"Je geringer die Bildung der Eltern, desto schlechter geht es den Kindern"

Erstveröffentlicht: 
05.08.2015

Studie: Mangelernährung in unteren Schichten / Lebenserwartung geringer als bei gut situierten Familien

 

Leipzig. Je geringer das Einkommen und die Bildung der Eltern, desto schlechter die Gesundheit und Bildungschancen der Kinder - das offenbart eine Studie des Leipziger Universitätsklinikums. Wieland Kiess, der Chef der Uni-Kinderklinik, und Ulrike Igel, Sozialpädagogin von der HTWK Leipzig, erklären diese Entwicklung.

Professor Kiess, was ist die Botschaft der neuen Studie, die Sie gemeinsam mit Ihrem Team und vor allem der Doktorandin Kristin Rieger angefertigt haben?

 
Wieland Kiess: Je höher der Wohlstand und die Bildung der Eltern ist, umso besser sind die Hämoglobin-Werte und der Eisen-Haushalt der Kinder - und desto gesünder sind die Kinder. Oder anders: Je geringer das Einkommen und die Bildung der Eltern sind, desto schlechter geht es den Kindern. Für diese untersuchten Kinder steht die Ampel bereits auf Gelb. Ganz ehrlich: Als ich die Werte zum ersten Mal gesehen habe, war ich schockiert.


Welche Konsequenzen hat Eisen-Mangel?

 
Wieland Kiess: Man wird müde, ist unkonzentriert, weist Lernschwächen auf, verfügt über weniger Ausdauer beim Sport, ja, man schläft in der Schule vielleicht ein. Diese Kinder haben aufgrund des Elternhauses erheblich schlechtere Chancen, sowohl die Bildung als auch die Gesundheit betreffend.


Gibt es bereits Krankheitsmuster?

 
Wieland Kiess: Wichtig ist: Die Kinder sind noch nicht krank - doch sie sind in einem deutlich schlechteren Zustand als Kinder, die nicht den unteren Schichten angehören. Wir haben 2200 Kinder zwischen zwei und 19 Jahren untersucht, und die Werte werden schlechter, je schlechter es den Kindern zu Hause geht. Das Tragische ist: Hier wird der Grundstein für die weitere gesundheitliche Entwicklung gelegt. Diese Kinder werden schon heute - und als Erwachsene erst recht - länger brauchen, um sich beispielsweise nach einer Infektion oder einer Operation zu erholen. Letztlich bedeutet das auch: Die Lebenserwartung ist erheblich geringer als bei Kindern, die aus gut situierten Familien stammen.


Hinzu kommen noch Umwelteinflüsse, die Sie ebenso erforschen.

 
Wieland Kiess: Ja, in einem EU-Projekt, in dem wir gemeinsam mit schwedischen Wissenschaftlern arbeiten, untersuchen wir jetzt die Einflüsse von Weichmachern in Verpackungen und Spielzeugen auf die Gesundheit. Die Hinweise sind sehr stark, dass Kinder, die mit diesen Weichmachern konfrontiert werden, unter gravierenden Langzeitfolgen leiden. Dazu gehört unter anderem eine verminderte Sprachentwicklung. Auch die Fruchtbarkeit kann später beeinträchtigt werden. Insgesamt schließt sich der Kreis wieder zu Einkommen und Bildung: Wer über einen geringeren Wohlstand verfügt, kauft aufgrund des Preises häufiger eingeschweißte Waren, statt sich durch frische Produkte zu ernähren. Das Gleiche gilt für Plastespielzeug, das in unteren Schichten weit verbreitet ist.


Worin sehen Sie die Ursachen für diese schlechte gesundheitliche Entwicklung?

