Der gestrige Verhandlungstag, der
ursprünglich im Saal 101 stattfinden sollte, begann mit leichter
Verspätung im Saal 700, der dank penibler Kontrollen und kugelsicherer
Ausstattung ebenfalls als „Hochsicherheitssaal“ gilt. Die kurzfristige
Raumänderung war vermutlich der zeitgleich stattfindenden
Solidaritätskundgebung für Alex geschuldet. Rund ein Dutzend
Unterstützer_innen hatten sich trotz mäßigen Wetters mit Transparenten
und einem Lautsprecherwagen vor dem Gerichtsgebäude aufgebaut und Flyer
an vorbeikommende Passant_innen verteilt. Die Polizei überwachte diese
Szenerie mit einem Großaufgebot von neun Gruppenwagen und mindestens
zwei Zivilfahrzeugen des Polizeilichen Staatsschutzes. Einer der
Staatsschützer_innen fotografierte die Kundgebungsteilnehmer_innen.
Im Gerichtssaal hatten sich ca. 25 Beobachter_innen und zwei Dutzend Pressevertreter_innen eingefunden. Die Verhandlung leitete Richter Andreas Lach, die Anklage wurde vertreten durch Staatsanwältin Angelika Hoffmann, Alexandras Verteidigung stellten wie gehabt die Rechtsanwält_innen Undine Weyers und Martina Arndt. Auch Oberstaatsanwalt Schwarz, der die Anklage im Fall von Christoph T. vertritt, befand sich während der gesamten Verhandlung unter den Zuschauenden.
Ende der Beweisaufnahme
Die Verteidigung zog zu Beginn der Verhandlung sämtliche Beweisanträge
zurück, die sie am Ende des 4. Verhandlungstages gestellt hatte.
Offenbar war die noch am Abend des 23. Oktober ergangene Entscheidung,
Alexandras Haftbefehl aufzuheben, von der Verteidigung als
richtungsweisend eingeschätzt worden. Deshalb verzichtete sie auf
weitere womöglich entlastende Beweisanträge, die das Verfahren noch
verlängert hätten. Danach wurde der medizinische Sachverständige Dr.
Wrobel gehört, der aufgrund Alexandras jungen Alters und des bei ihr am
Tatabend gemessenen Blutalkoholwertes, im Falle einer Verurteilung, auf
verminderte Schuldfähigkeit plädierte. Nachdem der Sachverständige
gehört war, verlas Richter Lach ihren Registerauszug, der zwei Einträge
enthielt: Eine Verwarnung vom April 2009 wegen Sachbeschädigung und ein
weiteres Verfahren, welches allerdings eingestellt worden war.
Alexandra ist nicht vorbestraft. Anschließend verkündete Lach, dass man
nun am Ende der Beweisaufnahme angelangt sei, falls keine weiteren
Beweisanträge mehr gestellt würden.
Dein Franz Müntefering
Die Staatsanwaltschaft stellte noch einen Antrag, die „Gefangenenpost“
im Gerichtsaal zu verlesen, weil sich daraus Rückschlüsse auf eine
politische Tatmotivation ziehen ließen. Laut Hoffmann sei dies von
Belang für die „Strafzumessung“. Die Verteidigung protestierte dagegen
und stellte in Frage, welche Rückschlüsse Sendungen, die Alexandra
während ihrer Untersuchungshaft von x-beliebigen Personen zugeschickt
bekommen hatte, auf eine mögliche Tatmotivation zuließen. Nach einer
5-minütigen Unterbrechung, hatte sich das Gericht entschieden, die Post
dennoch zu verlesen. Neben Formulierungen, wie „siempre antifa“ (zu dt.
„immer antifa“), „Du sitzt in Untersuchungshaft, doch gemeint sind wir
alle“, sowie Unterzeichnungen mit „ein Genosse“, beanstandete die
Staatsanwaltschaft auch eine Postkarte mit dem Konterfei des
SPD-Abgeordneten Franz Müntefering, auf dessen Rückseite ein anonymer
Absender geschrieben hatte (sinngemäß): „Kopf hoch Alex, werde dich mit
Parteigeldern freikaufen, dein Franz“. Im Saal brach darauf Gelächter
aus.
