ND: Vier Jahre Gefängnis und eine Geldstrafe von 400 000 Euro wollte der Staatsanwalt Ihnen und Ihrem Kapitän
Stefan Schmidt »drüberziehen«, weil sie mit der »Cap Anamur« im
Mittelmeer Menschenleben gerettet haben. Der Richter entschied anders:
Freispruch! Was empfinden Sie?
Bierdel: Fünf Jahre hat man uns durch ein Schandverfahren gezogen. Mit
Lügen und Verleumdungen. Wenn man nun von uns ablässt, dann ist das
kein Grund zum Jubeln. Zudem – und das ist noch wichtiger: Das Sterben
geht weiter. Europa beschreitet weiter diesen verhängnisvollen Irrweg
und schickt Flüchtlingen Kriegsschiffe entgegen. Heute Nacht sind hier
vor der Küste sieben Menschen ertrunken.
Mit dem Verfahren gegen Sie und Ihre Crew wollte man deutlich machen, dass Humanität strafbar sein kann ...
Und unser Urteil ist auch noch nicht rechtskräftig. Die Kammer muss es
jetzt innerhalb von 90 Tagen begründen. Danach hat die
Staatsanwaltschaft 45 Tage Zeit, sich zu überlegen, ob sie in Revision
geht.
Die Politik ist also noch lange nicht fertig mit Ihnen?
Natürlich freuen sich jetzt so viele Unterstützer, die uns zur Seite
standen, die – auch das sage ich so klar – uns bisweilen getröstet
haben. Doch ich kann nicht anders, als immer wieder zu sagen: Wir haben
allen Grund, uns auseinanderzusetzen mit dem, was hier draußen
geschieht. Hier zeigt sich ein Europa, von wir uns hätten nicht träumen
lassen, dass es so existieren kann.
Sie sind vom »Neuen Deutschland«, also wissen Sie, was ich meine. Ich bin unmittelbar an der Mauer aufgewachsen. Im Westen von Westberlin, in Staaken. Die Mauer war 50 Meter vor meinem Elternhaus. Und ich kann nicht anders, als zu sagen: Die Schandmauer ist nicht weg. Sie steht nur woanders. Wie kann es denn sein, dass unsere Gesellschaften es heute für normal halten wollen, dass da draußen im Mittelmeer Tausende verschwinden? Umkommen, einfach so. Damit werde ich mich niemals abfinden!
Menschenrechte sind nicht teilbar, hieß es im sogenannten freien Europa als die Mauer noch stand.
Richtig. Und deshalb sollten sich viele Politiker, Journalisten,
Juristen und Beamte fragen, wie es um ihre Verantwortung bestellt ist.
Wir mussten uns verleumden lassen und wenn ich nachlese, was vor fünf
Jahren verbreitet worden ist, dann ist das auch für viele Medien eine
Schande.
Also wenig Grund, sich zu freuen, nicht einmal am heutigen Tag.
Ist es aber dennoch ein kleiner Sieg gegen den politischen Trend von
Unmenschlichkeit?
Wir sprachen gerade über Schande. Ich würde den Staatsanwalt gerne fragen, ob er sich jetzt wenigstens schämt.
Eine Frage, die man auch an Minister und Regierungen weitergeben sollte?
Ja. Der damalige deutsche Innenminister Otto Schily hat uns in jeder
Weise öffentlich verunglimpft. Er hat – während wir hier auf Sizilien
im Gefängnis saßen – Interviews gegeben, in denen er sagte, er sei
dagegen, dass wir aus dem Gefängnis kommen. Am 17. Juli 2004 haben er
und sein italienischer Amtskollege bei einer Innenministerkonferenz in
Sheffield gesagt, es gehen im Fall der »Cap Anamur« darum, einen
gefährlichen Präzedenzfall zu verhindern.
Das ist letztlich nicht gelungen.
Ich will es hoffen. Doch noch einmal: Hier vor der Küste Italiens sterben täglich Menschen.
Gespräch: René Heilig