Kriegsflüchtlinge? Wirtschaftsflüchtlinge?

Erstveröffentlicht: 
04.08.2015

Die Wirtschaftspolitik der EU in Afrika bedroht die Lebensgrundlage der Menschen

 

Seit Wochen sehen wir Bilder von geretteten Bootsflüchtlingen, Flüchtlingen in Zügen oder bei ihrer Ankunft in deutschen Aufnahmezentren, von unhaltbaren Zuständen in Asylunterkünften und von Zeltlagern. Auch Bilder von Brandanschlägen gegen Flüchtlingseinrichtungen, 200 wurden bis Ende Juni registriert. Eine „Willkommenskultur“ (schon der Begriff ist Schwachsinn) sieht anders aus. Rund 200.000 Asylanträge wurden 2014 registriert, 60 Prozent mehr als 2013. Bis Ende Juni dieses Jahres waren es bereits 179.000. Grund sind Militärinterventionen, oft vom Westen mitverschuldete Bürgerkriege (in Afghanistan oder Syrien) und islamistischer Terror als Folge der Unfähigkeit der säkularen Kräfte und des Westens.

 

Weiter blickende Zeitgenossen argumentieren, man müsse die Zustände in den Herkunftsländern ändern. Man müsse, so fordert dagegen immer öfter die Politik, erst einmal die „richtigen“ Flüchtlingen von den missbräuchlichen, den Wirtschaftsflüchtlingen trennen. Am Beispiel Afrika lässt sich zeigen, dass die Wirtschaftspolitik, die die EU (nicht nur) dort betreibt, den Unterschied zwischen Kriegs- und Wirtschaftsflüchtlingen bald einmal obsolet machen wird, weil sie den Menschen die Existenzgrundlagen entzieht und ihnen gar keine Wahl als die Flucht ins vermeintlich gelobte Land Europa lässt. Von Jochen Kelter.
 
Nicht nur wird das in Geheimverhandlungen geplante Freihandelsabkommen TTIP zwischen der EU und den USA, die zusammen die Hälfte des globalen Bruttosozialprodukts erwirtschaften, Weltregionen wie Afrika und Südamerika wirtschaftlich noch weiter an den Rand drängen. Bis 2014 hat die EU auch zehn Jahre lang drei getrennte Freihandelsabkommen (Economic Partnerschip Agreement /EPA) mit drei Wirtschaftszonen in West-, Ost- und im südlichen Afrika ausgehandelt.

 

Westafrika muss als Folge 75, Ost- und Südafrika gar um bis zu 83 Prozent seiner Märkte für zollfreie europäische Importe öffnen, um in Gegenzug zollfreien Zugang für ihre zumeist landwirtschaftlichen Produkte zu behalten. Der Afrika-Beauftragte der Bundeskanzlerin, Günter Nooke (CDU) kritisierte die Abkommen: „ Wenn man gleichzeitig viel Steuergeld mit verschiedenen Entwicklungsprogrammen nach Afrika bringt, dann sollte man nicht mit den Wirtschaftsverhandlungen kaputt machen, was man auf der anderen Seite als Entwicklungsministerium versucht aufzubauen.“

 

Die afrikanischen Regierungen hatten sich ein Jahrzehnt lang gegen den Abschluss dieser Abkommen gesträubt, weil sie wussten, was das für ihre Länder bedeuten würde. Gerade wirtschaftlich stärkere Länder wie Kenia oder Ghana wollten ihre Wirtschaften von der Rohstoffförderung bis zur verarbeitenden Industrie ausbauen. Das ist nun vorbei. Gegen deutsche Maschinen und Werkbänke haben sie keine Chance. Bis zuletzt hatten die Ostafrikaner das Abkommen abgelehnt. Dann drohte die EU im Herbst 2014 in einem Ultimatum mit der Streichung von Zollerleichterungen. Das hätten Kenias Kaffeeproduktion und die Produzenten von Schnittblumen, die zu 90 Prozent von Europa abhängen, nicht überlebt. Die Regierung knickte ein.

 

Die afrikanischen Märkte werden mit hochsubventionierten Billigimporten aus Europa überschwemmt, gegen die einheimische Produzenten nicht ankommen. Schon früher hatten europäische Fangflotten die Meere vor der westafrikanischen Küste leergefischt, so dass Fischer und Händler in ihrer Existenz bedroht waren und sind. Jetzt kommen noch Hühner dazu, von denen in Europa fast nur die Brust verarbeitet wird. Der Rest wird zu Dumpingpreisen nach Afrika exportiert. In Kamerun etwa gingen Kleinbauern reihenweise pleite, die ihr Zuchtbetriebe zuvor mit EU-Entwicklungshilfe aufgebaut hatten.

 

Auch Exportzölle, mit denen man die eigenen Rohstoffe schützen kann, sind den Afrikanern untersagt. Und jeden Vorteil, den sie Dritten gewähren, müssen sie zukünftig automatisch auch der EU zugestehen. Auf die Rohstoffe vor allem nämlich hat es das rohstoffarme Europa abgesehen.

 

Hierzulande mag man weiter über die angemessene Willkommens- oder Abschreckungskultur debattieren. Ändern wird sich nichts, so lange Europa sich nicht von seiner hegemonialen neoliberalen Wirtschaftsdiktatur verabschiedet.