Der lange Abschied vom Proletariat

Erstveröffentlicht: 
16.07.2014

Wir gehen nirgendwo hin, die Geschichte erzeugt keinen Sinn. Von ihr ist nichts zu erhoffen, auch ist ihr nichts zu opfern.“ André Gorz

 André Gorz war ein undogmatischer Intellektueller, der in seinem Denken unabhängig blieb. Warum vollendete gerade er den Abschied vom Proletariat?

 

Der Verlust des außertheoretischen Wahrheitsanspruchs

 

Das kurze 20. Jahrhundert ist der zeitliche Rahmen der Wirkungsgeschichte der kritischen Theorie. Ich schreibe „kritisch“ bewusst klein, denn ich meine damit nicht nur die Frankfurter Schule, sondern einen theoretischen Zusammenhang undogmatischer Marxisten, zu denen ich Personen wie André Gorz oder Wolfgang Abendroth genauso zähle wie Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Walter Benjamin und Herbert Marcuse oder Karl Korsch, Georg Lukács und Ernst Bloch, aber auch Jean-Paul Sartre und Albert Camus. Ihnen allen ist etwas gemein, das sie als „westliche Marxisten“ klassifiziert.4 Doch Perry Andersons Bewertung des westlichen Marxismus, der den Weg der Akademisierung der marxschen Theorie gegangen sei und die Praxis aus den Augen verloren habe – im Gegensatz zur Orthodoxie in Osteuropa vor allem der ersten und zweiten Generation nach Marx (Karl Kautsky, Rosa Luxemburg, Wladimir I. Lenin, Leo Trotzki),

5 scheint mir nicht bis zum Ende durchdacht zu sein.

 

 

Es ist für den westlichen Marxismus kennzeichnend, dass er den Marxismus auf undogmatische Weise gegen den Marxismus-Leninismus zu erneuern sucht. Daher hat sich im Westen nicht der Gedanke von der wirklichen Praxis verabschiedet, sondern umgekehrt: Die praktische Wirklichkeit hat sich von der Theorie entfernt. Für die Wirkmacht eines Gedankens genügt es nicht, dass er zur Wirklichkeit drängt. Die Zeit muss für einen solchen Gedanken reif sein, das heißt, die Wirklichkeit muss, wie Marx sagt, auch zum Gedanken drängen; erst dann kann dieser die Wirklichkeit verändern.6 Westliche Marxisten haben eine fortdauernde Krise des Marxismus reflektiert und dafür zunehmend die akademischen Räume genutzt, weil zunächst nicht viel Platz für eine marxistische Praxis blieb. André Gorz ist in diesem Zusammenhang allerdings eine Ausnahme: Er hält sich vom akademisierten Betrieb fern und übt fundamentale Kritik am universitären Soziologismus.7 Auch wenn seine Sprache wie bei allen Marxisten ohne Vorkenntnisse nicht leicht zugänglich ist, bemüht er sich in der Begriffsbildung um allgemeine Verständlichkeit; er sucht die politischen Akteure in sozialen Bewegungen auf und setzt sich von außen mit ihrer Thematik auseinander, seien es die Gewerkschaften, die Ökologie- oder die Freie Softwarebewegung. Durch seine gezielten intellektuellen Interventionen schafft er Zusammenhänge und wird anknüpfungsfähig: „Als Intellektueller sieht er seine Aufgabe darin“, schreibt André Häger, „die reflexive Selbsterkenntnis emanzipatorisch wirkender Subjekte zu unterstützen. Er versucht, ihre Bestrebungen zu erkennen, zu verstehen, zu übersetzen und verfasst leidenschaftliche Depeschen in der Hoffnung, dass sie als dringende Nachrichten die Subjekte erreichen und ihre gemeinsamen Bestrebungen erkennen lassen.“8

Die Krise des Marxismus war umfassend und langwierig, vielleicht sogar bis auf wenige Phasen des Auflebens von Widerstand während des gesamten kurzen Jahrhunderts permanent, aber sie verändert im Laufe der Jahrzehnte ihre Gestalt, sie unterliegt dem gesellschaftlichen und sozioökonomischen Strukturwandel, so dass die westlichen Marxisten auf diese Krise unterschiedliche Analysen folgen lassen und Lösungen reflektieren, weil die Krise zwar allgemein, aber an unterschiedlichen Orten verschieden verläuft. Trotz der Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigkeit geht es aber in der gesamten Zeit und an allen Orten um dieselbe Krise des Marxismus, die sich als Verlust des außertheoretischen Wahrheitsanspruchs bezeichnen lässt.

 

Was ist mit diesem Verlust genau gemeint? Marx‘ „Thesen über Feuerbach“, insbesondere die zweite und elfte These, koppeln die Interpretation der Welt und die Veränderung der Welt als Wahrheitskriterium aneinander.9 Diese Einheit aus Theorie und Praxis ist für den Marxismus konstitutiv. Sie lässt sich nach keiner Seite hin auflösen, etwa als Umschlag von der Theorie zur Praxis – wie bereits Engels die elfte Feuerbach-These möglicherweise missverstanden hat, da er ihr ein „Aber“ hinzufügte, als er sie aus Marx‘ Notizbuch ins Reine übertrug.10 Es handelt sich nämlich um eine dialektische Einheit, das heißt in der Theorie ist die Praxis bereits als Pol enthalten, wie auch die Praxis nicht ohne Theorie zu denken ist, gleichsam nicht zustande kommt. Weder leitet die Theorie die Praxis wie ein Aufseher den Arbeiter an, noch muss sich die Theorie der Praxis beugen, weil sie sich nützlich zu machen hat. Theorie und Praxis konstituieren sich vielmehr gegenseitig: Die Theorie macht es erst möglich, dass ein Handeln zur bewussten, reflektierten Tat werden kann, aber sie ist dabei bereits auf Erfahrungen des Handelns angewiesen, auf Erfolge wie Niederlagen. Auf diese Weise dient Theorie der Praxis zur Orientierung;  dies unter dem Diktum, dass die Theorie sich in der Praxis als wahr zu erweisen habe, wie es in der zweiten Feuerbach-These heißt. Mit anderen Worten, die Theorie besitzt ein außertheoretisches Wahrheitsmoment; ihre Aussagen müssen in der empirischen Wirklichkeit verifiziert werden.

 

Die empirische Wirklichkeit, in der die Theorie durch Praxis aufgehoben wird, ist das politische Feld, nicht das berufspolitisch reduzierte Feld, sondern viel umfassender das der Gegenwart und der Geschichte, das heißt der sich im stetigen Wandel befindenden antagonistischen Gesellschaft. In den politischen und ökonomischen (Klassen-) Kämpfen hat sich die Theorie als wahr zu erweisen, hat die Praxis der Theorie zur Wahrheit zu verhelfen. Damit diese Einheit lebendig ist, müssen für die Theorie wie für die Praxis Räume zur Verfügung stehen, in denen sie sich entfalten können, ohne als statische Einheit zu existieren, so als sei die Theorie in der Praxis bereits aufgehoben und diese immer schon von der Theorie gesättigt, ohne je sich entfaltet zu haben. Wenn diese Räume nicht gegeben sind, erzwingt die gern bemühte Sachzwanglogik der Realpolitik einen Vorrang der Praxis, der in jeder theoretischen Situation hypostasiert wird und die Theorie zum Praxiskatalog verdinglicht. Wenn es aber richtig ist, dass man erst denken und dann handeln sollte, muss sich gegen den blinden Praktizismus der Vorrang einer praktischen Theorie behaupten.

 

Die Theoriearbeit benötigt sowohl die Nähe wie auch die Distanz zur Betriebsamkeit, um einerseits von außen auf das Handgemenge schauen zu können, um andererseits konkrete – nicht abstrakte – und realitätsgesättigte Erkenntnisse zu liefern. Wir wissen von Hegel, dass Abstraktionen, die in der Wirklichkeit geltend gemacht werden, die Wirklichkeit nicht verändern, sondern zerstören. Aber auf die Veränderung, nicht nur auf die abstrakte Interpretation der Welt, die vom Gesamtzusammenhang isoliert ist, kommt es gemäß der elften Feuerbach-These an. Andernfalls, wenn kein politisches Subjekt imstande ist, die Welt gemäß den Interpretationen zu verändern, würde es zu einem „Philosophischwerden der Welt im Buch“11 kommen, wie Bloch es ausdrückt, und was den Abstraktionsgrad der Interpretation nur noch erhöht, so dass sie der Praxis keine Orientierung bieten kann. – Dies alles meint den Verlust des außertheoretischen Wahrheitsanspruchs, der die Krise als gestörte Einheit aus Theorie und Praxis ausmacht.