Plädoyer der Anklage
Die Staatsanwaltschaft begann nun mit dem Verlesen ihres Plädoyers. Sie
halte am Tatvorwurf der versuchten Brandstiftung fest und habe keine
Zweifel an den Aussagen der beiden Polizeibeamt_innen Stefanie Lütz
(37) und Thomas Schulze (28), die bereits am ersten bzw. dritten
Prozesstag gehört wurden. Alexandra belaste, dass sie sich am Tatabend
in zeitlicher und räumlicher Nähe zum Tatort aufhielt. Außerdem
entsprächen ihre Statur und ihre Kleidung der Person, die Schulze kurz
vor Entdeckung des Brandes in Tatortnähe gesehen hatte. Verdächtig sei
außerdem, dass sie vor der Festnahme im Spätkauf eine Bierflasche in
das Regal zurück gestellt habe, nachdem sie die beiden Polizist_innen
bemerkte. Ferner habe die Kriminaltechnik zwar keine Verbindung
zwischen zwei in Tatortnähe gefundenen Farbsprühdosen und den
Sprühköpfen in Alexandras Hosentasche nachweisen können, trotzdem sei
eine „Zugehörigkeit zum Sprühkopf nicht auszuschließen“, führte die
Staatsanwältin aus. Alexandra habe außerdem ein Feuerzeug mitgeführt,
belastend, da sie keine Zigaretten dabei gehabt habe. Zudem seien in
ihrer Wohnung weitere Gegenstände sichergestellt worden: Handschuhe und
Grillanzünder, außerdem Zeitungsartikel und Unterlagen, die belegten,
dass „die Angeklagte der linken Szene zuzurechnen“ sei. Daß Alexandra
keine Grillanzünder-Rückstände an ihren Händen hatte, könnte damit zu
erklären sein, dass sie sich die Papiertüten, die ihr zur
Spurensicherung über die Hände gezogen worden waren, abriss. Außerdem
wäre es möglich, dass sie Handschuhe getragen haben könnte. Diese
könnten bei der Absuche der Tatort-Umgebung nicht gefunden worden sein.
Die Zeugin Lütz habe schließlich ausgesagt, dass nur in unmittelbarer
Nähe zum geschädigten KFZ, ferner nur nach weiteren Grillanzündern,
nicht aber nach sonstigen Spuren, gesucht worden sei. Auch der Umstand,
dass die Zeugin Lütz Alexandra in sofern entlaste, dass sie aussagte,
sie habe die Fahrbahn der Liebigstraße fortlaufend im Auge behalten und
könne ausschließen, dass eine Person die Fahrbahn überquert habe, sei
insofern anzuzweifeln, da Lütz, als der Streifenwagen gewendet wurde,
den Blickkontakt habe unterbrechen müssen. Daher sei es durchaus
möglich, dass eine Person ungesehen von Tatort zum Frankfurter Tor
gelangen konnte. Außerdem sei sie nach der Festnahme „außer Atem“
gewesen und es seien Anhaftungen von „Straßenschmutz“ unbekannter
Herkunft an ihrer Kleidung gefunden worden. Da Alexandra sich nicht zum
Tatvorwurf geäußert hat, gäbe es keine andere Erklärung für die
Indizienkette, als daß sie die Tat begangen habe.
Plädoyer der Anklage – zur vermeintlichen Sichtung in der Liebigstraße
Vergleichsweise ausführlich äußerte sich die Staatsanwältin zu den
Umständen der vermeintlichen Gesichtserkennung Alexandras durch den
Zeugen Schulze. Die „Erinnerungslücken“ und „Unstimmigkeiten seiner
Aussage hätten seine Glaubwürdigkeit, dass er eine wahrheitsgemäße
Aussage mache, eher noch unterstützt, als sie in Zweifel zu ziehen.
