Gewalt gegen Immigranten in Marokko hält an

Erstveröffentlicht: 
04.09.2014

Flüchtlinge aus in Tanger und Rabat müssen um ihr Leben bangen

Tanger/Madrid – In der nordmarokkanischen Küstenstadt Tanger herrscht Pogromstimmung. Seit Wochen greifen im Stadtteil Boukhalef immer wieder mit Macheten, Knüppeln und Steinen bewaffnete Marokkaner schwarzafrikanische Immigranten an. Ende vergangener Woche wurde der Senegalese Charles Alphonse Ndour von einem Mob getötet, indem ihm mit einem Messer die Halsschlagader durchtrennt wurde. Ein weiterer Flüchtling von der Elfenbeinküste, Kante Adama, erlag nach schweren Hieben mit einer Machte auf den Kopf im Krankenhaus seinen Verletzungen. Mehrere Wohnungen wurden geplündert und die Habseligkeiten der Flüchtlinge auf der Straße verbrannt.

 

Schwere Vorwürfe gegen Polizei

 

Die Polizei blieb weitgehend untätig. Anders in den Tagen darauf. Am Samstag löste die Polizei eine Demonstration von Flüchtlingen im Stadtzentrum von Tanger gewaltsam auf. Und am Sonntag wurden nach einer Demonstration in der marokkanischen Hauptstadt Rabat – Dutzende Schwarzafrikaner waren vor die Botschaften ihrer Heimatländer gezogen – mindestens 35 Flüchtlinge verhaftet. 27 dieser Menschen sollen, so Berichte von marokkanischen Menschenrechtlern und von Betroffenen selbst, umgehend abgeschoben werden. Mittlerweile soll der Chef der Sondereinsatzkommandos abgesetzt worden sein.

Marokkanische Menschenrechtler und die in Boukhalef lebende spanische Migrationsforscherin Helena Maleno werfen den Behörden vor, die Übergriffe zu lange geduldet zu haben; sie hätten das Ziel gehabt, Tanger von Schwarzafrikanern zu säubern.
Die Lage in Boukhalef ist angespannt, seit im Dezember 2013 ein Flüchtling auf ungeklärte Weise durch einen Sturz aus dem vierten Stock getötet wurde. Maleno wurde am 15. August selbst Ziel von Aggressionen. Als „spanische Hure“ beschimpfte sie ihren Angaben zufolge ein schwerbewaffneter Mob, begrapschte sie und schubste sie herum.

 

Keine spontanen Aktionen

 

„Die Immigranten halfen mir“, berichtete sie später. „Sie riefen ‚Scheiß-Christen‘, sie lassen den ‚Heiligen Krieg‘ hochleben und fordern die Immigranten auf, doch einfach ‚ins Wasser zu gehen‘“, erinnert sich die Frau, die unter anderem mit Women’s Link Worldwide, Save the Children und der NGO Walking Borders zusammenarbeitet. „Es sind keine spontanen Aktionen“, sagt Maleno. Es handle sich um „rassistische, ultra-islamistische Gruppen“.

Alleine in Boukhalef warten über 1000 Flüchtlinge auf eine Gelegenheit nach Europa zu kommen – im ganzen Land sollen es 30.000 sein. Die Regierung in Rabat beschloss vor wenigen Monaten eine Legalisierungsaktion. 16.000 sollen sich gemeldet haben, aber nur 3000 wurde eine Aufenthaltsgenehmigung zugesprochen.

Marokko nutzt die Flüchtlingsfrage immer wieder, um Spanien und die EU unter Druck zu setzen. So gelangten in der ersten Augusthälfte in nur 48 Stunden 1300 Flüchtlinge an Spaniens Küste. Maleno berichtete damals, dass die Polizei von den Stränden abgezogen und dies den Flüchtlingen mitgeteilt wurde. Wenige Tage später wurde sie attackiert. (Reiner Wandler, DER STANDARD, 5.9.2014)