Alte Kameraden

Erstveröffentlicht: 
29.09.2014

Rommels Fahrer, Himmlers Tochter oder Freiwillige der Waffen-SS sind gern gesehene Gäste auf Veteranen-Treffen. Auch mit Nazi-Kriegsverbrechern schmücken sich bis heute Neonazis. Bislang blieben die braunen Massenmörder in Deutschland oft unbehelligt, selbst wenn sie im Ausland rechtskräftig verurteilt wurden. Der Demjanjuk-Prozess sowie ein Urteil aus Karlsruhe könnten den ruhigen Lebensabend der NS-Täter noch stören.

 

Von Anton Maegerle


Das Oberlandesgericht (OLG) Karlsruhe hat Anfang August entschieden, dass 70 Jahre nach einem NS-Massaker in der Toskana gegen einen damaligen SS-Kompanieführer entgegen Entscheidungen anderer Instanzen Anklage erhoben werden kann. Jahrzehnte nach der militärischen Befreiung vom Nationalsozialismus sorgen ehemalige Mörder der Waffen-SS noch immer für bundesweite Schlagzeilen. Fakt ist jedoch, dass viele der einstigen Schergen der SS und des NS-Apparates weithin ungeschoren von bundesdeutschen Gerichten ihren Lebensabend genießen können. Einzelne Unbelehrbare unter ihnen sind sogar weiterhin in rechtsextremen Kreisen aktiv und glorifizieren als Zeugen der Erlebnisgeneration ihr damaliges verbrecherisches Handeln.

 

Am 12. August 1944 hatten Angehörige der 16. Panzergrenadierdivision Reichsführer-SS im toskanischen Bergdorf Sant`Anna di Stazzema ein Massaker an 560 Zivilisten, darunter mehr als 100 Kinder, verübt. Die Opfer, das jüngste war gerade 20 Tage alt, wurden erschossen oder mit Handgranaten getötet. In der Bundesrepublik wurde das Massaker juristisch nie aufgearbeitet. In einer juristischen Wende hat das Oberlandesgericht Karlsruhe (Az. Ws 285/13) am 5. August entschieden, dass gegen den SS-Untersturmführer Gerhard Sommer (Jg. 1921) doch noch Anklage erhoben werden kann und frühere Bescheide damit aufgehoben seien.

 

Das OLG hob mit dem Beschluss Bescheide der Staatsanwaltschaft Stuttgart und der Generalstaatsanwaltschaft Stuttgart auf. Die Staatsanwaltschaft hatte 2012 die Ermittlungen eingestellt, weil den damals noch 17 in der Bundesrepublik lebenden Beschuldigten keine Morde hätten nachgewiesen werden können. Sommer, letzter verbliebener Beschuldigter, sei „hinreichend verdächtig“, an dem Massaker „in strafrechtlich verantwortlicher Weise“ beteiligt gewesen zu sein, so das OLG. Es gebe auch „keine vernünftigen Zweifel“, dass ihm bekannt gewesen sei, dass sich die mörderische Aktion nicht nur gegen Partisanen, sondern auch gegen die Zivilbevölkerung richten sollte. Bereits im Juni 2010 verurteilte ein Militärgericht im italienischen La Spezia Sommer und weitere neun beteiligte frühere SS-Angehörige in Abwesenheit wegen „fortgesetzten Mordes mit besonderer Grausamkeit“ zu lebenslanger Haft. Verbüßt wurden diese Strafen nicht. Sommer lebt in einem Altersheim in Hamburg. Aufgrund der Entscheidung des OLG Karlsruhe kann die Hamburger Staatsanwaltschaft Anklage gegen Sommer erheben.