Auch daß der Zeuge keinerlei konkrete Erkennungsmerkmale nennen konnte,
rechtfertigte die Staatsanwaltschaft folgendermaßen: Es sei völlig
normal, dass Menschen, sich schon nach wenigen Minuten nicht mehr daran
erinnern könnten, ob eine Person, mit der sie sich z.B. unterhalten
haben, Merkmale wie eine Brille oder einen Bart aufgewiesen habe. Zur
Beleuchtungslage des tatortnahen Sichtungsortes führte sie aus, dass
dieser durch Straßenlaternen ausreichend beleuchtet gewesen sei, um
eine Erkennung durch den Zeugen Schulze zu ermöglichen. Eben dieser
hatte jedoch in seiner Aussage vom letzten Prozesstag angegeben, dass
die Beleuchtungssituation vor Ort „schlecht“ gewesen sei; er wollte
Alexandra nur im Scheinwerferlicht seines Streifenwagens erkannt haben,
was die Verteidigung schon damals anzweifelte, da die „verdächtige“
Person sich zum Zeitpunkt der Sichtung auf Höhe des Seitenfensters
befunden haben soll. Dass die Verdächtige Person zuvor den Brandsatz
gelegt hatte, sah die Staatsanwaltschaft dadurch erwiesen, da an dem
Ort, an dem sie gesehen wurde, später Grillanzünder gefunden worden
seien, derer sie sich „augenscheinlich“ entledigt habe.
Plädoyer der Anklage – zum Strafmaß
Zum Ende des Plädoyers begründete die Staatsanwaltschaft das geforderte
Strafmaß. Eine Verminderte Schuldfähigkeit sei nicht gegeben, weil
Alexandra trotz Alkoholisierung ein „umsichtiges Fluchtverhalten“ an
den Tag gelegt habe. Hoffmann beschrieb diese Umsicht damit, dass
Alexandra unauffällig gegangen sei und nicht gestolpert sei, als sie
sich umgeschaut habe. Außerdem habe sie sich nach der Tat umgezogen.
Eine „politische Tatmotivation“, welche die Staatsanwaltschaft durch
die „Gefangenenpost“ und Unterlagen aus Alexandras Wohnung als erwiesen
ansah, sollte bei der „Strafzumessung“ zusätzlich gewürdigt werden.
Indem die Staatsanwältin Alexandra das strafverschärfende Attribut
„hoher Sozialschädlichkeit“ attestierte, bediente sie sich
exemplarischer NS-Rhetorik, wie sie bis heute im bundesdeutschen
Strafrecht verankert ist. Außerdem übte sich die Anklage in
Stimmungsmache im Stil der Boulevardmedien, als sie ausführte, dass
durch das Inbrandsetzen von Fahrzeugen Menschenleben gefährdet würden.
Da es nicht hinnehmbar sei, dass Teile der Bevölkerung bestimmte
Stadtteile aus Angst um ihr Auto meiden würden, sei aus Gründen der
„Generalprävention“ ein Strafmaß von mindestens 3 Jahren zu verhängen.
Ferner beantragte sie einen erneuten U-Haftbefehl gegen Alexandra wegen
vermeintlicher Fluchtgefahr.
Plädoyer der Verteidigung I (Undine Weyers)
Angesichts des Anklage-Plädoyers fragte Weyers verwundert, ob die
Staatsanwältin überhaupt an der Hauptverhandlung teilgenommen habe. Es
sei offensichtlich so, dass die Staatsanwaltschaft nun versuche,
Alexandra auf „Biegen und Brechen“ zu verurteilen, um durch
Generalprävention eine Abschreckung zu erreichen.Das geforderte
Strafmaß sei, unabhängig davon, ob Alexandra die Tat begangen habe oder
nicht, für eine versuchte Brandstiftung, bei der kein Schaden
entstanden ist, absolut unverhältnismäßig.