 

Der Verlust hängt zusammen mit einer Theorie, die es der Praxis offenbar schwer macht, sie aufzuheben und umzusetzen. Das politische Subjekt, welches auserkoren ist, die Welt zu verändern, ist offenbar auch nicht imstande, seine geschichtliche Aufgabe zu erfüllen. Man muss auf beiden Seiten nach den Gründen fragen. Ist die geschichtliche Aufgabe vielleicht überhöht? Jedenfalls ist die Krise nicht bloß eine Krise des Marxismus im Sinne einer Theoriekrise, sondern zugleich auch eine Krise des politischen Subjekts, das heißt zunächst einmal der Arbeiterbewegung und später der Neuen Sozialen Bewegungen, wie Gorz festhält.12

Die Krise ist vielleicht praktisch, organisatorisch oder spontan zu lösen. Aber solange sie nicht praktisch gelöst wird, ist darauf theoretisch als Problem der geschichtsphilosophischen Implikationen zu reflektieren, die jedes politische Subjekt möglicherweise notwendig darin überfordern, die Not zu wenden. Daher fragt Gorz: „Wer oder was wird die Veränderung bewirken? Das ist die fundamentale Frage, die die gegenwärtige Krise des Marxismus aufwirft.“13 Und: „Weil das Proletariat nicht revolutionär ist, gebietet es sich, zu prüfen, ob es dies noch werden könne, und warum man so lange zu glauben vermocht hatte, dass es dies bereits sei.“14 Warum konnte bisher kein politisches Subjekt der kritischen Theorie in der außertheoretischen Wirklichkeit zur Wahrheit verhelfen?

 

Das Abarbeiten an Hegel

  

Es ist bemerkenswert, dass sämtliche westlichen Marxisten – auch Gorz –, die mit der Lösung der Krise des Marxismus beschäftigt sind, sich auf Hegel, genauer: auf dessen Geschichtsphilosophie und Dialektik, konzentrieren. Seine Philosophie erscheint als der Dreh- und Angelpunkt in der Krisenbewältigung. Dieses Abarbeiten an Hegel hat oft den Charakter einer Verstrickung, es geschieht nicht immer gegen ihn, sondern immer wieder auch mit ihm, zu ihm zurück und über ihn hinaus. Die neuralgischen Stellen, an denen die Hebel im Sinne einer lebendigen Dialektik zwischen Theorie und Praxis angesetzt werden, um die kapitalistische Welt aus den Angeln zu heben, werden entlang seiner geschichtsphilosophischen Begriffe verortet: der Teleologie und des Weltgeistes der Geschichte, der identitätslogischen Dialektik, der Sittlichkeit, Anerkennung in der Herr-Knecht-Beziehung, dem absoluten Denken. Besonders intensiv ist diese Phase der Auseinandersetzung mit Hegel zu Beginn der 1920er Jahre, während der Zeit nach der gescheiterten Zweiten Internationalen bis zur Formierung der Komintern. In dieser Zeitspanne nach dem Ersten Weltkrieg entsteht in Europa eine revolutionäre Phase, die von einer undogmatischen Suchbewegung marxistischer Intellektueller begleitet wird.15

Alles, was über das Bestehende hinausgehen und es transzendieren soll, benötigt ein politisches Subjekt. Denn es ist nur so viel Sinn in der Geschichte, wie von Menschen in sie in politischen Auseinandersetzungen hineingelegt wird. Obwohl Hegel bereits die politischen Ökonomien von Adam Smith und David Ricardo rezipiert und in Ländern wie England oder Frankreich Ansätze einer sich herausbildenden Arbeiterklasse beobachten kann, ist es ihm noch nicht möglich, in diesem Phänomen ein geschichtliches Subjekt zu erkennen, das auf die historische Bühne tritt und über den bürgerlichen Staat und die bürgerliche Wirtschaftsweise hinausweisen könnte. Das vermag mit geringfügiger zeitlicher Versetztheit erst der junge Marx, der die idealistische Geschichtsphilosophie Hegels materialistisch wendet, – wenn auch nicht konsequent genug. An den Resten idealistischer Metaphysik arbeiten sich seit den 1920er Jahren, als sich abzeichnete, dass die proletarische Weltrevolution im Westen scheitern und in der Konsequenz von Russland ausgehend sich der Marxismus zu einer Legitimationswissenschaft verdinglichen würde, undogmatische marxistische Intellektuelle ab. Der orthodoxe Sowjetmarxismus entfernt Hegel aus dem historischen Materialismus. Diese Verkürzung ist „Dialektischer Materialismus“ (Diamat) genannt worden. In der westlichen Sozialdemokratie wiederum sind die Reste hegelscher Teleologie in der marxschen Theorie dafür mitverantwortlich, dass sich die organisierte Arbeiterbewegung am evolutiven Reformismus von Eduard Bernstein und Karl Kautsky orientiert und die Revolution in passiver Erwartungshaltung gegenüber einer gleichsam automatisch vor sich gehenden, stetigen Verbesserung der proletarischen Lebensverhältnisse aus den Augen verliert.

 

Marx und Engels haben im „Kommunistischen Manifest“ das industrielle Proletariat als politisches Subjekt der Geschichte bestimmt. Es soll der Totengräber der bürgerlichen Gesellschaft sein. Die Idee, dass etwas mit der geschichtsphilosophischen Begriffsbestimmung dieser Subjektkonstruktion nicht stimmt, wird in Gorz‘ linkem politischen Diskurs exemplarisch deutlich. Die Arbeiterautonomie, die Marx im polytechnischen Facharbeiter- und Industrieproletariat zu erkennen glaubt und die, so Gorz, die „materielle Basis für die Fähigkeit zur Selbstbefreiung und Selbstverwaltung der Proletarier“16 darstellt, ist nur eine geschichtliche Episode gewesen. Sie erweist sich aber im Übergang zu fordistischen Produktionsverhältnissen, in denen der polytechnische Arbeiter durch den arbeitsteilig organisierten Arbeiter im Fordismus abgelöst wird, welcher den Produktionsprozess nicht mehr zu durchschauen vermag, als politisch-ökonomisch verfehlt. Der polytechnische Facharbeiter ist nur eine Episode in der politischen Ökonomie der Arbeitskraft gewesen. Mit der fordistischen Produktionsweise sowie der darauf folgenden Zergliederung der Arbeitsschritte, Taylorismus, Informatisierung und Automatisierung verschwindet die materielle Basis für ein revolutionäres Subjekt wieder. Für die Erforschung der Bedingungen der Möglichkeit eines politischen Subjektes der Befreiung bedarf es ganz wesentlich also einer politischen Ökonomie der Arbeitskraft, um nachzuvollziehen, wie irreversibel jener Prozess ist, der zum Verlust des Befreiungsvermögens geführt hat. Denn es wäre konsequent gewesen zu erkennen, dass für die soziale Revolution nur ein schmales Zeitfenster existierte: „Über alle Erwartungen hinaus ist es dem Kapital gelungen, den Einfluss der Arbeiter auf die Produktion zu brechen. Es hat es verstanden, die gigantische Expansion des Produktionspotentials mit der Zerstörung der Arbeiterautonomie zu kombinieren. Eine zunehmend komplexere und mächtigere Maschinerie wurde der Aufmerksamkeit von Arbeitern mit immer engeren Fähigkeiten anvertraut. Das Kapital hat erreicht, dass diejenigen, die riesige Maschinen beherrschen, ihrerseits in der und durch die Herrschaftsarbeit beherrscht werden.“17

In den 1920er und 1930er Jahren und auch noch in der Nachkriegszeit halten westliche Marxisten am Theorem des Industrieproletariats als geschichtlichem Subjekt der Emanzipation fest und richten ihren Blick zunächst auf die in der marxschen Theorie vorhandenen Reste von Geschichtsphilosophie, insbesondere auf die teleologischen Aspekte. Gerade weil die proletarische Revolution in den fortgeschrittenen Ländern des Kapitalismus ausblieb, entfernt Horkheimer das Telos aus dem Geschichtsbegriff, bzw. verlegt es in die Geschichtswissenschaft.18 Damit wird die Geschichtswissenschaft explizit zu einer politischen Gegenwartsdisziplin. Geschichte ist nicht deckungsgleich mit Historie; sie spielt sich nicht in der Vergangenheit, sondern in der Gegenwart ab. Diesen Gedanken hat explizit Benjamin dann sehr stark in den Vordergrund gestellt.19 Aber Geschichte ist bei Hegel und Marx in Differenz zu einem Alltagsverständnis und dem Verständnis der konservativen Geschichtswissenschaft, z.B. des Historismus, tatsächlich nur das, was real und wirkmächtig die Aufhebung der Widersprüche, also das Fortschreiten der Freiheit zu realisieren vermag. Darum sagt Bloch auch: Geschichte wiederholt sich nicht – weil die aufgehobenen Widersprüche mit einer neuen Qualität und Quantität mit neuen Widersprüchen konfrontiert werden. Nur das, was nicht zur Geschichte wurde (die gescheiterten oder niedergeschlagenen Kämpfe, die geschichtlich hätten werden können), wiederhole sich durchaus. Weil die Not und das Leiden, die den Kampf motiviert haben, fortexistieren, werden sie sich an kämpfende Generationen „weitervererben“, die jedes Mal aufs Neue den Kampf versuchen.

