Flüchtlinge: Abschiebe-Drama zeigt Grenzen der Integration

Erstveröffentlicht: 
16.06.2015

Er lernt fleißig Deutsch, findet Arbeit und spielt Fußball im Verein - mustergültiger kann Integration kaum laufen. Dennoch soll ein Flüchtling abgeschoben werden. Der tragische Fall zeigt exemplarisch das Dilemma der aktuellen Flüchtlingspolitik in Europa.

 

Eine Familie aus Müllheim nimmt einen Flüchtling aus Gambia bei sich auf. Der junge Mann lernt fleißig Deutsch, findet Arbeit und spielt Fußball im Verein – mustergültiger kann Integration kaum laufen. Dennoch soll er abgeschoben werden. Auch ein Brief der Bürgermeisterin vermag das Blatt nicht zu wenden. Mittlerweile hat der junge Mann Zuflucht im Kirchenasyl gefunden. Der tragische Fall zeigt exemplarisch das Dilemma der aktuellen Flüchtlingspolitik in Europa.

Die Nacht, als die Polizei vor ihrem Haus steht, sturmklingelt und durch die Fenster leuchtet, werden Christian Stolzenbach und ihr Mann Martin Klingler-Stolzenbach so schnell nicht vergessen. Zum Glück sind die Kinder nicht aufgewacht, sagt Christiane Stolzenbach rückblickend. "Was hätte ich ihnen erzählen sollen?" Als die Beamten anrücken, ist ihr Gast, ein 18 Jahre alter Gambier, nicht da. Die drohende Abschiebung hat den jungen Flüchtling so stark belastet, dass er wegen Suizidgefahr in einer Klinik behandelt werden musste. Seine Abwesenheit hatten die Stolzenbachs weitergegeben. Offenbar aber hatte die Nachricht die entsprechenden Stellen nicht rechtzeitig erreicht.

 

Zwei Flüchtlingen finden Zuflucht im Kirchenaysl


Weil ihr gambischer Mitbewohner schon einmal nicht Zuhause anzutreffen war, hatte das Regierungspräsidium in Karlsruhe sogar eine Hausdurchsuchung bei den Stolzenbachs beantragt. Das aber ging den Richtern am Verwaltungsgericht Freiburg offenbar zu weit. Der Antrag wurde abgewiesen, die Verunsicherung aber ist geblieben. "Das war so heftig, dass wir uns nicht getraut haben aufzumachen", erzählt Christiane Stolzenbach an dem Tag, an dem sie ihren gambischen Hausfreund endlich in Sicherheit wähnt. Nach dem Klinikaufenthalt floh der Gambier nach Freiburg ins Kirchenasyl. Mittlerweile hat auch ein zweiter Flüchtling aus Müllheim dort Zuflucht gefunden.

Was die Stolzenbachs nicht verstehen können: Warum wird ein junger Mann, der auf dem besten Weg der Integration ist, nach Italien zurückgeschickt? Die Situation sei für Helfer und Flüchtlinge sehr belastend, weiß Samuel Gebert, der sich im Müllheimer Helferkreis engagiert. 22 weitere Flüchtlinge hätten mittlerweile einen entsprechenden Bescheid erhalten. Viele von ihnen sind seit Monaten in Müllheim. Und könnten vermutlich auch noch länger bleiben, sofern sie den Stichtag für die Abschiebefrist überstehen. Für die meisten liegt der Termin im Juli – sechs Monate nachdem sie ihren Asylantrag gestellt haben.

Zentrale Erstaufnahmestelle ist überlastet


Was die Sache verkompliziert: Bei vielen Flüchtlingen ist das Asylverfahren überhaupt noch nicht angelaufen, wenn sie nach Müllheim kommen. Der Grund: Die zentrale Erstaufnahmestelle in Karlsruhe ist überlastet. Und so werden Menschen mit ungeklärtem Status an die Kommunen weitergereicht – was übrigens aus Datenschutzgründen weder die aufnehmenden Gemeinden noch der zuständige Landkreis erfahren.

Oft vergehen Monate, bis die Sache endlich ins Laufen kommt. Monate des Wartens, in denen die Integration fortschreitet und Hoffnungen wachsen. Umso schmerzlicher ist es dann, wenn das mühsam aufgebaute neue Leben droht, mit einem Federstreich zunichte gemacht zu werden.

Die Rückführung nach Italien gilt als sicherer Weg in die Obdachlosigkeit. Vielen, die sich um die Integration der Flüchtlinge vor Ort bemühen, drängt sich zudem der Eindruck auf, dass nur nach Schema F entschieden wird. Christiane Stolzenbach hat einen Brief an die Härtefallkommission verfasst, auch Müllheims Bürgermeisterin Astrid Siemes-Knoblich hat sich für den jungen Mann eingesetzt. Umsonst. Die Antwort aus dem zuständigen Ministerium: Nach sechs Monaten sei noch niemand integriert. Dabei war auch dort bekannt, dass der junge Mann die Integrationsklasse besuchte und bereits einen Antrag auf Arbeitserlaubnis gestellt hatte.

 

Für Siemes-Knoblich zeigen dieser und andere Fälle deutlich das Dilemma der aktuellen Flüchtlingspolitik, aber auch der aktuellen Rechtslage. Für sie ist ganz klar: "In einem Rechtsstaat muss man sich an geltende Regeln halten." Bei der Frage, ob sie diese geltenden Regeln der aktuellen Situation aber für noch angemessen hält, kommt von ihr freilich ein deutliches Nein. "Wir lassen diese Menschen an den Früchten schnuppern, aber sie dürfen letztlich doch nicht zubeißen." Diese Situation führe zu großen menschlichen Tragödien, wie jetzt bei den Müllheimer Flüchtlingen immer wieder zu beobachten sei. "Das ist ganz, ganz bitter."

Die meisten der in Müllheim untergebrachten Flüchtlinge kommen aus Afrika. Sie sind extrem motiviert, sich hier eine neue Existenz aufzubauen. Siemes-Knoblich vergleicht diese Situation mit der Geschichte der Auswanderer, die aufgrund von Hungersnöten, wirtschaftlicher Misere und politischer Verfolgung im 18. Jahrhundert aus unserer Region nach Amerika aufgebrochen sind. Auch da gab es einen ungeheuren Willen, die Chance für einen Neuanfang zu nutzen.

Probleme sind das, das wissen natürlich auch die Rathauschefin und die Vertreter des Helferkreises, die weit über den Müllheimer, ja eigentlich sogar über den nationalen Horizont hinausgehen und letztlich in einer großen gesellschaftspolitischen Debatte auf europäischer Ebene münden müssten.

Um die aktuelle Situation etwas entschärfen zu können, wäre es laut Siemes-Knoblich aber schon einmal sehr hilfreich, wenn mehr Kapazitäten für die Erstaufnahme geschaffen würden – um so zu verhindern, dass Menschen weitergeschickt werden, bei denen noch unklar ist, ob sie überhaupt hier in Deutschland einen Asylantrag stellen können.