Plädoyer der Verteidigung I (Undine Weyers) – Indizienkette
Weyers begann damit, die Indizienkette der Staatsanwaltschaft zu
beleuchten. Bezüglich der Sprühdosen, die laut Staatsanwaltschaft mit
„nicht auszuschließen[der]“ Wahrscheinlichkeit mit Alexandras
Sprühknöpfen in Verbindung stünden, erklärte sie, dass die
Staatsanwaltschaft es unterlassen habe zu erwähnen, dass die
kriminaltechnische Untersuchung zu Tage gebracht hatte, dass die
Sprühknöpfe definitiv unbenutzt, und die Dosen vom Tatort wiederum
geleert und verwittert waren. Auch das Indiz, wonach an Alexandras
Händen keine Brandmittel gefunden wurden, diese sich nach Ansicht der
Anklage aber auch hätten verflüchtigen können, als Alexandra die
Papiertüten abriss, die ihr über die Hände gezogen worden waren, habe
keinen Beweiswert. Hätten sich Brandmittelrückstände an Alexandras
Händen befunden, wären diese durch Reißen an den Tüten erst Recht
darauf übertragen worden. Jedoch wurde auch hier kein
Brandmittelrückstand festgestellt. Außerdem sei es fraglich, dass
keinerlei Spuren an der Kleidung zurück blieben, wenn mit
Brandbeschleunigern hantiert würde. Die These der Anklage, Alexandra
könnte auch Handschuhe getragen haben, die nicht gefunden werden
konnten, weil die Polizei nach Aussage von Lütz am Tatort nur nach
Grillanzünern gesucht habe, wies die Verteidigung als falsch zurück.
Lütz hatte nämlich ausgesagt, dass die Beamt_innen der 11.
Einsatzhundertschaft (EHU) sowohl Tatort, als auch Umgebung nicht nur
nach Grillanzündern, sondern auch nach jedwelcher Art von Spuren
abgesucht hatten. Im Bezug darauf, dass es Alexandra belaste, dass in
ihrer Wohnung Grillanzünder gefunden wurden, sagte Weyers, dass sie am
liebsten eine Umfrage machen würde, wer von den im Saal anwesenden in
der Grillsaison Grillanzünder zuhause hat. Darüber hinaus sei sie
gespannt zu erfahren, wie viele Autoanzünder_innen demnach in der
Turmstraße (Straße, in der sich das Kriminalgericht befindet) wohnen
würden. Aus dem Besitz von Grillanzündern ergebe sich folglich
keinerlei Beweiswert. Gleichsam stehe es um den Befund, dass Alexandra
bei ihrer Festnahme ein Feuerzeug mit sich geführt hatte. Die in diesem
Zusammenhang gefallene Behauptung der Anklage, dass Alexandra
belastender Weise keine Zigaretten dabei gehabt hätte, nannte Weyers
eine „dreißte Lüge“, die durch das polizeiliche Beschlagnahmeprotokoll
zu widerlegen sei: „Zigaretten“.
Plädoyer der Verteidigung I (Undine Weyers) – Polizeizeug_innen
Nun ging Weyers auf die Aussagen der Polizist_innen Lütz und Schulze
ein. Die Zeugin Lütz hatte ausgesagt, sie habe die Liebigstraße ab dem
Zeitpunkt im Blick gehabt, in dem ihr Kollege für einen
Sekundenbruchteil eine „verdächtige Person“ am Straßenrand sah. Lütz
könne ausschließen, dass eine Person ab diesem Augenblick die Fahrbahn
überquert hätte, was nötig gewesen wäre, um vom Tatort aus zum
Frankfurter Tor zu gelangen. Undine Weyers erinnerte in diesem
Zusammenhang nochmals, daran, dass die Staatsanwaltschaft erklärt
hatte, die beiden Polizist_innen für „zwei glaubwürdige Zeugen“ zu
halten. Weyers teilte diese Auffassung im Falle der Zeugin Lütz: Sie
sei „die ehrlichste Polizistin vor Gericht“, die sie je erlebt habe. So
ehrlich, dass sie auch ausgesagt habe, dass in ihrem Streifenabschnitt
häufig Menschen in schwarzer Kleidung anzutreffen seien und es ebenso
zum „normalen“ Stadtbild gehöre, dass sich Menschen besonders im Umfeld
des Frankfurter Tors treffen und Bier-trinkend auf der Straße herum
sitzen. Daß Alexandra schwarze Kleidung dabei hatte und
„Straßenschmutz“ an ihrer Hose festgestellt wurde, sei daher leicht zu
erklären.