 

Die Potentialität des Industrieproletariats als politisches Subjekt, das mit dem geschichtlichen Auftrag versehen ist, die Revolution zu machen, wird von Horkheimer letztlich nicht angezweifelt. Es müsse allerdings untersucht werden, warum das Proletariat subjektiv nicht in der Lage gewesen sei, die Befreiung zu vollziehen, obwohl es objektiv alle Möglichkeiten dazu gehabt habe. Im Zuge des heraufziehenden Faschismus in Europa richtet Horkheimer also programmatisch den Fokus auf das Problem der ideologischen Verzerrung des Klassenbewusstseins und einer das „Bewusstsein verfälschenden Triebmotorik“20, mithin auf die Frage, warum dieses Proletariat, statt die Gesellschaft zu revolutionieren, seinen Henkern den Weg zur Macht ebnete. Horkheimer hat in den 1930er Jahren eine Erneuerung der marxschen Theorie vorgenommen, indem er sie mit der Psychoanalyse als „Hilfswissenschaft der Geschichte“ konfrontiert. Dieser Paradigmenwechsel, der die kritische Theorie wesentlich begründet, ist bereits ein kleiner Abschied vom Proletariat, auf den noch mehrere kleine oder größere Abschiede folgen, bevor Gorz schließlich den radikalsten, weil konsequentesten Abschied unternimmt. Retrospektiv erscheint diese lange und wellenartige Phase des Abschieds wie ein Abschied avant la lettre oder wie eine Latenzperiode, in der die Mühseligkeit des Nachvollziehens der gesellschaftlichen Dynamik mit schmerzhaften Einsichten, die die Begriffsbildung erschweren, verbunden ist. Doch mit Gorz kommen dann endlich der Begriff und die Kühnheit, das Begriffene auszusprechen, zu sich selbst. Horkheimers „Abschied“ implizierte zunächst „nur“, dass das Subjekt der Arbeiterklasse nicht Herr im „eigenen“ Haus geworden ist. Mit einer ähnlichen „narzisstischen“ Kränkung traf zuvor die Psychoanalyse bereits das bürgerliche, sich als autonom imaginierende und vom „Ich“ repräsentierte Individuum. Horkheimers „Abschied“ implizierte also „nur“, dass die Arbeiterbewegung nicht mehr der unmittelbare Adressat der programmatischen Theoriearbeit, sondern zum Gegenstand der kritischen Forschung wird: „Die Ursachen der Fehlschläge und ihre Konsequenzen für eine verändernde, emanzipatorische Praxis selbst noch gesellschaftstheoretisch zu begreifen und auf diese Weise der marxschen Theorie eine zeitgemäße Form zu geben, war, auf die knappste Formel gebracht, ihr Programm.“21

 

Die „grimmige Scherzfrage“ nach dem Proletariat

  

Mit dem Sieg des Faschismus und Stalinismus in Europa in den dreißiger und vierziger Jahren hat die alte Arbeiterbewegung ihr Ende gefunden; sie wurde zerschlagen oder verstaatlicht. In Deutschland, wo die organisierte Arbeiterbewegung einmal die stärkste und größte der Welt war, hat der Nationalsozialismus das Proletariat „gleichgeschaltet“. Nach 1945 werden die Gewerkschaften zwar reorganisiert, aber die Arbeiterbewegung kann sich von der Zerschlagung nicht wieder erholen, weil viele erfahrene Aktivisten: Sozialdemokraten, Anarchisten, Sozialisten und Kommunisten in den Konzentrationslagern von den Nazis ermordet wurden. Die Gewerkschaftsbewegung der Nachkriegszeit ist eine nichtrevolutionäre Rekonstruktion, die die Erfahrung der Gleichschaltung und die von Auschwitz (als systematische, moderne Barriere des geschichtlichen Fortschritts) konstitutiv in sich aufnimmt. Durch den Kalten Krieg und den Antikommunismus ist sie in ihrer Vorstellungskraft gehemmt und durch das „Wirtschaftswunder“ in ihren Bedürfnissen und Möglichkeiten korrumpiert. Dennoch befürchten die herrschenden Eliten in der Bundesrepublik durchaus noch bis weit in die sechziger Jahre hinein, dass die Gewerkschaften systemsprengende Kräfte entfachen könnten, so dass gerade diese Angst die Notstandsgesetzgebung motiviert,22 um außergesetzliche Mittel zur Niederschlagung einer revolutionären Arbeiterbewegung legal einzusetzen.

 

Auch in anderen Ländern sind Brüche zu konstatieren. Die Gewerkschaften genauso wie die sozialdemokratisierten Parteien verlieren in der fordistisch-keynesianistischen Prosperitätsphase der Nachkriegszeit den Ausblick auf den demokratischen Sozialismus. Es ist das „sozialdemokratische Jahrhundert“, von dem Ralf Dahrendorf meint, dass es Ende der siebziger Jahre zu Ende gegangen ist,23 zu sich selbst gekommen. Die Phase des wachsenden Wohlfahrts- und Sozialstaats bricht heran und damit verbunden ein verbreiteter Glaube an die Immanenz: an die Möglichkeiten, den Kapitalismus zu bändigen, zumindest zu fesseln und mit einem menschlichen Antlitz versehen zu können. Die Gewerkschaften kämpfen in diesen Jahrzehnten der Prosperität vorrangig für mehr Lohn und weniger Arbeitszeit.

Der Blick der kritischen Gesellschaftstheorie wurde in diesem Kontext daher auf die Gründe fehlenden Klassenbewusstseins gerichtet. Ist die subalterne Klasse saturiert? Verschwindet sie? Das Klassenbewusstsein modifiziert sich während dieser Prosperitätsphase des westdeutschen, als „Rheinischer Kapitalismus“ bezeichneten integralen Etatismus, der auf Basis fordistischer Massenproduktion und keynesianistischer Subventionierung der Kaufkraft industriellen Massenkonsum möglich macht. Inzwischen haben die Arbeiter weit mehr zu verlieren als ihre Ketten, wie es noch im „Kommunistischen Manifest“ heißt.24 Sie haben auch materielle Güter wie einen Volkswagen, einen Kühlschrank, ein Eigenheim und ihren Jahresurlaub an der Adria, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, eine Arbeitslosenversicherung auf Lebenszeit, eine Kranken-, Renten- und Lebensversicherung zu verlieren, von ihrem rechtlichen Status ganz abgesehen.

Marcuse stellt bereits 1947 in den „33 Thesen zur militärischen Niederlage des Hitlerfaschismus“ fest, dass der integrale Etatismus Mechanismen in Gang setzt, die aus dem Proletariat einen integrierten, das Bestehende affirmierenden Bestandteil machen.25 Die außerhalb des linken Diskurses schon lange umstrittene Verelendungsthese, die bereits Bernstein attackiert hatte, wird nun ad acta gelegt. Marcuse verhandelt diese Transformation unter dem Stichwort der „Verbürgerlichung“ des Proletariats.26 Weil sich seine materielle Lage im Kapitalismus quantitativ verbessere, verliere das Proletariat seine Funktion der Negativität („Totengräber“), das heißt es komme ihm der Charakter der absoluten Negation des Kapitalismus abhanden. Der Verlust des transzendierenden Klassenbewusstseins müsse als objektive Veränderung der Klassengesellschaft verstanden werden.

 

