„Sehen Sie das hier?“, fragt Gaspard. Sein Finger streicht über eine dünne, silbrige Narbe um seinen Knöchel. „Hier hat mich der Wachmann erwischt. Er hat auch zweimal auf mich geschossen, aber zum Glück war er ein schlechter Schütze.“ Gaspards Verbrechen? Er hat einen illegalen Drogenring betrieben – das war jedenfalls die Vermutung des Polizisten, der ihn angegriffen hat. Gaspard stammt ursprünglich aus der Demokratischen Republik Kongo, musste jedoch vor 13 Jahren vor der Zwangsrekrutierung fliehen.
Als er in Südafrika ankam, verdingte er sich zunächst als eine Art Tagelöhner, bevor ihm ein Franzose alles beibrachte, was Gaspard als Handwerker wissen und können muss. Der Angriff auf Gaspard ereignete sich 2006. Nachbarn beschwerten sich über den Lärm, der aus den Zimmern kam, die er in der Küstenstadt Muizenberg untervermietete. „Die Mieter haben gefeiert. Es war zur Zeit des African Cup of Nations, Togo hat gegen den Kongo gespielt. Die Nachbarn haben Jubel in einer fremden Sprache gehört und nahmen dann gleich an, dass es sich um einen Drogenring handele“, erzählt Gaspard und schüttelt dabei ungläubig seinen Kopf. Er ist einer von Millionen offiziell erfassten Ausländern in Südafrika.
Die tatsächliche Anzahl der Migranten in Südafrika ist schwer zu beziffern, vor allem wegen der Art der Einwanderung, die oft als illegale Flucht aus einem unsicheren Land erfolgt und somit nicht offiziell erfasst wird. Bald erfahre ich, dass jeder, der sein Land verlässt, um anderswo Zuflucht und Sicherheit zu finden, automatisch als asylsuchend anerkannt wird. Solche Menschen fürchten sich vor Verfolgung aufgrund ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung. Nur denjenigen Asylbewerbern, deren Furcht vor Verfolgung als begründet angesehen wird, wird vom Staat der Flüchtlingsstatus zuerkannt.
Laut der südafrikanischen Volkszählung von 2011 sind 3,3 % der südafrikanischen Bevölkerung Ausländer, also etwa 1,7 Millionen Menschen. Nach Angaben des Hohen Flüchtlingskommissariats der Vereinten Nationen fallen fast 300.000 in die Kategorie „Gefährdet“, fast 66.000 sind anerkannte Flüchtlinge und mehr als 230.000 asylsuchend.
Gaspards Erfahrung mit Fremdenfeindlichkeit ist kein Einzelfall. Im Mai 2008 kam es in Südafrika zu schweren Unruhen in deren Folge 62 Menschen ermordet, 670 verletzt und etwa 150.000 vertrieben wurden. Seitdem gibt es immer wieder Vorfälle von gezielter Gewalt gegen Ausländer, wenn auch nicht im gleichen Ausmaß wie vor sieben Jahren. Der Gewaltausbruch, bei dem Menschen bei lebendigem Leibe verbrannt, erstochen und gesteinigt wurden, gab den Anstoß zu Treffen von Wissenschaftlern, Forschern und politischen Entscheidungsträgern, um den gegenwärtigen und zukünftigen Zustrom von Ausländern nach Südafrika und die noch immer anhaltende, gegen sie gerichtete Ausgrenzung vonseiten vieler Südafrikaner zu diskutieren und zu erforschen.
Fremdenfeindlichkeit verstehen und bekämpfen
„Südafrika hat eine wundervolle Gesetzgebung“, meint Arvin Gupta vom Hohen Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR).
„Das Land hat auch einen der höchsten Standards, was die nationale Rechtssprechung angeht. Die Umsetzung dieser Gesetze ist das Problem.“ Ich sitze mit Arvin Gupta und James Chapman, einem Anwalt von der Rechtsberatung der Universität Kapstadt (UCT), in der Mensa der Juristenfakultät. Die beiden kommen gerade aus einem Meeting des Kapstadt-Programms zum Internationalen Flüchtlingsrecht. Eine Veranstaltung, die den Dialog zwischen der Zivilgesellschaft Afrikas, Wissenschaftlern und denjenigen politischen Entscheidungsträgern anregen soll, die sich mit dem Schutz von Asylbewerbern und Flüchtlingen im südlichen Afrika beschäftigen.
Warum also wird die gute Gesetzgebung so miserabel umgesetzt? Liegt es an der Bürokratie? An Fremdenfeindlichkeit? Oder bloß an einem Mangel an Empathie?