Plädoyer der Verteidigung I (Undine Weyers) – „Wiedererkennung“
Weyers stellte eingangs fest, dass die Staatsanwaltschaft im
Zusammenhang mit der „verdächtigen Person“ aus der Liebigstraße
fortlaufend eine Formulierung nutzte, die weder durch Zeugenaussagen,
noch Protokolle früherer Vernehmungen des Polizeibeamten Schulze
gedeckt war: Sie behauptete wiederholt, die Person habe versucht, sich
zu „verstecken“. Dabei hatte Schulze lediglich ausgesagt, die Person
habe sich an geparkten Autos „vorbei geschoben“. Nun ging Weyers näher
auf die fragwürdigen Aspekte in Schulzes Aussage über die Erkennung in
der Liebigstraße ein: Die Sichtung habe nach seiner eigenen Aussage
weniger als eine Sekunde gedauert. Wie die Person das Basecap getragen
habe, das er sah, konnte er nicht beschreiben. Ob die Person eine
Brille trug, vermochte er auch nicht zu sagen. Bis zur Festnahme sei er
von einem männlichen Jugendlichen ausgegangen. Die Lichtverhältnisse
seien nach seinen Angaben „schlecht“ gewesen. Weyers merkte an, dass
sie diese nach Inaugenscheinnahme als „miserabel“ bezeichnen würde.
Weyers wendete sich nun dem Geschehen in unmittelbarer Folge der vermeintlichen Erkennungssituation zu: Entgegen der Wortwahl der Staatsanwaltschaft, die Polizeibeamtin Lütz habe Alexandra bis zum Frankfurter Tor „verfolgt“, hatte Lütz lediglich ausgesagt, sie sei zuerst ohne jeden Anhaltspunkt einen von mehreren möglichen Wegen entlang gerannt. Sie habe Alexandra erst am Frankfurter Tor erfasst, wobei sie sich keinesfalls sicher gewesen sei, die richtige Person vor sich zu haben. Erst ihr Kollege, der später hinzu kam, habe das bestätigt. Lütz hatte außerdem zu Protokoll gegeben, dass Alexandra quer über den Platz lief, als sie sie das erste mal sah. Weyers merkte an, dass dies genau darauf hindeuten würde, dass Alexandra von der Frankfurter Allee kam und nicht aus der Liebigstraße, wo der Tatort lag.
Plädoyer der Verteidigung I (Undine Weyers) – polizeiliche Nachbereitung
Die beiden polizeilichen Aussagen, die Schulze im Anschluss an die
Festnahme machte, wiesen weitere Ungereimtheiten auf. So habe Schulze
im Protokoll, welches er noch in der Tatnacht schrieb, nichts davon
erwähnt, dass er in der Liebigstraße ein Gesicht habe erkennen können.