In einem Aphorismus aus den „Minima Moralia“, den er als „Vexierbild“ betitelt, fragt Adorno gleichsam mit ironischem Unterton: „Wo ist das Proletariat?“ Mit dieser „grimmigen Scherzfrage“27 sähen sich die Soziologen in der Nachkriegszeit konfrontiert. „Warum trotz der zur Oligarchie vorgetriebenen historischen Entwicklung die Arbeiter immer weniger wissen, dass sie es sind, lässt sich immerhin aus manchen Beobachtungen erraten.“28 Zu einem späteren Zeitpunkt beantwortet Adorno die Frage ausführlicher: „Wenn es wirklich so ist, dass, einem Schwellenwert nach, diejenigen, die objektiv als Proletarier definiert sind, nicht mehr ein solches Bewusstsein haben und dass sie sogar ein solches Bewusstsein emphatisch von sich weisen, so dass also schließlich kein Proletarier […] mehr sich selbst als Proletarier weiß, dann bekommt trotz dieser Objektivität die Verwendung des traditionellen Klassenbegriffs sehr leicht ein dogmatisches oder ein fetischistisches Element […].“29 Die Vorlesung zur „Einleitung in die Soziologie“, aus der diese Sätze stammen, hat Adorno 1968 gehalten. Es ist eine Zeit, in der seine Schüler – allen voran sein vielleicht bester Doktorand Hans-Jürgen Krahl – in Konfrontation zu ihm gehen. Insbesondere Krahl hält an einem Proletariat fest, das sich von selbst aber gar nicht emanzipieren will, das aus sich heraus keinen Willen artikuliert. Jenes dogmatische und fetischistische Moment, das Adorno erkennt, ohne die noch anstehende K-Gruppen-Dogmatisierung als Zerfallsprodukt von 1968 miterleben zu können,30 zeigt umso mehr den Ernst der Lage. Die Achtundsechziger suchen für ihre „Revolution“ ein theoretisch legitimiertes Subjekt. Diese Rechtfertigung erwarten seine Schüler von Adorno, der sich aber im Gegensatz zu Marcuse verweigert.31 Adorno hat eine tiefe Skepsis gegenüber Massen entwickelt, die auf die Erfahrung der Mobilisierungen im Nationalsozialismus und Faschismus zurückgeht, während Marcuse als ehemaliger Aktivist in der Rätebewegung positive Erfahrungen mit proletarischen Massen machte. Zugleich formuliert Adorno eine radikale Kritik an Realpolitik, die im Grunde den Charakter einer Antipolitik annimmt.32 Beides entfremdet ihn zunehmend von der Praxis der Studentenrevolte, obwohl ihr seine Sympathien gelten und wenngleich er im Kampf gegen die Notstandsgesetze in die Praxis der außerparlamentarischen Opposition zusammen mit Wolfgang Abendroth involviert ist. Aber Adorno ist praktisch in vielerlei Hinsicht;33 seine Praxis ist die Theorie und die Tätigkeit des eingreifenden Intellektuellen: die Organisation eines hegemonialen Diskurses durch Kritik.34 Dass Adornos Schüler in der Phase zunehmenden Hyperaktivismus ausgerechnet das Frankfurter Institut für Sozialforschung besetzen und sich direkt gegen ihn wenden, setzt ihm schwer zu.35 Er liefert in seinen „Marginalien zu Theorie und Praxis“ eine kritische Psychologie des Anti-Autoritären, die bereits auf die des K-Gruppen-Dogmatikers als deren Vorschein verweist: Der Anti-Autoritäre ist ein negativer autoritärer Charakter, der in der pseudoaktiven Zerfallsphase repressiver Praxis zu rotieren beginnt. Der Umschlag vom Anti-Autoritären zum K-Gruppen-Dogmatiker aus Enttäuschung an der Theorie ist nur die Rückverwandlung der Negativität in Positivität: Negation der Negation am Autoritären. Daher gehen die Pseudoaktiven so nahtlos im Maoismus auf.36 Krahl behält in der direkten Auseinandersetzung mit Adorno über dessen vermeintliche Praxisabstinenz das letzte Wort.37

 

Das Verschwinden der bürgerlichen Gesellschaft

  

Was von Adorno und Marcuse in Bezug auf eine revolutionäre Praxis seit längerem neben der Verbürgerlichung und Integration des Proletariats problematisiert wird, ist das Verschwinden der bürgerlichen Gesellschaft. Bei Marcuse verschwindet die bürgerliche Klasse zusammen mit dem Proletariat in der eindimensionalen Gesellschaft, deren herrschaftliche Barrieren und integrativen Mechanismen eine Revolution undenkbar erscheinen lassen. Detlev Claussen arbeitet diesen Zusammenhang bei Marcuse und Adorno heraus. Aus dem Verschwinden der bürgerlichen Gesellschaft leite sich die Unmöglichkeit der Revolution ab: „Der entfaltete Kapitalismus, so lautet ihre These, scheint die Revolution durch die totale Vergesellschaftung von Menschen und Dingen unmöglich zu machen. Es geht in Adornos Worten um die `Verhinderung der Revolution durch die totale Gesellschaft´.“38 Das Primat der Politik ist durch die infinitesimale Inwertsetzung seitens der Ökonomie, die zudem im Neoliberalismus ihren politischen und sozialen Charakter sukzessive abstreift, herabgesetzt worden.

 

Gorz stimmt in der Sache mit der Analyse Adornos zum Verschwinden der bürgerlichen Gesellschaft und insbesondere mit Marcuses Theorem zur Eindimensionalität überein. Wenngleich Marcuse eigentlich von einer „Tendenz“ spricht,39 die in den nächsten Jahren und Jahrzehnten stetig zunehmen werde, kritisiert Gorz die vermeintliche Absolutheit und Totalität der Eindimensionalität mit Sartres existentialistischem Diktum, dass Entfremdung und Verdinglichung nicht total sein können. Der Mensch gehe niemals in Identität, auch nicht in einer entfremdeten, auf. Aus existentialistischer Sicht ist der Mensch zur Freiheit verurteilt. Der Mensch verkörpert Nicht-Identität, mit Sartre gesprochen: „Mangel an Sein“40. Daher versteht Gorz das Subjekt quasi als „Entzugsfigur“ (Häger), weil es sich „gegenüber den gesellschaftlichen Zugriffen als immun erweist, sich diesen gleichsam entzieht und so die Möglichkeit der Kritik eröffnet. Das Subjekt […] ist das im menschlichen Individuum nicht zu Ende Sozialisierbare, ein nicht vergesellschaftbarer Rest und allein dadurch fähig, ein anderes Zusammenleben möglich werden zu lassen.“41 – Das Subjekt als ein untilgbarer Rest an Nicht-Identität, der sich der Verdinglichung entzieht und sich gegenüber Entfremdung als rebellisches Potential resistent erweist: als Keim einer immer wieder reproduzierbaren Subjektivität in Gestalt von Widerstand gegen Entfremdung und Unterwerfung, das heißt gegen äußerliche Identifizierung. – Adornos „Negative Dialektik“ ist davon überhaupt nicht weit entfernt: Kritische Subjektivität als Nicht-Identisches, das im Begriff oder in der Herrschaft nicht aufgeht, erweist sich im Subjekt – vor allem in der Kunst – als das Potential,42 das Subjektivität aus sich heraus aufzuerstehen vermag, als Impuls der Atmung gegen das soziale Absterben des Individuums in der Verdinglichung, als Aufbegehren gegen die identitätslogische Objektifizierung. Die weitergehende Frage bei Marcuse und Adorno lautet: Ob nicht mit dem „stahlharten Gehäuse der Hörigkeit“ (Max Weber) trotz des Innervierens des Subjekts am Rande seines Verstummens der Schritt zur emanzipatorischen Organisation von Subjekten verstellt ist.

 

Zwar beginnt Adorno die „Negative Dialektik“ mit dem Satz, dass die marxsche Philosophie, die einmal überholt schien, sich am Leben erhalte, weil der Zeitpunkt ihrer Verwirklichung verpasst wurde.43 Aber dieses Fortleben der Philosophie, die die Aktualität der Kritischen Theorie in Gestalt der negativen Dialektik begründen soll, muss mit dem Verlust des außertheoretischen Wahrheitsanspruches umgehen,  mit dem Verschwinden des Proletariats und allgemeiner mit dem Verschwinden der bürgerlichen Gesellschaft.

Der Verlust des politischen Emanzipationssubjekts hinterlässt freilich eine Leerstelle, die Geschichte mindestens auf der Stelle treten lässt, wenn nicht zu ihrem vorzeitigen Ende führt. Adorno begleitet diesen Verlust in Anlehnung an Benjamins „Engel der Geschichte“ mit einem Negativwerden des Geschichtsbegriffs.44 Es ist ohnehin nur so viel Sinn in der Geschichte, wie von Menschen in gegenwärtigen Kämpfen in sie hineingelegt wird. Es sei festzustellen, dass die Geschichte nicht zu mehr Freiheit, sondern „von der Steinschleuder zur Megabombe“45 geführt habe; sie stehe unter den Vorzeichen der Katastrophe.

 

In jeder Revolution vollzieht sich ein Formwandel der Herrschaft des Gleichen. Die herrschaftliche Hermetik nimmt dabei zu: die Techniken der Repression verfeinern und effektivieren sich, werden unüberwindbar. Der Zusammenhang zwischen Theorie und Revolution ist spätestens mit Auschwitz zerfallen.46 Kritiker spotten, die Kritische Theorie sei melancholisch geworden und könne sich von einer gewissen Auschwitzfixiertheit nicht lösen (Habermas).47 Tatsächlich gibt es für Adorno und Marcuse unter den Verhältnissen des integralen Etatismus und der total verwalteten Welt keine Möglichkeiten der Revolution mehr.

