Denk ich an Deutschland

Erstveröffentlicht: 
24.11.2009

Eine Konferenz der Alfred Herrhausen Gesellschaft und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

Mittwoch, 25. November 2009, Berlin

 

An Deutschland denken, über deutsche Schlüsselfragen einen Tag lang leidenschaftlich streiten wollen kluge Köpfe: scharfzüngige Politiker, führende Leute aus der Wirtschaft, Wissenschaftler, Publizisten. Der 20. Jahrestag des Mauerfalls ist dabei der willkommene historische Anlass.

 

Zwischen Vorsprung durch Technik und Export von gutem Gewissen

Zunächst widerstrebend, dann mit größerer Selbstverständlichkeit hat das wiedervereinigte Deutschland seine Verantwortung in der Welt akzeptiert. Heute begeht keinen Tabubruch mehr, wer von deutschen Interessen spricht. Doch die Evolution vom politischen Zwerg zur selbstbestimmten Macht ist unvollkommen geblieben, und sei es, weil Risikofreiheit vielfach das Richtmaß Berliner Außenpolitik ist. Was hindert das "Volk der Zauderer", das beim Technikexport durchaus selbstbewusst auftritt, daran, der ihm zugewachsenen internationalen Bedeutung vollends gerecht zu werden? Deutschlands Partner geben sich nicht mit einer Arbeitsteilung zufrieden, die ihnen die Schmutzarbeit zuweist und den Deutschen die Moral. Deutschland ist Adressat globaler Gestaltungserwartungen geworden.

 

Soziale Gerechtigkeit oder Freiheit?

Soziale Gerechtigkeit ist zum neuen Motiv der deutschen Politik geworden. Alle maßgeblichen Parteien lassen sich davon leiten, vor allem seit die Flexibilisierung der Arbeitswelt und die Weltwirtschaftskrise den Ruf nach dem Staat wieder stärker werden lassen. Zwar sagen die Bürger in Umfragen, es gebe eine soziale Schieflage, doch dem deutschen Sozial- und Umverteilungsstaat geht es nach wie vor prächtig. Nicht zuletzt deshalb stellt sich die Frage, wie es die Deutschen mit der Freiheit und dem Prinzip der Eigenverantwortung halten und warum ihnen die Erhebungsgerechtigkeit ziemlich gleichgültig ist. In dem Grundkonflikt zwischen staatlich herzustellender sozialer Gerechtigkeit und individueller Freiheit schlagen sich die meisten auf die Seite der Gerechtigkeit, den Preis der Freiheit sind sie zu entrichten bereit. Wer zahlt wirklich die Zeche?

 

Land der Dichter und Denker, ade - welcome Kulturimporteur Nr. 1

Deutschland definierte sich früher über den Begriff "Kulturnation", heute importiert es "Kultur" wie kein zweites Land. Müssen wir darüber Klage führen? Und wenn wir klagen, worüber eigentlich? Schließlich füllen die importierten Bücher, Filme und Ideen Lücken, welche "heimische" Produkte offenbar nicht schließen können. Wo die einen den Verlust von Identität bedauern, bejubeln andere Frische und Modernität Deutschlands. In der globalisierten Welt jedenfalls gibt es auch keine kulturell abgeschotteten Räume - und "Kultur" wird nicht nur in eine Richtung transferiert.

 

in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24.11.2009, Nr. 273

Sonderbeilage "Denk ich an Deutschland", Seite D23