Auch gegenüber seiner Kollegin Lütz habe er dies zu keinem Zeitpunkt
erwähnt. Laut Weyers sei dies äußerst fragwürdig, handele es sich dabei
doch um ein wichtiges Detail. Mit der Sachlage konfrontiert habe
Schulze vor Gericht ausgesagt, dass er sich das auch nicht erklären
könne: „Werd‘ ich wohl vergessen haben“. Dazu, dass im Protokoll der
LKA-Vernehmung durch den Staatsschützer Michalek plötzlich eine
Gesichtserkennung auftauche, habe Schulze vor Gericht ausgesagt, dass
er sich wohl während der Vernehmung wieder habe erinnern können. An der
Vernehmung durch den polizeilichen Staatsschutz sei zudem auffällig,
dass sie keinerlei Rückfragen enthalte, wie sie bei einer
Zeugenbefragung sonst üblich sind. Kriminaloberkommissar Michalek, der
Schulzes Aussage am 3. Prozesstag als „sehr schön“ bezeichnete, habe
ausgesagt, Fragen gestellt zu haben. Damit konfrontiert, dass sich
Schulzes Aussage jedoch wie ein Monolog liest, habe er eingeräumt,
diese nicht aufgeschrieben zu haben und sich an ihren Inhalt nicht mehr
erinnern zu können, erklärte Weyers.
Plädoyer der Verteidigung I (Undine Weyers) – Gefangenenpost und Tatmotiv
Bezugnehmend auf die verlesene Gefangenenpost sagte Weyers „fremde
Leute schreiben für jemanden in U-Haft, den sie nicht kennen.“ Sie
nannte das „sehr schön!“ Die Briefe seinen motivierenden,
hoffnungsvollen Charakters. In diesem Zusammenhang wies sie darauf hin,
welche Belastung es für die Betroffenen darstellt, eingesperrt, in
Untersuchungshaft zu sitzen. In keinem der Texte sei auch nur in
irgendeiner Weise auf Dinge angespielt worden, die in Zusammenhang mit
konkreten Straftaten zu sehen wären. Daher habe die Post keinerlei
Indiziengehalt. Bezüglich der „belastenden“ Unterlagen, die in
Alexandras Wohnung, genauer auf ihrem PC gefunden wurden, erklärte
Weyers: „Jeder hat das Recht, sich Dokumente aus dem Internet herunter
zu laden – auch solche mit linkspolitischem Inhalt!“ Ein
„Gesinnungsstrafrecht“ gebe es nicht. Nach 30 Minuten war Weyers am
Ende ihres Plädoyers angelangt. Weyers beantragte Freispruch, worauf
hin im Zuschauerraum Applaudiert wurde. Der Richter griff nicht ein.
Weyers Kollegin Arndt übernahm das Wort.
Plädoyer der Verteidigung II (Martina Arndt) – Fluchtgefahr contra Ausbildung
Eingangs verlas Arndt eine Erklärung, von Alexandras Ausbildungsstelle,
die dem Kammergericht vorgelegt worden war, als dort vor ca. 4 Monaten
über die Fortdauer ihrer U-Haft entschieden werden sollte. Die
Ausbildungsstätte äußerte sich zu Alexandras Werdegang in der
Ausbildung zur Binnenschiffer_in. Bis dato habe sie dort ein durchweg
positives Leistungsbild abgegeben und sei auf dem besten Weg, die
Ausbildung erfolgreich abzuschließen. Nun gefährde die
Untersuchungshaft aber den Ausbildungserfolg, was die Ausbildungsstelle
sehr bedauere. Sie kritisierte die Untersuchungshaft als
unverhältnismäßig und kündigte an, Alexandra nach Abschluss des
Verfahrens wieder aufnehmen zu wollen, eine Einstellung oder ein
Freispruch vorausgesetzt. Arndt verlas nun eine darauf bezugnehmende
Stellungnahme des Berlin Kammergerichts. Die Kammer erklärte dazu, dass
sie das bestehende Ausbildungsverhältnis nicht als
Fluchthinderungsgrund anerkenne, da angesichts der Haftstrafe, der
Alexandra entgegen zu sehen habe, eh zu erwarten sei, dass sie die
Ausbildung nicht fortsetzen könne.