 

MEISTGESUCHTER KRIEGSVERBRECHER DÄNEMARKS

Auf der achtköpfigen Liste der weltweit meistgesuchten NS-Verbrecher des Simon-Wiesenthal-Center mit Hauptsitz in Los Angelos findet sich der gebürtige Däne Sören Kam (Jg. 1921). Der meistgesuchte Kriegsverbrecher Dänemarks, seit 1956 bundesdeutscher Staatsbürger, lebt seit Jahrzehnten unter seinem richtigen Namen, ordentlich gemeldet im bayrischen Kempten. In Dänemark wurde der ehemalige SS-Obersturmführer und Ritterkreuzträger nach Kriegsende in Abwesenheit wegen Mordes zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Bestraft oder auch nur vor Gericht gestellt wurde er im Freistaat Bayern nie. Zuletzt hat das Oberlandesgericht München im Februar 2007 die Auslieferung von Kam in sein Heimatland abgelehnt.

 

Der Kopenhagener Kam war ab 1937 Mitglied der Jugendorganisation der Dänischen Nationalsozialistischen Arbeiterpartei (NSU). Im April 1940 gehörte Kam zu den ersten 40 Dänen, die sich freiwillig zur Waffen-SS (SS-Nummer 456059) meldeten. 1943 führte er zeitweilig die Schalburg-Schule in Höveltegaard nahe Kopenhagen. Diese Schule gehörte zum Schalburg-Korps, wie die Bezeichnung für die Germanische SS in Dänemark lautete. In dieser Zeit war Kam sowohl an der Gefangennahme von dänischen Juden als auch bei einer sogenannten „Säuberungsaktion“ beteiligt. Die deutschen Besatzer und ihre dänischen Kollaborateure ermordeten bei dieser „Säuberungsaktion“ im Herbst 1943 mindestens 125 Menschen. Eines der Opfer war der Journalist und Widerstandskämpfer Carl Henrik Clemmensen. Clemmensen, während der deutschen Okkupation Reporter der Zeitung „Berlingske Tidende“, war kurz vor seiner Ermordung einem Journalisten von dem Nazi-Blatt „Fadrelandet“ begegnet. Er soll vor dem Kollaborateur ausgespuckt und diesen als Landesverräter beschimpft haben. Daraufhin wurde er am Abend des 30. August 1943 in Lyngby bei Kopenhagen von Kam und zwei weiteren Waffen-SS-Kameraden ermordet.

Der Ablauf der Tat ist genau bekannt. Das Trio hatte das Mordopfer zunächst bis zu dessen Wohnung verfolgt, dann entführt, gequält und schließlich an einem Straßenrand exekutiert. Der Journalist wurde mit acht Schüssen niedergestreckt. Vier der Einschüsse, die bei der Autopsie im Leichnam des Journalisten gefunden wurden, stammten aus Kams Pistole. Einer der beiden Mordkumpane von Kam wurde für seine Tatbeteiligung nach Kriegsende zum Tode verurteilt und 1946 hingerichtet; der dritte Tatbeteiligte tauchte bei Kriegsende unter und ist bis heute verschwunden. Nach seinem Einsatz in Dänemark wütete Kam als Kompanieführer des 1. Bataillons des SS-Panzer-Grenadierregimentes „Germania“ in der 5.SS-Panzerdivision „Wiking” an der Ostfront. In einer Beurteilung aus jener Zeit heißt es über Kam: „Eine ausgesprochene Führerpersönlichkeit, trotz des jugendlichen Alters reife und gefestigte Lebensgrundsätze. er weiß, was er will. Klar und offen in seiner Haltung. … Körperlich sehr groß, schlank, bestechendes nordisch bestimmtes Erscheinungsbild.“

Die Entscheidung des OLG München vom Februar 2007, Kam nicht nach Dänemark auszuliefern, sei „ein weiterer Fall von unangebrachtem Wohlwollen der deutschen Justiz für einen verachtenswerten Nazi-Kollaborateur“, sagte Efraim Zuroff, der Direktor des Simon-Wiesenthal-Centers in Jerusalem. Die deutsche Justiz habe „alles in ihrer Macht stehende unternommen, ihn seiner gerechten Strafe zu entziehen“. Das OLG München hatte den Auslieferungsantrag des dänischen Justizministeriums mit den Worten abgelehnt, dass Totschlag nach deutschem Recht verjährt sei. Für Mord gebe es keinen hinreichenden Tatverdacht, so das Gericht. Gegen die Entscheidung sei kein Rechtsmittel zulässig. Ein erstes, mehrere Jahre dauerndes Ermittlungsverfahren gegen Kam war im April 1971 aus Beweisgründen eingestellt worden.