 
Wieland Kiess: Es gibt nicht die eine Erklärung. Eine der Ursachen ist sicherlich die Ernährung, hinzu kommt in vielen Fällen auch Bewegungsmangel. Wenn ein Kind mehr Zucker isst als Cerealien, also Getreideprodukte wie Müsli, sinken die Eisen-Werte, denn auch in den Cerealien ist Eisen enthalten. Viele Menschen denken: Hauptsache Fleisch, dann klappt es mit dem Eisen-Haushalt. Doch das hat keine Allgemeingültigkeit. Menschen mit einem geringeren Bildungshintergrund und weniger Einkommen essen häufig viel Fleisch, doch diesen Menschen fehlen diejenigen Stoffe, die das Eisen binden und transportieren. Auch die Umgebung, das Zuhause, spielt eine nicht zu unterschätzende Rolle.


Ulrike Igel: Wir haben Stadtteile in Leipzig untersucht, in denen der Anteil von Sozialgeld-Empfängern bei 70 Prozent liegt - die Kinder sind in einem viel schlechterem gesundheitlichen Zustand als in besseren Vierteln. Nicht nur mangelhafte, unausgewogene Ernährung ist hier weit verbreitet, sondern auch die Neigung zu starkem Übergewicht. Es spielt sicherlich vieles hinein - etwa Ernährung, Wohnumfeld und Bewegung.


Das heißt, diese Kinder verfügen auch über geringere Chancen, in der Bildung aufzusteigen?

 
Wieland Kiess: Ja, und für uns heißt das, die Zusammenhänge noch besser zu erklären. Ein Elternhaus mit geringerem Einkommen und geringerer Bildung beeinträchtigt nicht nur die Gesundheit, sondern reduziert auch die Möglichkeiten einer besseren Bildung für die Kinder. Das ist ein verheerender Kreislauf. Schon jetzt ist festzustellen, dass die Schere zwischen Arm und Reich auseinanderklafft: Es gibt einerseits Familien, denen es sehr gut geht - andererseits bewegen sich viele Familien zunehmend am Existenzminimum, meist mit einhergehender niedriger Bildung.


Ulrike Igel: Wir haben festgestellt, dass Kinder, die in benachteiligten Stadtteilen aufwachsen, eine höhere Wahrscheinlichkeit für Übergewicht und eine reduzierte Motorik aufweisen, daneben hängen die Schulleistungen zurück. Es liegt also nicht nur an der Bildung der Eltern, sondern auch am Einfluss der näheren Umgebung. Deshalb muss nicht nur gegen eine Gentrifizierung, sondern auch gegen eine Ghettoisierung gearbeitet werden. Wichtig wäre eine gesunde Mischung von allen Schichten, statt bestimmte Stadtteile zu stigmatisieren.


Die Mieten im Leipziger Osten oder in Plattenbausiedlungen sind geringer als in Schleußig oder Gohlis. Eine bessere Mischung wird kaum möglich sein.

 
Ulrike Igel: Daran muss aber gearbeitet werden. Hier sind unter anderem die Stadtplaner gefragt. Denn es ist genauso bedenklich, wenn nur finanziell Bessergestellte in bestimmten Stadtteilen leben, und in anderen überwiegend Arme. Menschen müssen Erfahrungen und auch Lebensmodelle austauschen, ansonsten grenzen sich die Schichten voneinander ab. Für das Gemeinwesen, für die Gesellschaft hat das gefährliche Folgen. Die Anzeichen sind in Leipzig bereits deutlich zu sehen.


Interview: Andreas Debski

Wieland Kiess (57) ist seit 1998 Professor für Allgemeine Pädiatrie und Direktor der Universitätskinderklinik Leipzig. Von 2002 bis 2005 war der gebürtige Schwarzwälder zudem Dekan der Medizinischen Fakultät an der Universität Leipzig. Forschungs- und Lehraufenthalte absolvierte Kiess unter anderem in den USA, in Australien und in Schweden.

Ulrike Igel (33) hat Soziale Arbeit an der HTWK Leipzig studiert und ist seit 2007 Mitglied der Forschungsgruppe "Soziales und Gesundheit". Im Rahmen ihrer von der EU geförderten Dissertation forschte die gebürtige Altenburgerin über den Zusammenhang von Sozialraum und Gesundheit. Aktuell betreut sie das Projekt "Grünau bewegt sich".