Plädoyer der Verteidigung II (Martina Arndt) – Fluchtgefahr contra Kaution
Weiter führte Arndt aus, dass dem Kammergericht zum Haftprüfungstermin
auch eine Erklärung vorgelegen habe, in der eine Verwandte Alexandras
versichert hatte, eine Kaution von 15.000€ hinterlegen zu können, um
einen vermeintlichen Fluchtanreiz zu mindern. Trotzdem habe die Kammer
die Aufhebung des Haftbefehls abgelehnt. Als Begründung habe sie die
beschlagnahmte Postkarte mit dem Konterfrei Franz Münteferings
herangezogen. Die Postkarte mit der Formulierung: „[…] Werde dich mit
Parteigeldern freikaufen, dein Franz.“, begründe Zweifel daran, dass
das Kautions-Geld tatsächlich aus Alexandras persönlichem Umfeld komme.
Mit Verweis auf Alexandras linke „Szenezugehörigkeit“ hieß es, das Geld
könne ebenso gut aus der „Linken Szene“ stammen, womit eine
Fluchthemmung durch persönliche Bindung zum Geldwert, nicht gegeben
sei. Die Erklärung aus Alexandras Verwandtschaft wurde kurzerhand
ignoriert.
Arndt verdeutlichte, welche Konsequenz dies für ihre Mandantin hatte: 5 Monate U-Haft in der JVA-Pankow. Mit Ausnahme von 30 Minuten Besuchszeit samt „inhaltlicher Gesprächsüberwachung“, die ihr alle 14 Tage gewährt wurde, habe dies die weitgehende Isolation von ihrer Umwelt bedeutet. Hinzu komme, dass sie ihre Ausbildung abbrechen musste und das Ausbildungsjahr, selbst im Falle eines Freispruchs, wiederholen müsse. Arndt beantrage Freispruch, worauf hin der Zuschauerraum abermals applaudierte.
Plädoyer der Verteidigung II (Martina Arndt) – Manipulation der Hauptverhandlung
Bevor sie zum Ende kam, wollte Arndt noch mit der Staatsanwaltschaft
abrechnen. Sie warf Staatsanwältin Hoffmann vor, wissentlich falsche
Ermittlungsergebnisse in die Hauptverhandlung eingeführt zu haben. Sie
nahm Bezug auf Sachverhalte, welche die Staatsanwältin im Verfahren
angenommen hatte, um Alexandra zu belasten, zu denen es keinerlei
zeugenschaftliche Quellen gab. Die Polizeibeamt_innen Schulze und Lütz
sagten aus, Alexandra sei „ruhigen Schrittes“ gegangen, als sie am
Frankfurter Tor auf sie trafen. Die Staatsanwaltschaft behauptete
hingegen, Alexandra sei „gerannt“. Eine weitere Fiktion der Anklage:
Alexandra habe im Spätkauf versucht, sich zu verstecken. Keine_r der
anwesenden Zeug_innen hatte etwas derartiges behauptet. Auch im Bezug
auf die unklare Täterschaft der „verdächtigen Person“ in der
Liebigstraße hatte die Staatsanwaltschaft nachgeholfen: Obwohl Schluze,
als einziger Zeuge, der die Person für einen Sekundenbruchteil gesehen
haben wollte, nichts Vergleichbares ausgesagt hatte, behauptete die
Anklage, die Person habe sich „augenscheinlich“ von mitgeführten
Grillanzündern entledigt, als sie die Polizeibeamt_innen bemerkte. Der
Vollständigkeit halber erwähnte Arndt auch die Manipulation, die Weyers
bereits aufgefallen war: Es sei es schlicht gelogen, wenn die
Staatsanwaltschaft behaupte, Lütz habe ausgesagt, dass am Tatort nur
nach Grillanzündern, nicht aber nach sonstigen Spuren (z.B.
Handschuhen) gesucht worden sei. Abschließend beklagte Arndt, die
Anklage habe sich durch dieses Vorgehen politischem Druck gebeugt. Das
Gericht unterbrach die Hauptverhandlung, um sich zur Urteilsberatung
zurück zu ziehen.
Urteilsverkündung
Nach 45 Minuten verkündete der Richter Lach einen Freispruch.