HIMMLER-TOCHTER BEI VETERANEN-TREFFEN

Dass der in Vergessenheit geratene Kam nach mehr als zwei Jahrzehnten erneut ins Blickfeld der Justiz und erstmals ins Visier der Öffentlichkeit geriet, hat sich der SS-Mann selbst zuzuschreiben. Seine Leidenschaft, Treffen mit Ewiggestrigen zu besuchen, riss ihn aus seiner bayerischen Heimeligkeit. Im Oktober 1995 nahm Kam, geschmückt mit dem im Februar 1945 verliehenen Ritterkreuzes des Eisernen Kreuzes, an der “Ulrichsberg-Gedenkfeier” bei Klagenfurt in Österreich teil. Bei der Feier zu Ehren gefallener Soldaten des Zweiten Weltkrieges marschieren alljährlich ehemalige Wehrmachtssoldaten, SS-Veteranen, Burschenschafter und Neonazis aus der ganzen Welt auf. Aus der Bundesrepublik sind regelmäßig Angehörige der “Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit ehemaliger Angehöriger der Waffen-SS”, des “Kameradenwerkes Korps Steiner”, der “Ordensgemeinschaft der Ritterkreuzträger” und der “Kameradschaft Freikorps Oberland” zugegen. Am Rande dieser Veranstaltung im Oktober 1995 fand in Krumpendorf am Wörthersee ein von der österreichischen SS-Veteranenorganisation “Kameradschaft IV” veranstalteter “Europaabend” statt. Festredner war der damalige FPÖ-Vorsitzende Jörg Haider. In seiner Rede führte Haider aus: „Dass es in dieser regen Zeit, wo es noch anständige Menschen gibt, die einen Charakter haben und die auch bei größtem Gegenwind zu ihrer Überzeugung stehen und ihrer Überzeugung bis heute treu geblieben sind. [...] Wir geben Geld für Terroristen, für gewalttätige Zeitungen, für arbeitsscheues Gesindel, und wir haben kein Geld für anständige Menschen.“ Logiert wurde wie in den Jahren zuvor im „Hotel Rosenheim“. Vor Ort war auch Gudrun Burwitz, die Tochter von Reichsführer-SS Heinrich Himmler. Zu diesem Zeitpunkt wirkte Burwitz als Grand Dame für die „Stille Hilfe für Kriegsgefangene und Internierte”, eine Gefangenenhilfsorganisation für Nazis und NS-Kriegsverbrecher. Filmaufnahmen dieses Treffens gelangten an die Öffentlichkeit und Kam wurde von dänischen Journalisten erkannt. Diese suchten Kam in seinem Reihenhausbungalow in Kempten auf. Kam erzählte ihnen, dass er CSU-Stammwähler und früher Verkaufsleiter einer bayerischen Brauerei gewesen sei.

Im Jahr 2000 verfasste Kam das Geleitwort für das beim rechtsextremen Munin-Verlag erschienene Buch “Europas Freiwillige der Waffen-SS”. In dem Buch werden in „beeindruckender Genauigkeit“ die „persönlichen und militärischen Lebensläufe“ der „europäischen Freiwilligen anhand originalen Quellenmaterials recherchiert und in spannenden und gut lesbaren Einzelbiographien wiedergegeben“, so die Verlagswerbung. Kam beendet seinen Beitrag mit den Worten: “Wir sind davon überzeugt, dass unser Kampf für ein freies Europa eines Tages seine gerechte Würdigung findet.”