„Die schlechte Umsetzung kann man größtenteils auf fehlende Kapazitäten zurückführen. Die Regierung ist von der hohen Anzahl an Asylanträgen überfordert. Deswegen müssen die Menschen momentan lange warten, bis ihre Rechte anerkannt werden“, sagt Gupta. „Es gibt kein simples Gegenmittel gegen Fremdenfeindlichkeit“, gibt Chapman zu bedenken. „Wir gehen davon aus, dass man Fremdenfeindlichkeit am besten mit Bildung bekämpft, und das UNHCR unterstützt viele Initiativen, um die Stigmatisierung von Ausländern zu bekämpfen. Dass diese Veranstaltung überhaupt stattfindet, ist doch schon ein positives Indiz.“
Tatsächlich gibt es neben der Rechtsberatung der UCT und dem UNHCR noch eine Menge weiterer Forschungsinstitute und Organisationen, deren gemeinsames Ziel es ist, zu verstehen, wie die Situation von Millionen von Migranten verbessert werden kann. Im Mittelpunkt stehen dabei die Unterstützung der Migranten, eine bessere Gesetzgebung, die Erhöhung der behördlichen Mittel, zivilgesellschaftliche Kampagnen und intensive Bildung.
Doch die große Zahl der Initiativen zeugt auch von der Ernsthaftigkeit und dem Grad der Ausgrenzung, mit der Millionen von afrikanischen Ausländern leben müssen, nachdem sie an die südliche Spitze ihres Kontinents geflohen sind.
Harte Fakten zur multikulturellen Nation
Das südafrikanische Innenministerium registriert nicht nur die Anzahl, sondern auch die Herkunft der Flüchtlinge in Südafrika. Demnach stammen 34.000 aus dem südlichen Afrika; 12.000 aus Ostafrika; allein 9.000 aus Äthiopien und Somalia; 10.000 aus Westafrika, 7.300 davon aus Nigeria. Insgesamt wurden zwischen Januar und Dezember 2013 mehr als 70.000 neue Asylbewerber registriert.
Dieses Aufeinandertreffen ist der Grund für die bunte Mischung aus Sprachen, Akzenten, Trachten und Nahrungsmitteln, die die Straßen Kapstadts belebt. Neben isiXhosa hört man ebenso Kiswahili, Französisch und Arabisch. Traditionelle Perlenstickereien der Zulu werden neben senegalesischer Kunst, nigerianischen Stoffen und kongolesischen Hair-Extensions verkauft.
Oberflächlich scheint die Vielfalt harmonisch und bereichernd, doch auch hier finden sich Fremdenfeindlichkeit und Missgunst. „Südafrikaner sind vergesslich. Sie haben vergessen, dass während der Apartheid ganz Afrika auf ihrer Seite war und mit ihnen gekämpft hat“, sagt David, ein nigerianischer Geschäftsmann. Wir sitzen in einem einfachen Friseursalon in Claremont, einem Vorort von Kapstadt. In seiner schicken Seidenweste strahlt David Selbstbewusstsein aus und begrüßt mehrere Frauen persönlich, während sie den Friseursalon betreten und verlassen. „Als wir in Nigeria unsere Studiengebühren bezahlt haben, haben wir auch immer eine Summe Geld beiseitegelegt, um sie dem Einsatz gegen das Apartheid-Regime zugutekommen zu lassen. Am Kampf gegen die Apartheid hat sich ganz Afrika beteiligt. Aber heute erinnern uns die Südafrikaner nur zu gerne an die menschengemachten Grenzen, die unseren schönen Kontinent teilen.“
Der Salon ist der Inbegriff von Kameradschaft und Innovation unter den afrikanischen Einwanderern in Kapstadt. Neben den Friseuren aus Burundi arbeitet eine nigerianische Schneiderin, die ihren Kunden gegen Bezahlung auch ein Spiel am Billardtisch in der Ecke anbietet. Mitten in farbenfrohen afrikanischen Stoffen, Kleidern und Röcken sitzt ein Mann aus Bangladesch, der gebrauchte Handys verkauft und repariert. „Alleine könnten wir uns diese Räume nicht leisten“, sagt John, einer der burundischen Friseure mit üppigen Dreadlocks. „Aber wenn wir uns die Miete und den Platz teilen, funktioniert es gut.“
Die Rolle der Rücküberweisungen
David, Gaspard, John und andere haben sich an einem Ort, der sich für sie noch immer nicht wie Zuhause anfühlt, ein gutes Auskommen erarbeitet. Damit sind sie beileibe nicht alleine – überall auf der Welt steht bei Migranten das Einkommen oft in direkter Verbindung zu Rücküberweisungen (Geldüberweisungen von Einwanderern in ihre Herkunftsländer).
„Was Rücküberweisungen angeht, werden Ausländer auf internationaler Ebene dafür oft gepriesen. In der Realität dagegen werden sie kriminalisiert“, sagt Dr. Sarah Pugh, eine Politikwissenschaftlerin an der Universität Stellenbosch. Sie sprach Anfang Dezember 2014 auf der Internationalen Konferenz über Einwanderung in Afrika, auf der Wissenschaftler, politische Entscheidungsträger und Forscher zusammenkommen, um über ‚Africans on the Move‘ (‚Afrikaner in Bewegung‘) zu diskutieren, wie der Titel eines der von Dr. Pugh mitverfassten Bücher lautet.