 

Das Proletariat als reale Fiktion

  

Adornos Sich-Entfernen von der Praxis, das mit dem Verschwinden des Proletariats einhergeht, ist begründet auch anhand seiner Ablehnung der für ihn ideologischen Identitätskonstruktion,48 die sich vor allem auf großkollektive politische Subjekte (Klasse, Nation, Volk etc.) beziehen lässt. Hier kommt Adorno in abstrakter philosophischer Form Gorz‘ Analyse des Proletariats als metaphysische Identitätskonstruktion beträchtlich nahe.49 Das Proletariat kann nur Subjekt sein, wenn jedes einzelne Mitglied der Klasse selbst als Subjekt auftritt; Völker, Klassen, Nationen können keine Subjekte sein. Mit Benedict Anderson lassen sich großkollektive Subjekte gleichermaßen als „imagined communities“50 begreifen, deren Zusammenhalt durch Autorität gewährleistet wird. Jedes großkollektive Subjekt lässt sich zudem mit Hilfe von Lukács Verdinglichungstheorem aus „Geschichte und Klassenbewusstsein“51 als metaphysische, abstrakte und verabsolutierte Konstruktion verstehen, als Hypostasierung, Inthronisierung und Apotheose eines Scheins, der, um reale Wirkmacht zu erhalten, verdinglicht und dann autoritär definiert und dirigiert werden muss. Insofern führt die „grimmige Scherzfrage“ (A­dorno), wo das Proletariat geblieben ist, entweder zurück in den Marxismus-Leninismus (Diamat als verdinglichte Dialektik, autoritärer Avantgardismus, Partei neuen Typs und Partei als der Träger der Wahrheit)52, indem er eine absolute Abstraktion in der Wirklichkeit geltend macht – die insofern religiösen oder ersatzreligiösen Charakter aufweist (auf diesen Zusammenhang kommt auch Gorz zu sprechen). – Oder sie führt in den Abschied von der dirigierbaren oder handelnden Klasse und zur Erneuerung des undogmatischen Marxismus, indem dieser sich auf die Suche nach einem oder mehreren zeitgemäßen politischen Subjekten macht, die dem Anspruch auf selbstbestimmtes Handeln gerecht werden können.

 

Gorz ist der radikale Ent-täuscher und Dekonstrukteur der marxistischen Revolutionstheorie, die auf dem Proletariat als geschichtlichem Subjekt der Befreiung beruht. Horkheimer, Adorno und Marcuse haben zuvor schrittweise die materialistische Geschichtsphilosophie umgestellt, ergänzt und in Teilen verworfen; sie haben schleichende Abschiede vom Proletariat vorgenommen, die mit historischen Brüchen wie dem Faschismus, Nationalsozialismus, vor allem mit Auschwitz, aber auch mit dem New Deal, mit Fordismus und Nachkriegskeynesianismus zu tun haben. Sie haben das Abstraktwerden des Proletariats vom An-und-für-sich zum An-sich nachvollzogen und ihre Konsequenzen aus dem Verlust dieses außertheoretischen Wahrheitsanspruchs gezogen.

 

Die Tatsache, dass das Proletariat seine von der Theorie zugewiesene geschichtliche Aufgabe nicht zu erfüllen vermochte, lässt sich geschichtswissenschaftlich rekonstruieren. Gorz geht deutlich darüber hinaus. Er weist nach, dass das Proletariat schon immer eine Fiktion gewesen ist, die zu einem bestimmten Zeitpunkt reale Gestalt annehmen konnte. Er kritisiert die außerempirische geschichtsmetaphysische und religiöse Konstruktion des Proletariatsbegriffs: „Die [proletarische; MH] Klasse als Einheit ist das imaginäre Subjekt, das die Wiederaneignung des Systems vornimmt und gewährleistet; aber dieses Subjekt ist jedem Individuum, allen wirklichen Proletariern äußerlich und transzendent.“53 Und: „Dieses Subjekt, das selbstverständlich Führer und Monarchen beflügelt, hat die gleiche Struktur wie Gott.“54

Der Abschied vom Proletariat bei Gorz ist mithin ein Abschied von einer metaphysisch-religiösen Fiktion, die vielleicht Benjamin noch am ehesten gespürt hat, da er dem Proletariat die Rolle eines verweltlichten Messias zutraute. Wie soll aber dieser Messias die Menschheit befreien? Über die Organisationsfrage (wer vertritt diesen weltlichen Messias, wer lässt ihn sprechen, wer legt die Richtung seiner Bewegung fest?) schleicht sich notwendig ein Autoritarismus ein: Der proletarische Messias setzt sich zusammen wie Hobbes‘ Leviathan, das heißt wie ein organischer Apparat, der einer militärischen Führung bedarf, damit seine losen Gliedmaßen nicht auseinanderfallen.55 Ein Einzelsubjekt kann für sich selbst sprechen und handeln, ein Kollektiv aus lauter Subjekten nicht. So besehen steckt also in der Religion der proletarischen Befreiung nicht nur die Diktatur des Proletariats, sondern bereits das Diktat über das Proletariat: der Messias als Phantom seiner Stellvertreter auf Erden, die sich als Zentralkomitee Autorität verschaffen. Zum Marxismus-Leninismus gibt es offenbar allerhöchstens eine Light-Alternative, gleichsam einen gemäßigten Autoritarismus, wie er von realdemokratischen Parteien und Gewerkschaften praktiziert wird. Beide Varianten des Autoritarismus sind allerdings inakzeptabel, weil sie emanzipatorischen Idealen der herrschaftsfreien Willensbildung und Entscheidungsfindung nicht standhalten. Das Problem ist nur, dass wir uns mit der Light-Alternative, die verfassungsrechtlich legitimiert ist, arrangieren müssen.

 

Für seine radikale Verabschiedung des Proletariats ist Gorz von marxistischen Linken heftig gescholten worden. Diese Kritik, so hätte man annehmen können, komme von bestimmten linken Gruppen, deren Urteilsvermögen massiv durch eine dogmatische Einstellung getrübt ist: den Erben Lenins, Stalins, Maos und Pol Pots, die das Phantom gerne dirigieren wollen. Anfang 1980, als Gorz seinen „Abschied“ veröffentlicht, ist die Protestrevolte von 1968 verpufft. Die italienische Autonomiabewegung erlebte 1977 ihren Wendepunkt an der Frage der Gewalt. Es kommt zu keinen nennenswerten Erfolgen der Gewerkschaftsbewegung mehr in Europa. In linken, numerisch nicht unbedeutenden Kreisen grassiert zudem seit den siebziger Jahren ein K-Gruppen-Dogmatismus – ein Zerfallsprodukt von 1968 und eine heute nur schwer nachvollziehbare Farce der geistig-politischen Verirrung sowie der Selbstzerstörung der Vernunft.56

Wenn Gorz behauptet, dass die marxsche Theorie des Proletariats „weder auf einer empirischen Untersuchung der Klassengegensätze noch auf einer Kampferfahrung der proletarischen Radikalität“57 beruht und dass „eine empirische Nachprüfung seiner Theorie nicht möglich ist“58, dann richtet sich diese Übertreibung gegen den K-Gruppen-Dogmatismus. Natürlich gab und gibt es empirische Untersuchungen über die Entstehung des Proletariats und der Arbeiterbewegung.59 Gorz aber wendet sich gegen die Quasi-Religiosität der Dogmatiker, für die empirische Prüfungen unerheblich sind, und gegen den Prophetismus hinsichtlich der Revolutionserwartung: „Orthodoxie, Dogmatismus, Religiosität sind [.] keine zufälligen Phänomene des Marxismus. Sie gehören notwendig zu einer Philosophie hegelscher Struktur (auch wenn diese ‚berichtigt‘ wurde), deren Prophetismus keine andere Grundlage hat als die den Geist des Propheten erleuchtende Offenbarung. Tatsächlich sucht man vergeblich nach einer Begründung der marxistischen Theorie des Proletariats. Alles, was ihre Verteidiger anbieten, ist Marxens Werk und Lenins Wort, das heißt die Autorität der Gründer. Die Philosophie des Proletariats ist religiös.“60

 

Die Gewerkschaften als „reaktionäre Kraft“

  

Der westliche Marxismus sah sich über Jahrzehnte hinweg damit konfrontiert, dass sich im Kapitalismus innere Widersprüche zwar immer wieder zuspitzen, aber dennoch die Klassengegensätze sich nicht derart fortentwickeln, wie es aus Marx‘ Theorie über die Entwicklung der Produktivkräfte zu entnehmen wäre. Gorz stellt 1980 fest: „Im Laufe der letzten zwanzig Jahre zerriss das Band zwischen der Entwicklung der Produktivkräfte und der Entwicklung der Klassengegensätze, und zwar nicht deshalb, weil die inneren Widersprüche des Kapitalismus sich nicht offenbart hätten – nie zuvor waren sie ähnlich offenkundig wie heute. Niemals zuvor hat der Kapitalismus sich so wenig fähig gezeigt, die von ihm hervorgerufenen Probleme zu lösen. Aber diese Unfähigkeit ist ihm nicht tödlich. Er hat die kaum analysierte und nur unzulänglich begriffene Kraft erworben, die Nichtlösung seiner Probleme zu beherrschen; er versteht es durchaus, sein mangelhaftes Funktionieren zu überleben, ja, er schöpft daraus sogar neue Impulse.“61