Im baden-württembergischen Göppingen-Bartenbach wohnt Wilhelm Langsam. Der Veteran des Deutschen Afrikakorps spricht bis heute in rechtsextremen Kreisen „über seine bewegte Zeit in Nordafrika“. Einen seiner jüngsten Referatsaufritte hatte Langsam am 15. März 2014 bei der „Identitären Bewegung“ im schwäbischen Ellwangen (Regierungsbezirk Stuttgart). Vor Ort hatten sich 90 Personen, darunter auch Gäste aus der Schweiz, eingefunden. Am Ende des zweistündigen Vortrags dankte das Publikum dem Ewiggestrigen „mit kräftigem Applaus“ für den „unverfälschten Einblick in diese bewegte Zeit“, so ein Szene-Bericht. Über einen Diavortrag von Langsam war auf der Homepage des NPD-Kreisverbandes Heilbronn (Regierungsbezirk Stuttgart) zu lesen: „In einem konservativ und christlich geprägten bäuerlichen Elternhaus in der Nähe von Cottbus aufgewachsen, imponierte ihm die durch den Nationalsozialismus entstandene Ordnung und Solidargemeinschaft. … Er meldet sich freiwillig zur Waffen-SS. … Er bedauerte zutiefst, dass sein Vaterland Deutschland, diesen ihm aufgezwungenen Kriege, gegen eine ungeheure Übermacht, letztlich verlieren musste. … Nach langem Bemühen konnte er mit den Verantwortlichen der NPD Kontakt aufnehmen. Seine bisherigen Eindrücke vom politischen Wollen dieser Partei und dies, auch und gerade, im Zusammenhang mit der Entwicklung unseres Volkes und Staates, ließen ihn jetzt zu der Erkenntnis kommen, dass seine Lebensmaximen und die der NPD im wesentlichen Deckungsgleich sind.“ (Fehler im Original). Seinen Vortrag beendete Langsam mit den Worten: „Ich bin einer von Euch“.


ROMMELS FAHRER BEI NEONAZIS

Unter konspirativen Umständen fand am 11. Mai 2013 in Sachsen ein von Neonazis veranstalteter sogenannter „Zeitzeugenvortrag“ statt. Geladen neben dem Dauerreferenten Langsam war Rudolf Schneider aus dem sächsischen Stauchitz (Landkreis Meißen). Schneider war als 19-jähriger Obergefreiter Fahrer des Generalfeldmarschalls Erwin Rommel. Für die Sprengung eines britischen Munitionslagers wurde der heute 91-Jährige mit dem Eisernen Kreuz 1. Klasse, der dritthöchsten Auszeichnung für Wehrmachtssoldaten, ausgezeichnet. Dem 2013 erschienenen Buch „Als Flaksoldat beim Afrikakorps: Von Thüringen nach Tobruk“ steuerte Schneider ein Geleitwort bei. Unbeirrt von der Realität vertritt die Schneider die Auffassung: „Wir haben nicht gewusst, dass die in Berlin Verbrecher waren. Das lastet man uns heute noch an, und das ist nicht in Ordnung.“

 

Gern gesehener Gast in rechtsextremen Kreisen ist auch der Waffen-SS-Freiwillige Kurt Barckhausen (Jg. 1923) aus dem hessischen Kassel. Der einstige SS-Untersturmführer der 3. SS-Division Totenkopf Barckhausen war Redner bei einer Veranstaltung des Kreisverbandes Hamm der Neonazi-Partei Die Rechte am 30. November 2013. In einem Szene-Bericht heißt es über seinen Auftritt vor den nordrhein-westfälischen Neonazis: „Barckhausen erwähnte nachdrücklich, dass er seinen Eid, den er als Soldat geschworen hat, bis heute nicht gebrochen hat, was vom Publikum mit lebhaftem Applaus und stehenden Ovationen nach Beendigung seines Vortrages beantwortet wurde.“