Laut Daten der Weltbank, erzählt Pugh, summiert sich der Zufluss an Rücküberweisungen nach Südafrika auf 1,123 Millionen US-Dollar (das entspricht 3 % des südafrikanischen Bruttoinlandsproduktes). Rücküberweisungen aus Südafrika in andere Länder kommen auf 1,32 Millionen US-Dollar. Dieses Geld landet größtenteils im Bildungssektor, in Investitionen und im Privatverbrauch. Die Anfang 2013 durchgeführte Forschung des ghanaischen Wissenschaftlers Adams Bodomo zeigt sogar, dass Rücküberweisungen von Afrikanern in der Diaspora (51,8 Milliarden Dollar) die Entwicklungshilfe des Westens (43 Milliarden Dollar) übertreffen. Dabei werden in den 51,8 Milliarden nicht die inoffiziellen Kanäle berücksichtigt, über die Rücküberweisungen ausgeführt werden, so dass Bodomo von einer noch höheren Zahl ausgeht. Das gilt so ähnlich auch für Entwicklungsländer weltweit.
Insgesamt belaufen sich die Rücküberweisungen von Migranten aus Entwicklungsländern auf 350 Milliarden Dollar – und betragen damit mehr als das Doppelte der offiziellen westlichen Entwicklungshilfe (130 Milliarden Dollar). Ein wichtiges Ergebnis der Konferenz, das auch von der bereits erwähnten Forschung gestützt wird, wäre ein Sinneswandel in der lokalen Bevölkerung und der Regierung. Einwanderer müssten als wertvolle Mitglieder der Gesellschaft gesehen werden, in finanzieller wie in sozialer Hinsicht.
Kampf mit der Bürokratie
Vor allem darf das Problem nicht auf die lange Bank geschoben werden. Bei meinem Gespräch mit Justine Galula, einer jungen kongolesischen Mutter, die auf der Ladefläche eines Lastwagens vor dem Krieg in ihrem Land geflohen ist, wird mir klar, dass der mangelnde Respekt gegenüber Einwanderern das janusköpfige Monster der Bürokratie und des Fremdenhasses nur weiter füttert. Ein Monster, dessen Existenz viele Einwohner der südafrikanischen „Regenbogennation“ leugnen.
„Ich habe schon zweimal Einspruch gegen die Ablehnung eingelegt“, sagt Galula. Sie sitzt auf den Stufen vor dem Bahnhof in Rondebosch und hält den Ablehnungsbescheid ihrer Asylbewerbung in der Hand. Ihre Augen werden feucht, als sie über ihren Leidensweg spricht. „Sie sagen, meine Aussagen seien widersprüchlich; dass ich nicht einmal sagen könne, wie die Straße heißt, in der ich in Goma gelebt habe. Aber im Kongo ist das mit den Straßen anders als in Südafrika. Dort hat nicht jede Straße ein Schild oder einen Namen. Ich kann nicht zurück nach Hause, ich habe dort keine Familie, kein Leben mehr.“
Galula ist eine von vielen Flüchtlingen, die über die endlosen Stunden stöhnen, die man wartend auf den Behörden verbringt, über die abweisende und abfällige Einstellung der Beamten gegenüber Zuflucht suchenden Ausländern, und über ein Leben im ständigen Schwebezustand zwischen zwei Ländern, Kulturen und Identitäten. Pugh schreibt über die kurzen Befragungen, in denen Asylbewerber im Durchschnitt 15 Minuten lang mit den Bediensteten des Innenministeriums sprechen, die darüber entscheiden, welche Asylbewerbung positiv beschieden wird und welche nicht. Pugh erwähnt außerdem, dass drei Viertel der Befragten der Meinung seien, dass „das, was im Ablehnungsbescheid steht, keine angemessene Wiedergabe der in der Befragung getätigten Aussagen sei“.
Afrikas Brüder und Schwestern
Einwanderung spielt in der Geschichte Südafrikas eine wichtige Rolle. Wanderarbeiter bildeten während der Zeit der Apartheid die Grundlage der südafrikanischen Bergbauindustrie. In Pughs Worten: „Die Einwanderungspolitik wurde absichtlich so konzipiert, dass die Rassentrennung des Regimes unterstützt wurde.“ Nun, da die Einwanderung über afrikanische Grenzen hinweg anhält, tragen Regierungsbeamte die Verantwortung dafür, dass die offiziellen Rechte von Asylbewerbern, Flüchtlingen und Einwanderern auch in der Praxis geehrt werden. Die Verantwortung dafür liegt aber nicht nur bei den Behörden, sondern auch bei Individuen. Würde der potenzielle sozioökonomische Wert der Einwanderung erkannt, wäre das ein Schritt in Richtung Stabilität, ein Schritt weg von der Ausgrenzung.
„Kein Land der Welt ist auf ewig politisch stabil“, erinnert mich David, bevor ich mich aus dem Friseursalon in Claremont verabschiede. „Wir mussten unsere Länder nur verlassen, weil es zu der Zeit dort nicht sicher war. Falls Südafrikaner jemals aus ihrem Land flüchten müssen, hoffe ich nur, dass sie sich daran erinnern werden, wie sich das anfühlt, und wie sie von ihren afrikanischen Brüdern und Schwestern behandelt werden möchten.“