Alexandras Schuld sei nicht erwiesen. Eine Verurteilung auf Basis der
Wiedererkennung durch einen einzigen Zeugen halte er generell für ein
„schwieriges Mittel“. Im konkreten Falle ausschlaggebend sei jedoch,
dass Schulze sich an kein einziges Gesichtsmerkmal erinnern konnte.
Außerdem sei fragwürdig, dass er vor Gericht im Widerspruch zu anderen
Zeugenaussagen angegeben hatte, Alexandra habe ihm vor der Festnahme
von sich aus gesagt, sie sei aus der Frankfurter Allee gekommen, ohne
daß er danach gefragt hätte. Auch die Aussage, dass Lütz nach dem
Löschen des Brandes, noch bei ihm im Funkwagen saß, sei
widersprüchlich. Lütz habe entlastend ausgesagt, Alexandra sei quer
über den Platz gelaufen, was tatsächlich darauf deute, dass sie aus
Richtung der Frankfurter Allee gekommen war. Entlastend sei auch
Schulzes Aussage, wonach Alexandra sich während der Verfolgung „nicht
suchend“ umgeschaut habe. Das „Keuchen“, welches die Polizist_innen
nach der Festnahme wahrgenommen haben, sei auch durch Alexandras
Alkoholkonsum zu erklären. Daß Alexandra sich die Papiertüten herunter
gerissen habe, könne zwar als Verdunklungsabsicht gedeutet werden. Es
sei aber so, nach Aussage des Richters, der hier sichtlich nicht
wusste, wie er es ausdrucken sollte: „wie soll ich sagen?“, Alexandra
stamme aus einer „Szene, die stolz darauf ist, mit staatlichen Organen
nicht zusammen zu arbeiten und ihnen das Leben schwer zu machen.“
Entlastend sei außerdem, dass weder an ihren Händen, noch
Kleidungsstücken, noch an den heruntergerissenen Papiertüten Rückstände
eines Brandbeschleunigers festzustellen waren. Zudem entlaste sie die
Aussage der chemischen Gutachterin des LKA, die am 3. Prozesstag
ausgesagt hatte und zu Protokoll gab, dass Trinkalkohol sich schneller
verflüchtigen würde als Brandmittelrückstände. Trinkalkohol habe sie
festgestellt, Brandmittel hingegen nicht. Daß Handschuhe benutzt worden
sein könnten, um eine Brandmittel-Spurenübertragung zu verhindern,
dafür gebe es keine Anhaltspunkte: Die Beamt_innen der 11.
Einsatzhundertschaft, die Tatort und Umgebung nach Spuren abgesucht
hatten, haben nichts gefunden. Das Gericht gehe davon aus, „[Polizei-]
Kräfte machen ihre Arbeit ordentlich.“ Der Besitz von Grillanzündern
sei auch nicht als Hinweis auf Straftaten zu deuten. Dies gelte auch
für Hinweise auf eine linkspolitische Einstellung der Angeklagten.
Alexandra sei daher freizusprechen und habe eine „Haftentschädigung“ zu
erhalten.
Bisherige Berichterstattung:
Alexandra:
4. Prozesstag, Alexandra: Alex freigesprochen! (Kurzmitteilung)
3. Prozesstag, Alexandra (Bericht)
3. Prozesstag, Alexandra: Justiztheater in Berlin (Kurzmitteilung)
2. Prozesstag, Alexandra (Bericht)
1. Prozesstag, Alexandra (Bericht)
1. Prozesstag, Alexandra: Alexandras Anklage schwächelt (Kurzmitteilung)
Christoph:
2. Prozesstag, Christoph (Bericht)
2. Prozesstag, Christoph: Justiztheater in Berlin (Kurzmitteilung)
1. Prozesstag, Christoph (Bericht)
1. Prozesstag Christoph: Christoph ist draußen (Kurzmitteilung)
Der Fall Christoph T. (Hintergründe)