Im Dezember 2013 wurde der im schwäbischen Aalen lebende gebürtige Litauer Hans Lipschis (Jg. 1919; Geburtsname: Antanas Lipsys) vom Landgericht Ellwangen wegen Demenz nach siebenmonatiger Haft aus der Untersuchungshaft entlassen. Er muss sich nicht vor Gericht verantworten. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart hatte Lipschis vorgeworfen, zwischen 1941 und 1943 in zwölf Fällen zum heimtückischen und grausam begangenen Mord an 10510 Menschen Hilfe geleistet zu haben. Der einstige KZ-Wachmann im Vernichtungslager Auschwitz tat wahrscheinlich auch Dienst an der berüchtigten Rampe des Lagers. Lipschis von Beruf Bäcker, will in Auschwitz jedoch lediglich „als Koch“ die SS-Wachmannschaften bekocht haben. Von der industriell betriebenen Massenvernichtung von Menschen will er nur gehört haben. Gesehen habe er nichts, behauptete er vor Jahren gegenüber den Medien. Der SS-Rottenführer, der der 6.SS-Totenkopf-Kompanie angehörte, war Anfang der 1980er Jahre aus den USA ausgewiesen worden. In Auschwitz, dem größten Vernichtungslager der Nazis, starben 1,1 Millionen Menschen. Fast keiner der Täter wurde bestraft. 8.200 SS-Angehörige waren in Auschwitz Teil der Mord-Maschinerie; 6.500 von ihnen überlebten den Krieg. Bis zum Sommer 2014 wurden von diesen Tätern nicht einmal 50 vor deutsche Gerichte gestellt. 29 SS-Leute wurden in der alten und neuen Bundesrepublik verurteilt. Rund 20 in der DDR.

2013 stellte die Staatsanwaltschaft Halle die Ermittlungen gegen Johannes Adam (Jg. 1923) wegen des Verdachts der mehrfachen Beihilfe zum Mord in seiner Zeit als SS-Rottenführer in Auschwitz, vorrangig im Außenlager Monowitz, ein. Adam sei weder vernehmungs- noch verhandlungsfähig, hieß es. Adam war von 1978 bis 1982 Vorsitzender der Gesellschaft für physikalische und mathematische Biologie bei der Akademie der Wissenschaften der DDR. 1988 beendete er seine Universitätslaufbahn.


UNBESCHWERTER LEBENSABEND FÜR NS-MASSENMÖRDER

Vor einem bundesdeutschen Gericht musste sich auch nie der einstige SS-Standartenführer Martin Sandberger (Jg. 1911) verantworten. Der Chefexekutor der Endlösung in Estland hatte seinen Lebensabend unbeschwert bis zu seinem Tod im März 2010 in einem luxuriösen christlichen Stuttgarter Seniorenstift genießen können. Sandberger, Chef der Einsatzgruppe A, war verantwortlich für die komplette Auslöschung der estnischen Juden. Beim Nürnberger Einsatzgruppen-Prozeß wurde Sandberger im April 1948 als Kriegsverbrecher zum Tode verurteilt. Das Urteil wurde im Januar 1951 zu einer lebenslangen Haftstrafe umgewandelt und später aufgehoben. 1958 wurde Sandberger, für den sich viel Prominenz, unter anderem Bundespräsident Theodor Heuss (FDP) eingesetzt hatte, in die Freiheit und seine Versorgungsansprüche entlassen.

KZ-Wachmann in Auschwitz war neben Lipschis unter anderem der am 23. Juli in den USA im Alter von 89 Jahren verstorbene Johann Breyer (89). Im August wollte ein US-Gericht über den in Untersuchungshaft einsitzenden Breyer entscheiden. Die Auslieferung in die Bundesrepublik galt als wahrscheinlich. Die bundesdeutsche Justiz hatte 2012 ein Ermittlungsverfahren gegen Breyer eingeleitet. Breyer wurde im Zusammenhang mit der Ermordung von Hunderttausenden Juden in Auschwitz und Buchenwald gesucht. Die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen warf ihm „einen wesentlichen Tatbeitrag“ bei der Tötung von mindestens 344.000 Menschen vor. Allein zwischen dem 19. Mai und 22. Juli 1944 seien in Auschwitz-Birkenau 137 Züge mit mehr als 433.000 ungarischen Juden eingetroffen, die größtenteils sofort umgebracht worden sind. Ein Prozess gegen Breyer wäre seit fast 40 Jahren wieder der erste Kriegsverbrecherprozess gegen einen ehemaligen Wachmann aus dem größten NS-Vernichtungslager gewesen.

