"Auch unter Druck muss ein Polizist funktionieren" - Thomas Wüppesahl im Interview

Erstveröffentlicht: 
22.02.2015

Leipzig. In 182 Verfahren wegen Körperverletzung gegen sächsische Polizisten kam es in keinem Fall zu einer Verurteilung. Thomas Wüppesahl ist Bundesvorsitzender des Berufsverbandes „Kritische Polizisten“. Im Interview mit LVZ-Online sieht er die Ursache unter anderem in der Nähe von Beamten, Staatsanwaltschaft und Gerichten. Er fordert unabhängige und bessere Kontrolle. 

 

LVZ: In Sachsen gab es 2014 182 Verfahren gegen Polizisten wegen Körperverletzung. Hat die Polizei ein Problem mit Gewalt aus den eigenen Reihen?

Thomas Wüppesahl: Eindeutig: Ja. Und nach unseren Beobachtungen steigt die Zahl der Fälle an. Die Gewalt nimmt zu. Das liegt vor allem an einem Versagen der Kontrollinstanzen. Fehlverhalten im Dienst wird nur ausnahmsweise negativ sanktioniert.

Auch die Gewalt gegen Polizisten steigt.

Wir erleben einen allgemeinen Verlust des Respekts, auch gegenüber den Beamten. Aber das rechtfertigt keine Gewalt, die von Polizisten ausgeht. Da beobachten wir eine gewisse Verrohung, die qualitativ eine andere Dimension darstellt als jene von Bürgern gegen Beamte. Letztere handeln hoheitlich, sie begehen dann gewissermaßen staatliche Gewaltübergriffe.

Immer wieder wird die namentliche Kennzeichnung von Polizisten gefordert. Die Beamten sollen sich nicht mehr durch Anonymität bei Übergriffen aus der Affäre ziehen können…


Mir gefällt nicht das Bild, das die Polizei heute nach außen trägt. In den 1970ern waren wir bei Demonstrationen noch ohne harten Hut im Einsatz. Heute stehen die Polizisten mit Helm und Rüstung da. Manchmal denke ich mir: Sind wir hier im Bürgerkrieg? Wir „Kritischen Polizisten“ sind für ein Namensschild an der Uniform. Wir wollen keine Willkür verdecken, sondern einen funktionierenden Staatsapparat und Gemeinwohl.

Eine Kennzeichnung mit Nummern scheidet für Sie aus?

Nummern sind nur die zweitbeste Lösung. Schließlich sind auch Richter und StaatsanwältInnen den Angeklagten bekannt. Da fordert niemand Anonymisierung. Wir sagen: Namen – alles andere ist lächerlich und einer demokratischen Gesellschaft wie der unseren nicht würdig.

Verbotene Demonstrationen - ein verfassungsrechtlicher Skandal

Bei Großereignissen wie den Legida- und Pegida-Demonstrationen sind tausende Beamte im Einsatz. Die Polizei klagt über Personalnot. War es richtig, einige der Aufzüge zu verbieten?

Nein! Das ist ein auch verfassungsrechtlicher Skandal. Das hat es so noch nie gegeben. Das waren türkische Verhältnisse in Dresden und von der Landesregierung dreist begründet. Die Personalnot wurde in dem Fall nur vorgeschoben.

Dennoch, die Belastungen steigen. Ist der Druck, dem die Beamten ausgesetzt sind, inzwischen zu groß?

Auch unter Druck muss ein Polizist funktionieren. Wenn er nicht funktioniert, dann muss sein Fehlverhalten mit den dafür bestehenden Normen sanktioniert werden.

In keinem der eingangs erwähnten 182 Verfahren gegen Polizisten kam es zu einer Verurteilung. Waren all diese Anzeigen unbegründet oder hakt es bei den Ermittlungen?


