partner Deutschland unterstützt die Türkei nicht nur durch Waffenlieferungen und Wegschauen, sondern zeigt sich bereits seit über 20 Jahren als verlängerter Arm des türkischen Sicherheitsapparates. Seit dem PKK-Verbot im November 1993 wurden in Deutschland kurdische Organisationen und Vereine geschlossen und tausende Menschen kurdischer Herkunft kriminalisiert. Razzien in Vereinsräumen, Hausdurchsuchungen, Verhaftungen und polizeiliche Aufforderungen zur Denunziation sowie die Bespitzelung durch den Verfassungsschutz gehören zum Alltag kurdischer Aktivist*innen. Erst am 28. August 2015 wurde der Politiker Mehmet Demir in einem § 129b-Verfahren wegen „Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung“ in Hamburg zu drei Jahren Haft verurteilt. Der Richter machte dabei deutlich, dass es eine politische Entscheidung des Justizministeriums sei, gegen die PKK zu ermitteln.
Während die Familien der Kurdinnen und Kurden in der Türkei mit deutschen Waffen angegriffen werden, tritt die Polizei in Deutschland Türen ein und droht den Menschen mit Abschiebung in ein Land, das ohne Scheu Foltergefängnisse betreibt. Diejenigen, die sich gegen dieses Unrecht zur Wehr setzen und für Menschlichkeit kämpfen, werden angeklagt und hinter Gitter gesteckt.
Häufig jedoch wird die Repression in Deutschland kaum wahrgenommen oder thematisiert, so auch in den letzten Jahren in Heilbronn. Am 28. November 2012 wurde das Vereinsheim der Kurdischen Gemeinschaft Heilbronn und deren Vorsitzenden mit dem Vorwurf der Unterstützung der PKK zum zweiten Mal innerhalb von drei Jahren durchsucht und Mitgliederlisten beschlagnahmt. Ein Verfahren folgte nie, aber das Signal kam an: wer sich als Kurde oder Kurdin engagiert, muss mit Repression rechnen.
Dazu gehört, dass Demonstrationen in der Vergangenheit immer wieder willkürlich durch Auflagen eingeschränkt, verboten oder sogar angegriffen und gewaltsam von der Polizei aufgelöst wurden. Wie am 20. November 2010. An diesem Tag wurde die Demonstration „Frieden und Freiheit für Kurdistan! Internationale Klassensolidarität aufbauen!“, die gemeinsam von deutschen Linken und Heilbronner Kurd*innen organisiert wurde, nach nur einem Kilometer von der Polizei eingekesselt und aufgelöst. Das völlig überzogene Polizeiaufgebot mit 5 Hundertschaften, vermummten Beweissicherungs- und Festnahmeeinheiten (BFE), unzähligen Zivilpolizisten, Pferde- und Hundestaffel baute eine Drohkulisse auf und sollte die Zusammenarbeit deutscher und kurdischer Aktivist*innen im Keim ersticken.
Zu der Repression gegen Kurdinnen und Kurden gehört auch, dass aktive Mitglieder des Heilbronner Vereins vom Regierungspräsidium Baden-Württemberg vorgeladen werden, um sich für ihre politische Tätigkeit zu verantworten. Gleichzeitig sollen sie zu einer Zusammenarbeit mit dem Verfassungsschutz gezwungen werden. Vielen wird bei umkooperativem Verhalten mit dem Entzug des Aufenthaltsstatus gedroht und sie damit in ihrer Existenz bedroht. Wer gegen solche Bescheide Rechtsmittel einlegt, sieht sich mit jahrelangen Prozessen konfrontiert deren Ausgang ungewiss ist. Die politisch aktiven Kurd*innen sollen eingeschüchtert und zum Schweigen gebracht werden.

 

PKK-Verbot: Muss weg!

Der Krieg gegen die kurdische Bevölkerung und die Verfolgung durch deutsche Strafbehörden müssen endlich aufhören. Das PKK-Verbot dient einzig und allein der Kriminalisierung der kurdischen Bewegung. Ungeachtet der politischen Entwicklung in Kurdistan hält die Bundesregierung weiterhin krampfhaft daran fest, um ihrem Bündnispartner Türkei, den Rücken zu stärken. Die Schlacht um Kobanê hat gezeigt, welche verheerenden Folgen diese Politik hat. Die direkte Unterstützung der Menschen ist nicht möglich und Initiativen, die sich für Solidarität mit der Bevölkerung einsetzen, wird zum Beispiel das Bankkonto geschlossen – begründet mit dem PKK-Verbot. Dabei hat die PKK bewiesen, dass sie für eine friedliche und demokratische Perspektive in der Türkei einsteht. Aller Angriffe durch die türkischen Sicherheitskräfte zum trotz hat sie immer wieder einseitige Waffenruhen ausgerufen, um den Weg zurück zu einer friedlichen Lösung zu ebnen. Selbst nach dem Anschlag in Ankara betonte Murat Karayilan, der Kommandant der Volksverteidigungseinheiten HPG, dass man zum Wohle der Menschen die Waffen ruhen lassen möchte. Die türkische Regierung zeigt sich davon unbeeindruckt. Weiterhin lässt sie Stellungen der PKK bombardieren und greift die kurdische Bevölkerung und die Selbstverwaltung der Menschen in den Städten an.

Der Krieg und die Repression werden nicht einfach aufhören. Nur wenn wir gemeinsam den Druck auf die Regierungen in Europa erhöhen, wenn wir die Angriffe auf die kurdische Bevölkerung als Angriffe auf alle fortschrittlichen Bewegungen begreifen, wenn wir die Profiteure hinter den Spannungen und Kriegen erkennen und dafür sorgen, dass der politische Preis höher wird als der Nutzen – dann erst wird der Wind sich drehen und die Karten werden neu gemischt.

 

Hoch die internationale Solidarität!

 

Kurdisches Gesellschaftszentrum Heilbronn & Organisierte Linke Heilbronn (OL), November 2015

 

Alle Infos zur Kampagne und den Veranstaltungen hier:

http://ol-hn.org/?p=1337 

http://kurdischer-verein-heilbronn.de/