Das Urteil des Landgerichts II München gegen John Demjanjuk im Mai 2011 hat die Sichtweise der Justiz auf KZ-Aufseher verändert. Demjanjuk, der Wachmann im Lager Sobibor war, konnte kein konkreter Mord nachgewiesen werden. Der SS-Scherge wurde wegen Beihilfe zum Mord an 28.060 Menschen zu fünf Jahren Haft verurteilt. Es war das erste Mal seit den 1960er Jahren, dass in der Bundesrepublik ein NS-Helfer verurteilt wurde, dem keine konkrete Tat zugeschrieben werden konnte. Das Gericht sah es aber als erwiesen werden, dass Demjanjuk „Teil der Vernichtungsmaschinerie“ in Sobibor gewesen war. Damit war ein Präzedenzfall geschaffen. Die Zentrale Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg weitete daraufhin ihre Ermittlungen aus. Anfang April 2013 gab die Zentrale Stelle bekannt, dass sie nicht mehr nur die Kommandeure und leitenden Funktionäre der NS-Vernichtungsmaschinerie im Visier habe. Auch die niederen Dienstgrade wie Aufseher sollen jetzt vor Gericht gestellt werden. „Die pure Anwesenheit genügt, dazu gehört etwa auch der Dienst auf den Wachtürmen“, sagte der Leiter der Zentralen Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg, Kurt Schrimm. Bereits in den 1960er Jahren hatte es vereinzelte Urteile gegen Wachleute von Vernichtungslagern gegeben. So wurde 1966 Alfred Ittner, SS-Oberscharführer, für seine Verwaltungstätigkeit als Buchhalter in Sobibor zu vier Jahren Gefängnis verurteilt – wegen Beihilfe zum Mord an mindestens 68.000 Menschen. Der Bundesgerichtshof (BGH) bestätigte das Urteil. Der Nachweis von Einzeltaten sei demnach nicht notwendig.

Im März wurde der einstige SS-Oberscharführer in Auschwitz, Ernst-Hubert Zafke (Jg. 1920), in die Untersuchungshaft im mecklenburg-vorpommerschen Justizvollzugsanstalt (JVA) Bützow überstellt. Der zwischenzeitlich wieder auf freiem Fuß befindende Zafke soll in Auschwitz den Massenmord unterstützt haben. Kurz nach der Inhaftierung von Zafke berichtete das Neonazi-Internetportal „Altermedia“ über den Fall und appellierte an die Nachwuchs-Kameraden: „Er wird sich über Solidaritätsbekundungen sicher freuen.“ Verteidiger von Zafke ist Peter-Michael Diestel, letzter Innenminister der DDR.

An der Mordaktion im französischen Oradour soll der damals 19-jährige Kölner Werner Christukat beteiligt gewesen sein. Die Dortmunder Staatsanwaltschaft hat Anklage gegen den einstigen MG-Schützen erhoben. Am 10. Juni 1944 fiel die 3. Kompanie des 1. Bataillons des SS-Panzergrenadier-Regiments 4 „Der Führer“ ins südwestfranzösische Oradour-sur-Glane ein. Sie äscherten Oradour sprichwörtlich ein. Laut Anklage wurden 181 Männer, 254 Frauen und 207 Kinder ermordet. Ein Baby war gerade eine Woche alt. Oradour war eines der schlimmsten Massaker der Waffen-SS in Westeuropa. Christukat will nicht geschossen haben.


LETZTER NOCH LEBENDER IN DEN NIEDERLANDEN GEBORENE NS-VERBRECHER AUF DEUTSCHEM BODEN

Von seiner Vergangenheit wurde am 21. September der in der Hansestadt Breckerfeld im nordwestlichen Sauerland wohnhafte ehemalige niederländische SS-Unterscharführer Siert Bruins alias Siegfried Bruns (Jg. 1921) eingeholt. An diesem Tag jährte sich der 70. Jahrestag der Ermordung des 37-jährigen niederländischen Widerstandskämpfers Aldert Klaas Dijkema. Der heutige Deutsche Bruins soll gemeinsam mit einem bereits nicht mehr lebenden Mittäter als Angehöriger einer Polizeieinheit im niederländischen Delfzijl (Provinz Groningen) Dijkema am 21. September 1944 erschossen haben. Das Opfer wurde auf der „Flucht“ von hinten erschosssen, die Hände noch in den Taschen. Zu diesem Zeitpunkt waren die Alliierten bereits auf dem Vormarsch in den Niederlande.