Auch wenn Gorz im Proletariat keine den Kapitalismus überwindende Kraft erkennen kann, setzt er sich weiter mit den Gewerkschaften auseinander. Er kritisiert sie dafür, dass sie in der Krise der Arbeitsgesellschaft zunehmend eine privilegierte Arbeiter- und Angestelltenklasse vertreten und für die Erhaltung von deren Vollzeitarbeitsplätzen kämpfen, während eine wachsende Zahl in prekären Verhältnissen leben muss. Richtig und vernünftig sei es, die Arbeitszeit radikal zu verkürzen und die vorhandene Arbeit auf alle gleichermaßen und angemessen zu verteilen. Nur so lasse sich in den fortgeschrittenen kapitalistischen Industrieländern vorbildlich die Arbeitslosigkeit bekämpfen. In diesem Zusammenhang hat Gorz 1983 die Idee einer Abkoppelung des Rechts auf Einkommen von dem Recht auf Arbeit entworfen. Das Recht auf Arbeit, auf einen Arbeitsplatz und auf Einkommen seien allzu lange als dasselbe angesehen worden. Dabei könne es nicht bleiben. Die Arbeitslosenunterstützung, wie sie zum Beispiel in Deutschland bis zur Agenda 2010 existierte, habe bereits, wenn auch in verschleierter Form, anerkannt, dass diese Identität nicht mehr besteht. Insofern sei sie ein Fortschritt in politisch-ökonomischer, aber auch sozialer Hinsicht: „Wenn den Arbeitslosen in den nordeuropäischen Ländern für unbegrenzte Zeit 70 % ihres früheren Lohns ausgezahlt werden oder wenn Arbeiter, die das 55. Lebensjahr, in einigen Krisensektoren das 50. Lebensjahr, überschritten haben, mit 70 bis 90 % ihres Lohns pensioniert werden, ist faktisch das Recht auf Einkommen bereits vom Besitz eines Arbeitsplatzes abgekoppelt worden.“62

Die Abkoppelung des Rechts auf Einkommen von dem Recht auf Arbeit sei allerdings in verschleierter Form praktiziert worden, so dass es sich nicht als fortschrittliches Moment präsentierte. Denn das Eingeständnis, dass es keine Vollzeitbeschäftigung mehr geben könne, sei von den Herrschenden, leider auch von den Gewerkschaften, tunlichst vermieden worden. Massenarbeitslosigkeit ist aber kein konjunkturelles Phänomen oder ein individuelles Problem. Arbeitslosen- und Sozialhilfe müssen daher als Entschädigung dafür begriffen werden, gesellschaftlich an den Rand gedrängt und marginalisiert zu sein: „Arbeitslosigkeit und Arbeitslose werden behandelt, als ob die ständige Vollzeitbeschäftigung die Regel und die Norm wäre und bleiben müsse: man ist entweder vollbeschäftigt oder Arbeitsloser, der als Gegenleistung für seine Unterstützung auf jede, auch unbezahlte Tätigkeit verzichten muss. Die Alternative Vollzeitarbeit oder vollständige Arbeitslosigkeit leugnet implizit die faktische Verringerung der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit und verteilt diese Verringerung auf die unegalitärste Weise: sie bestraft und marginalisiert diejenigen, die dem Leistungsdruck enthoben sind (die Arbeitslosen), um die Norm der Vollzeitbeschäftigung und damit die Natur der sozialen Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern zu bewahren.“63

Die Norm der Vollzeitbeschäftigung dient dem Zweck der Aufrechterhaltung der „auf der Leistungsethik beruhenden Herrschaftsbeziehungen“, schreibt Gorz. Es werde eine Zweiteilung der erwerbstätigen Bevölkerung geschaffen: Auf der einen Seite steht eine Elite von vollbeschäftigten und geschützten Arbeitern und Angestellten, die die herkömmliche Arbeitsgesellschaft repräsentieren, an ihrer Arbeit hängen und das traditionelle Klientel der Gewerkschaften ausmachen. Auf der anderen Seite steht ein Heer von Arbeitslosen und ungelernten oder nichtqualifizierten Hilfskräften – ohne Status und nicht geschützt –, die zu wechselnden und immer häufiger zu unwürdigen Arbeiten auch unter Zwang herangezogen werden.

 

Die „Nicht-Klasse der Nicht-Arbeiter“, von der Gorz im „Abschied vom Proletariat“ spricht,64 stehe zunehmend der Klasse der Arbeiter gegenüber und könne diese als politisches Subjekt der Befreiung ablösen. Der Klasse der regelmäßig Arbeitenden komme jedenfalls zunehmend „die konservative Rolle der Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung“ zu. Gorz nennt das „Arbeiterkonservativismus“: „Dagegen ist die Masse der `gegen die Arbeit Gleichgültigen´ das mögliche gesellschaftliche Subjekt des Kampfes um die Aufteilung der Arbeit, die allgemeine Verkürzung der Arbeitszeit, die tendenzielle Abschaffung der Lohnabhängigkeit durch Ausweitung der Eigenproduktion sowie ein allen garantiertes Lebenseinkommen.“65

Die Gewerkschaften haben traditionell das Recht auf Arbeit verteidigt. Ihr Kampf war stets auf die maßvolle Verringerung der Arbeitszeit und auf stetige Lohnerhöhungen ausgerichtet; beides glaubten sie ausloten zu müssen, um nicht durch Massenentlassungen ihre Basis zu verlieren. Für Arbeitslose haben sich die Gewerkschaften per definitionem nicht interessiert. – Angesichts strukturell bedingter Massenarbeitslosigkeit kehre sich das Verhältnis zu den Gewerkschaften nunmehr um: Ihnen drohe das Schicksal einer „reaktionären Kraft“, wenn sie nicht die Ziele ausweiten und sich den „Überflüssigen“ zuwenden. Für Arbeitszeitverkürzung dürfe nicht maßvoll, sondern müsse radikal gekämpft werden. Das können die Gewerkschaften jedoch nur mit Unterstützung der Arbeitslosen: „In dem Maße, wie die Gewerkschaft sich mit der Elite der ständig beschäftigten und geschützten Arbeiter identifiziert, um die Aufteilung der Arbeit, die Selbstverwaltung und die Lockerung der Arbeitszeitordnung sowie die Verlagerung des Schwerpunktes des Lebens auf selbstbestimmte und nicht lohnabhängige Tätigkeiten abzulehnen, wird sie zu einer konservativen und gegebenenfalls reaktionären Kraft. Sie kann dieses Abgleiten nur dann vermeiden, wenn es ihr gelingt, den Kampf der `gegen die Arbeit Gleichgültigen´ [...] zu organisieren oder mindestens zu unterstützen, was voraussetzt, dass er nicht nur in den Unternehmen verankert ist und der Organisation nach Industriezweig oder Berufsgruppe nicht den Vorrang gibt vor der territorialen Organisation.“66

Mit radikaler Arbeitszeitverkürzung allein wäre das Problem der Massenarbeitslosigkeit allerdings nicht umfassend gelöst, da die Produktion des Notwendigen ein so geringes Quantum an individueller Arbeit erforderlich mache, dass niemand davon leben könne, wenn er oder sie allein für die tatsächliche Arbeitszeit bezahlt werden würde. Darum müsse der Lohn von der Arbeit abgekoppelt werden und sich nach den beiden Kriterien der Bedürftigkeit und eines würdevollen Lebens richten. Die linke Konzeption eines vom Arbeitsplatz unabhängigen Sozialeinkommens, wie es Gorz entworfen hat, macht aus der Fürsorge kein Almosen, sondern sie ist das jedem zukommende Recht, „auf sein ganzes Leben verteilt das Produkt des nicht weiter reduzierbaren Quantums an gesellschaftlich notwendiger Arbeit zu erhalten, die er im Laufe seines Lebens zu erbringen hat“.67 Das notwendige Maß an zu verrichtender Arbeitszeit errechnet Gorz 1983 auf 20.000 Stunden, die jedem auf einem Zeitkonto angerechnet werden könnten und die jeder im Laufe seines Lebens abarbeiten müsste, so dass jeder selbst entscheiden könne, auf welche Weise, das heißt wo, wann, in welchem Rhythmus und wie er arbeitet. Als Gegenleistung gebe es ein auf Lebenszeit garantiertes Minimaleinkommen. Eine negative Einkommensteuer könnte zusätzlich das staatliche Fürsorge- und Steuersystem radikal vereinfachen: „oberhalb einer bestimmten Einkommensgrenze zahlt man dem Fiskus Steuern, unterhalb dieser Grenze wird man vom Fiskus bezahlt“.68

Oskar Negt kommt Ende der 1990er Jahre zu einer zum Teil anderen Einschätzung. Auch er tritt für ein Grundeinkommen ein, vor allem aber auch für eine gesellschaftliche Aufwertung gemeinnütziger Arbeit. Nach dem Wegfall der bipolaren Weltordnung und der Auflösung des Realsozialismus verliere der Kapitalismus sämtliche – durch die Systemkonkurrenz bedingten – „Beißhemmungen“69 Den Gewerkschaften sei es nunmehr darum zu tun, wieder als geschichtlicher Motor zu wirken. Hierzu müssten sie um eine Erweiterung ihres Mandats kämpfen, bzw. damit beginnen, ihr Mandat politisch, kulturell und ökonomisch zu erweitern.70 – Während also Gorz den Glauben an die Gewerkschaften verliert, hält Negt an ihrer transformatorischen Kraft als politisches Subjekt fest. Die Übereinstimmungen und Differenzen hat Gorz 2004 in einem Brief an Negt festgehalten.71