 

Leipziger Medizinstudie: Kinder aus gut situierten Familien leben länger

 

Je besser die Bildung der Eltern, desto gesünder der Nachwuchs / Forscher Kiess: Langzeitwirkung verheerend

 

Leipzig. Eine neue Studie des Uni-Klinikums Leipzig offenbart erschreckende Ergebnisse: Je geringer das Einkommen und die Bildung der Eltern sind, desto schlechter ist die Gesundheit der Kinder. Hinzu kommen deutlich verminderte Bildungschancen. "Für diese Kinder steht die Ampel bereits auf Gelb", warnt Professor Wieland Kiess (57), Chef der Uni-Kinderklinik und Betreuer der Forschungsarbeit, die der LVZ exklusiv vorliegt. Denn die Langzeitwirkung sei verheerend: "Die Lebenserwartung ist deutlich geringer als bei Kindern, die aus gut situierten Familien stammen."

 

Im Rahmen des Großforschungsprojektes Life waren für die Studie 2200 Kinder zwischen 2 und 19 Jahren untersucht worden. Dem Forscherteam ging es dabei insbesondere um die Hämoglobin-Werte und den Eisen-Haushalt. Das Resultat: Die Werte von Kindern aus einkommensschwachen und weniger gebildeten Familien weisen bereits bedenkliche Defizite auf. "Man wird müde, ist unkonzentriert, weist Lernschwächen auf und verfügt über weniger Ausdauer beim Sport", erklärt der Leipziger Kinder-Spezialist die Folgen. Aus anderen Studien ist bekannt, dass Kinder aus unteren Schichten erheblich schlechtere Kalzium- und Vitamin-D-Werte aufweisen. "Eine der Ursachen ist die Ernährung, hinzu kommt Bewegungsmangel", macht Kiess klar und spricht von einem "verheerenden Kreislauf".

 

Eine weitere Studie, die an der Leipziger Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur (HTWK) angefertigt wurde, macht für gesundheitliche Defizite auch das Wohnumfeld verantwortlich. "Wir haben festgestellt, dass Kinder, die in benachteiligten Stadtteilen aufwachsen, eine höhere Wahrscheinlichkeit für Übergewicht und eine reduzierte Motorik aufweisen, daneben hängen die schulischen Leistungen zurück", sagt die HTWK-Sozialpädagogin Ulrike Igel. So seien Kinder aus Stadtteilen, die einen überdurchschnittlichen Anteil von Hartz-IV-Empfängern aufweisen, in einem viel schlechterem gesundheitlichen Zustand als in besseren Vierteln.

 

Als Konsequenz aus den Leipziger Ergebnissen mahnt Sachsens Sozialministerin Barbara Klepsch (CDU): "Für mich steht Aufklärung an erster Stelle. Denn auch ohne großen finanziellen Aufwand kann man Kinder gesund ernähren, sie zu Bewegung an frischer Luft animieren und ihnen Anregungen für ihre mentale Entwicklung bieten." Deshalb habe die Landesregierung etwa Gesundheitsziele ausgegeben und fördere verschiedene Programme. "Denn 'Gesund aufwachsen' beginnt auch in unseren Kitas", erklärt Barbara Klepsch.

 

Ihre Thüringer Amtskollegin Heike Werner (Linke) sieht in Kita-Modellprojekten des Landes für mehr Bewegung und gesunde Ernährung einen ersten Schritt. "Maßnahmen für die Kindergesundheit und den Kinderschutz müssen aber stetig weiterentwickelt werden", so die Sozialministerin. Hierbei seien insbesondere auch die Gesundheitspolitiker gefordert. "Wir müssen gemeinsam alle Anstrengungen unternehmen, damit Kinder und Jugendliche die bestmöglichen Chancen für eine optimale Entwicklung haben - und zwar unabhängig von ihrer sozialen Lage."