Es kommt nur selten zu Anklageerhebungen gegen Polizisten bei Vergehen im Dienst. Das liegt an der Nähe zwischen Staatsanwaltschaft, Polizei und internen Ermittlern. Die Dienstaufsicht funktioniert nicht. Es herrscht ein flächenhaft grassierender, falscher Korpsgeist: Da wird nicht gegen Kollegen ermittelt. Das ist ein ganz unsauberes Geschäft, was da läuft. Und: Alle Insider wissen das.

Wenn die interne Kontrolle versagt, braucht es mehr Transparenz?

Die Presse ist teilweise zu sehr mit eingewoben. Wenn da mal einer kritisch nachfragt, dann bekommt er beim nächsten Mal keine Auskunft mehr, wird zu den nächsten Einsätzen mit Durchsuchungsbildern, Festnahmen und Ähnlichem nicht mitgenommen. Zudem muss man sagen, die Pressestellen der Polizei, das ist einer der wenigen Bereiche, wo noch sehr professionell gearbeitet wird. Auch deshalb haben wir das falsche Bild über die Verhältnisse in unseren Polizeien.

Den Polizisten fehlt ein Ombudsmann

An wen können sich Beamte wenden, die Fehlverhalten beobachten?

Aus anderen Staaten kennen wir unabhängige Institutionen ähnlich den Ombudsleuten. Für die Soldaten der Bundeswehr gibt es den Wehrbeauftragten. So etwas fehlt bei der Polizei. Und wenn es solche Stellen gibt, dann sind sie meist dem Innenressort angegliedert. Eine Ansiedlung außerhalb dieses Ministeriums scheitert am Einsatz von Lobbygruppen wie den Polizeigewerkschaften. Wir haben keine neutrale Instanz mit Sanktionsmöglichkeiten, weil auch die Staatsanwaltschaften patzen, wenn es um „ihre“ Helfer von der Polizei geht.

Ist die Politik in der Bringschuld?


Ich vermisse den politischen Willen zu echten Reformen. Sie finden selten liberale Köpfe auf dem Posten des Innenministers. Da sitzen eher Hardliner. Hinzu kommt, die Apparate führen ein Eigenleben. Da wartet die Führungsebene halt, bis ein genehmer Minister ins Amt kommt, und überwintert mit Schläue und Geschick.

Aber wenn das oben jemand entschiede, dann würde es stattfinden. Denn wir sind Polizeibeamte und das bedeutet: Befehl und Gehorsam funktionieren.

Und bei den Polizisten? Wo muss man ansetzen?

Die Ausbildung ist verbesserungswürdig. Es muss mehr für die Fort- und Weiterbildung der Beamten getan werden. Außerdem brauchen wir Supervision. Besonders in kritischen Bereichen wie der Betreuung von V-Leuten, verdeckten Ermittlern muss man die Polizisten an der kurzen Leine halten und gegebenenfalls sanktionieren können. Die Dienstaufsicht müsste endlich funktionieren. Und: je sensibler der dienstliche Handlungsauftrag, so intensiver sollte Dienstaufsicht ausgeübt werden.

Zur Person: Thomas Wüppesahl, Jahrgang 1955, ist Vorsitzender des Berufsverbandes „Kritische Polizisten“. Der gebürtige Hamburger war Streifenpolizist auf dem Kiez, später wechselte er zur Kriminalpolizei. Nach seinem Studium kümmerte er sich um Wirtschaftskriminalität und Organisierte Kriminalität.

Wüppesahl engagiert sich bereits seit den 1970er Jahren in der Anti-Atomkraftbewegung. Nach den Ereignissen rund um die Demonstrationen gegen das AKW Brokdorf gründete das Gewerkschaftsmitglied mit Kollegen aus dem Polizeidienst 1986 das „Hamburger Signal“, aus welchem die Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) kritischer Polizisten hervorging. 1987 zog er für die Grünen in den Bundestag ein, schied im gleichen Jahr jedoch aus der Partei aus. Er ist Bundessprecher der BAG.