 

Die Suche nach den unheiligen Alternativsubjekten

  

In den 1970er, 80er und 90er Jahren zergliedern sich die Neuen Sozialen Bewegungen in Ein-Punkt-Bewegungen, die mit dem Proletariat nicht mehr viel zu tun haben: Frauenbewegung, Oköbewegung, Hausbesetzerbewegung, Antiatomkraftbewegung, Linker Terrorismus, Punks und Autonome: politische Subjekte, die sich in Netzwerken zusammenschließen müssen, um gesellschaftsverändernde Kraft zu entfalten. Gorz‘ Formel von der „Nicht-Klasse des Nicht-Arbeiters“ ist eine der Weichenstellungen: der Nukleus für weitere Überlegungen über ein neues politisches Subjekt, das sich in losen Netzwerken organisiert. Fraglich ist allerdings, ob ein politisches Subjekt revolutionäre Kraft entfalten kann, wenn es nicht in der politischen Ökonomie verankert, sondern aus ihr herausgefallen ist. Gorz analysiert diese Nicht-Klasse noch im Rahmen einer politischen Ökonomie der Arbeitskraft und versucht damit dem schwachen Herzen des Marxismus einen Schrittmacher zu verschaffen – das aber nur stärker schlagen kann, wenn die Gewerkschaften sich diesem unkonventionellen Subjekt öffnen. Es soll ermöglichen, den Blick auf ein anderes Modell von sozialistischer Gesellschaft zu richten, die graswurzelartig auf der Zivilgesellschaft und nicht auf dem Staat oder der Fabrik gegründet ist. Denn diese Nicht-Klasse birgt viele produktive und kreative Potentiale, die sich verselbständigen, wie zum Beispiel an der Freien-Software-Bewegung zu erkennen ist.72 Aber nicht jede gesellschaftliche Entwicklung, die gedacht werden kann, ist deshalb schon möglich.

 

Die undogmatische Linke hat sich jedenfalls auf die Suche nach neuen politischen Subjekten gemacht. Es ist ein Weg, den Marcuse mit Blick auf die Neuen Sozialen Bewegungen bereits geebnet hatte, indem er – wenn auch mit zu viel Optimismus in der Praxis und Pessimismus in der Theorie – einmal den Studierenden, den Frauen, den Schwarzen, den drop outs das revolutionäre Potential geschichtlicher Veränderung als Randgruppen zusprach. Die Suche nach neuen politischen Subjekten stellt einen qualitativen Bruch zur vorherigen, am Proletariat orientierten Revolutionstheorie dar. Sie geht zeitweilig mit dem Verlust des gesellschaftlichen Zusammenhangs in der Theorie und Praxis der Ein-Punkt-Bewegungen einher. Die Bewegungslinke zerfällt in ihre bewegten Teile und verliert die einst gemeinsame Bezugstheorie. Sie hat allmählich ihre eigenen theoretischen Ansätze ausgebildet, sich von Marx entfernt und muss für gemeinsame Verständigung erst eine gemeinsame Sprache und Netzwerke ausbilden.

 

Der qualitative Bruch erklärt sich durch die Reinigung von den metaphysischen Heilserwartungen, die man an eine Revolution gerichtet hat, als wäre sie eine religiöse Erlösung: ein Sprung ins Himmelreich auf Erden, der durch messianische Sehnsüchte überladen ist, so dass jedes politische Subjekt daran scheitern musste. Diese Überladung des Revolutionsbegriffs hat Albert Camus 1951 auf Hegels „absolutes Denken“ zurückgeführt und dessen Herr-Knecht-Dialektik als „Rechtfertigung des Machtgeistes im 20. Jahrhundert“ kritisiert.73 Dieser Machtgeist kommt in den siebziger Jahren vor allem im marxistischen K-Gruppen-Revolutionär zum erneuten Male zu sich selbst. Dessen eifernde Selbstvergessenheit blendet zwanghaft die Gegenwart aus, so dass er nur für die Zukunft lebt, nicht rastet und den Tag nicht genießen kann: ein Revolutionär mit zwanghaften Tugenden und Kompromisslosigkeit gegenüber dem Hier und Jetzt, gnadenlos gegenüber sich selbst und gegenüber anderen. Weil der K-Gruppen-Dogmatiker die Revolution derart mit dem ganz Anderen identifiziert, überhöht er sie ins Religiöse, macht sie für das Reale metaphysisch unkenntlich und verschiebt sie dadurch auf den Sankt Nimmerleinstag. Der metaphysische Revolutionär trachtet nach einer metaphysischen Revolution; er ist eine tragische Figur, die sich selbst kapitallogisch systematisch ableitet, das heißt, er ist ein Abziehbild der kapitalistischen Arbeitsmoral und Verwertungslogik. Die Logik des Kapitals schreibt sich in die „revolutionäre Praxis“ des Dogmatikers ein. Solchen Typen überantwortet man lieber nicht noch einmal die Revolution; es sind diejenigen, die die Kinder der Revolution fressen, die aus Ermangelung von Selbstbefreiung noch aus jedem Funken Freiheit ein Tugendfeuer entfachen und jeden, der auffällig ist, der anders denkt, auf dem Scheiterhaufen verbrennen, im Lager erziehen, in Schauprozessen demütigen oder ohne Umstände erschießen wollen, damit die Revolution nicht in Gefahr gerät.

 

Die Bereinigung der Transzendenz von ihren religiösen und metaphysischen Anteilen muss nicht bedeuten, dass die Transzendenz überhaupt verloren geht. Zunächst wird dem K-Gruppen-Dogmatiker nur der Boden entzogen, indem er als Esoteriker identifiziert wird. Die Bereinigung erscheint aber als mehr oder weniger starke Zuneigung zur Immanenz, zur Diesseitigkeit. Die allermeisten Ziele, die sich linke Bewegungen noch setzen, sind mit Reformen und mit realpolitischen Kompromissen zu erreichen. Sie bewegen sich im Spektrum einer rein immanenten integrativen Anerkennungspolitik, für die Jürgen Habermas die kommunikative, rationale Diskursethik und Axel Honneth die sozialphilosophische Grundlagenauseinandersetzung mit Hegel geliefert haben.74 Aber je selbstbewusster die politischen Subjekte in den sozialen Bewegungen und Anerkennungskämpfen der Zivilgesellschaft ihren Platz einnehmen, desto ernsthafter begründet sich das realpolitische Anliegen. Realpolitik kann radikal sein und damit aus der Immanenz einen Weg in eine diesseitige Transzendenz weisen. So besehen kann an der Möglichkeit von Revolution festgehalten werden, wenn sie nicht mehr als ein Sprung in das ganz Andere, sondern als ein beschleunigter Prozess, der aus dialektischen Aufhebungen im Hier und Jetzt besteht, verstanden wird. Diese Aufhebungen sind allerdings, jeweils für sich betrachtet, so unspektakulär, dass sie das Attribut Revolution nicht verdienen. Am ehesten wären sie als radikale Realpolitik zu klassifizieren.

 

Dieser Revolutions- und Politikbegriff steht in Kongruenz zu den politischen Intentionen von Gorz‘ theoretischen Eingriffen, dessen Bücher an konkrete soziale Bewegungen adressiert sind und stets mit der Botschaft beginnen, dass es schlimmer eigentlich gar nicht mehr werden könne und man die Notbremse ziehen müsse. Aber wie soll das gehen? Wo ist der Hebel, der den kopflos dahinrasenden Zug der Menschheit zum Stehen bringt?

 

Die Übermacht der Herrschaft

  

Der Verlust eines kollektiven einheitlichen Subjekts wird nur unzureichend kompensiert, indem plurale, großkollektive Subjekte rekonstruiert werden: Netzwerke, Rhizome, Multitudes75, Mosaike76, die alle etwas hilflos wirken, weil das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile. Wer wirft das Netz aus? Wer ist der Botaniker am Rhizom? Wer spricht in den Multitudes? Wer setzt die Mosaiksteine zu einem Bild zusammen?