In den Niederlanden ist Bruins wegen seiner Brutalität bei der Bekämpfung des örtlichen Widerstands als „Henker von Appingedam“ bekannt. So war er nach seinem Einsatz an der Ostfront beim Sicherheitsdienst (SD) in der Hafenstadt Delfzijl bei Appingedam tätig und jagte untergetauchte Juden. Wegen Beihilfe zum Mord an zwei niederländischen Juden in Delfzijl sass er später fünf Jahre Haft ab. Der Waffen-SS-Freiwillige flüchtete kurz vor der Befreiung der Niederlande nach Deutschland. Ein niederländisches Gericht verurteilte ihn 1949 in Abwesenheit zum Tod, das Urteil wurde später in lebenslänglich umgewandelt. Am 8. Januar 2014 hat das Landgericht Hagen entschieden, das Verfahren gegen Bruins einzustellen. Das Gericht sah sich außerstande nachzuweisen, dass das Mordmerkmal der Heimtücke vorhanden war. Nur Totschlag war nachweisbar. Und der ist -wie im Fall Sören Kam- verjährt. Obwohl das Gericht bestätigte, dass Bruins am Tatort war und geschossen hat, konnte der Täter unbestraft das Gericht verlassen. Bruins dürfte der letzte noch lebende in den Niederlanden geborene NS-Verbrecher auf deutschem Boden sein.


SS-LITERATUR

SS-apologetische Literatur ist beim rechtsextremen Verlagsimperium der Lesen & Schenken GmbH des norddeutschen Verlegers Dietmar Munier (Jg. 1954) haufenweise zu erwerben. Der Verlagskomplex bietet Bücher an wie „Mit der Leibstandarte am Feind“, „Die Ritterkreuzträger der Waffen-SS“, „Die Hölle von Kursk. SS-Grenadiere 1943 im Kampf“, „Im letzten Aufgebot 1944-1945. Die 18.SS-Freiwilligen-Panzergrenadier-Division Horst Wessel“, „Scharfschützen in der Waffen-SS“ und „SS-Kavallerie im Osten. Vom 1.SS-Totenkopf-Reiterregiment zur SS-Reiter-Brigade Fegelein“. Im Angebot führt die in Schleswig-Holstein beheimatete Mediengruppe „Lesen & Schenken“ mit Sitz in Martensrade (Kreis Plön) auch die im dritten Jahrgang erscheinende Waffen-SS-treue Zweimonatszeitschrift „Deutsche Militärzeitschrift – Zeitgeschichte“. Den Abonnenten der Zeitschrift wurde im September der DMZ-Farbbildkalender „Männer der Waffen-SS 2015“ zugeschickt. Der Kalender zeigt „13 Männer dieser verfemten Truppe unverfälscht“, so das Schreiben an die „verehrten Leser von DMZ-Zeitgeschichte“. Einer dieser „Männer der Waffen-SS“ ist Sören Kam. Nach Angaben des Norddeutschen Rundfunks (NDR) erwirtschaftete das Munier-Unternehmen allein im Jahr 2010 rund drei Millionen Euro.

In einer der jüngsten Ausgaben von „DMZ Zeitgeschichte“ findet sich ein Interview mit dem emeritierten Professor der Bundeswehrhochschule München, Franz Seidler (Jg. 1933). Ganz im Sinne des Fragestellers schwadroniert der seit Jahren in rechtsextremen Zusammenhängen aktive Seidler von der „angeblichen“ Grausamkeit der Waffen-SS. Auf die Frage „Wie erging es den Angehörigen der Waffen-SS in den Kriegsgefangenenlagern nach der Kapitulation der Wehrmacht?“, antwortet Seidler: „Angehörige der Einheiten, denen man Kriegsverbrechen unterstellte, und Waffen-SS-Soldaten, die einmal Dienst in einem KZ getan hatten, wurden besonders befragt, manchmal unter Zuhilfenahme falscher Zeugen und manchmal unter Anwendung von Folter.“