 

Die unbequeme Frage lautet also, ob mit dem schweren Eingeständnis, dass das Proletariat nicht mehr das Subjekt der Geschichte sein kann bzw. imaginierte großkollektive Subjekte sich nur vermöge nicht-emanzipativer Autorität in Bewegung setzen oder sprechen, nicht auch die Frage nach dem Ende der Geschichte zu stellen ist – allerdings anders als Francis Fukuyama sie in Anschluss an Hegel aufgeworfen hat.77 Falsch an Fukuyamas These ist nämlich, dass die beste aller möglichen Welten der liberale Kapitalismus sei, weil alles andere, was darüber hinausgehen wollte, scheiterte; richtig ist aber, dass es scheiterte. Aber auch der Kapitalismus scheitert immer wieder. Dessen Vorteil besteht lediglich darin, dass er existiert und Kräfte aus seiner Herrschaft bezieht, um sich immer wieder aufzurichten. Überproduktionskrisen lassen sich allerdings immer schwieriger durch regulierte Monopolisierungen, Inflation, Kriege etc. kontrollieren. Die herkömmlichen Wege zur Krisenlösung sind weitgehend verstellt; die herrschenden Eliten sind genötigt, die Katastrophen des 20. Jahrhunderts nicht noch einmal als Optionen ins Auge zu fassen. In kleinen Maßstäben können sie die Mittel noch anwenden, aber ein regionaler Krieg zerstört nicht genügend Werte, und die Enteignung lokaler Bevölkerungen an der europäischen Peripherie könnte sich als unzureichend erweisen, um die Krise zu bewältigen. Dies belegt, wie sehr sich der Kapitalismus seit dem Ende des short century in einem „freien Fall“ (Hobsbawm) befindet und vielleicht das Kapital als letztes verbliebenes „revolutionäres“ Subjekt sich selbst zu Grunde richtet. Gegen Fukuyama ist zudem einzuwenden, dass die antagonistische Gesellschaft immer soziale Konflikte und Widerstand, der den Kapitalismus auch überwinden möchte, aus sich heraus generieren wird. Es gibt permanent politische Kämpfe und ökonomische Streiks auf der Welt, aber diese Kämpfe haben keinen geschichtlichen Charakter; sie treten auf der Stelle und sind deshalb keine Geschichte. Denn Geschichte ist das Fortschreiten der Freiheit. Der Widerstand gegen den Kapitalismus wird in der westlichen Welt verwaltet, und in der restlichen Welt wird er mit brutalen Mitteln, mit Hilfe des Westens niedergeschlagen. Es ist die Gewalt der Herrschenden, die Fukuyama benötigt, um seiner These vom Sieg des liberalen Kapitalismus als Ende der Geschichte Geltung zu verschaffen. Das Verhältnis zwischen Widerstand und Herrschaft ist vermutlich so disproportional wie noch nie in der Geschichte.

 

Wenn wir in der „verwalteten Welt“ (Horkheimer) es mit einer Übermacht der Herrschaft zu tun haben, die die Widersprüche kulturindustriell vermarktet, verwaltet, integriert oder brutal niederschlägt, wenn zugleich das politische Subjekt der Freiheit erodiert ist, dann sind die Kämpfe zwar noch real, aber nicht mehr geschichtlich – nicht fortschreitend, nicht fortschrittlich, was nicht gleichbedeutend mit reaktionär, vielleicht aber mit regressiv ist; sie treten auf der Stelle, weil ihnen der Fortgang durch herrschaftliche Barrikaden verstellt ist. Es sind dann nur solche „Stellungen“ (Gramsci) zu erobern, die von der herrschenden Klasse geräumt wurden (zum Beispiel die DDR 1989/90 oder die Parlamente von Ländern wie Griechenland und Zypern, die in der Finanzkrise ihre Souveränität längst an die von Deutschland dominierte Europäische Union eingebüßt haben). Es erscheint als Zynismus der Geschichte, dass unter den Bedingungen des Spätkapitalismus auf die Bastillen unserer Zeit erst zu stürmen begonnen wird, wenn sie von der herrschenden Klasse geräumt wurden. Sie erfüllen für die Herrschenden noch die Funktion von Crashtestdummies mit Blitzableiter, an denen sich pseudoaktiver Widerstand,78 der theatralischen Charakter annimmt, verausgabt.

 

Mit dieser Argumentation kann man sich von der Bewegungslinken schnell den Vorwurf des Pessimismus und der Entmutigung einhandeln.79 Ich möchte meine Überlegungen aber nicht als Geschichtspessimismus verstanden wissen. Auch nicht als Entmutigung für diejenigen, die immerhin gegen potemkinsche Fassaden anrennen. Aber dass die Parlamente in Griechenland oder Zypern zurzeit weitgehend leer und funktionslos geworden sind, wird kaum zu widerlegen sein. Es ist trotzdem richtig, gegen sie anzurennen, um den Blick als Lernprozess auf die europäischen Zentren zu richten: auf Berlin, Frankfurt und Brüssel.

Ganz sicher ist noch Realsoziologie notwendig, um meine geschichtsphilosophische Dekonstruktion empirisch zu belegen. Aber diese Realsoziologie muss sich nicht nur gegen abgehobene, realitätsferne Geschichtsphilosophie zur Wehr setzen, sondern auch gegen die theorieferne, theatralische Bewegungseuphorie, bei der sich der Geschichtsoptimismus aus Wünschen speist.

 

Die These vom erodierenden politischen Subjekt der Freiheit ist schon in die Jahre gekommen. Sie hat damals die Krise des Marxismus ausgelöst. Im Rahmen des undogmatischen westlichen Marxismus wurde sie mal heftiger, mal verhaltener, sei es von Adorno, Marcuse, Gorz oder, etwas dogmatischer, von Abendroth oder anderen reflektiert. Was die Krise ausmacht, ist die gestörte Einheit von Theorie und Praxis, das heißt der Verlust des außertheoretischen Wahrheitsanspruchs. Von anderer Seite wird dieser Verlust entweder pragmatisch (man sucht ein neues Subjekt, selbst wenn man es sich pluralistisch über Mosaikbausteine, eine rhizomatische Vielfalt oder über ominöse und über den Globus verteilte, aber eben auch versprengte Massen zusammenaddieren muss) oder antitheoretisch gelöst (man entledigt sich einfach der theoretischen und philosophischen Ansprüche, fährt die Theorie soweit runter, so dass sie mit der Wirklichkeit konform zu gehen scheint) oder dogmatisch verleugnet (indem am Proletariat festgehalten wird). Alle Optionen haben etwas Nachvollziehbares. Die Theorie muss handelnde Menschen als Subjekte anerkennen; der Ausspruch von Hegel auf den Einwand gegen seine Philosophie, sie entspräche nicht den Tatsachen: „Umso schlimmer für die Tatsachen!“ war zwar gewitzt, aber hoffnungslos idealistisch. Die subalternen Klassen erstarken weltweit außerhalb der westlichen Welt. Dennoch ist jede Option damit weder widerlegt noch bewiesen. Jede Position, sei es die der rechts- oder linkshegelianischen Geschichtsphilosophen, der Bewegungslinken etc. hat einen Funken Wahrheit in sich. Und wenn eine Realanalyse alle Funken vereint und trotzdem zu dem Ergebnis kommt, dass Widerstand, Revolution, Geschichte in der Welt verunmöglicht sind, so liegt es an den Handelnden, aus diesem Wissen eine Konsequenz für ihr Handeln abzuleiten. Sie können sagen: Dann handeln wir eben nicht. Es ist nicht Aufgabe von Theorie, wider besseren Wissens Menschen zu etwas zu ermutigen, das aussichtslos erscheint. Sie können aber auch sagen: Wir handeln deshalb erst recht. Ich denke, dass in der heutigen Welt Widerstand nicht aussichtslos ist, und eine als aussichtslos erscheinende Analyse der Welt muss auch nicht entmutigen. Marcuses „Der eindimensionale Mensch“ war eine Analyse der Aussichtslosigkeit, die aber gerade deshalb nicht zur Entmutigung geführt hat.

 

 

 

Vielleicht wird die Praxis des Widerstands leichtfüßiger, wenn von Organisationen oder organischen Intellektuellen, die meinen, ihren Mitgliedern oder Genossen, abgeleitet aus metaphysischer Fiktion, elitär die Richtung des Weges zeigen zu können, an die Menschen keine geschichtlich überhöhten Aufgaben als Subjekte der Befreiung mehr gestellt werden, und es statt dessen darauf ankommt, aus Sorge um sich und die anderen gemeinsam die Notbremse zu ziehen. Es wäre eine große Ironie der Geschichte, wenn in dem Augenblick, in dem niemand mehr die Last eines geschichtlichen Telos einem anderen aufbürdet, die Geschichte sich als ein akzidenteller, von den Menschen in wirklich freien Assoziationen motivierter Akt vollzieht und die drohende Katastrophe abgewendet wird.

 

 

Anmerkungen

1   Siehe André Gorz: Abschied vom Proletariat. Jenseits des Sozialismus (1980), Reinbek bei Hamburg 1983.

2   Vgl. Harald Wieser: Ein Tempelschänder des Marxismus, in: Der Spiegel, Jg. 1981, Nr. 16, 220-229.

3   Vgl. Eric Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1998.

4   Vgl. Perry Anderson: Über den westlichen Marxismus (1976), Frankfurt a. M. 1978.

5   Ebd., 77 ff.

6   Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Einleitung (1843/44), in: MEW, Bd. 1, Berlin 1976, 378-391, 386.

7   Vgl. Gorzens Kritik am Soziologismus, insbesondere in Bezug auf die Lebensweltkonzeption von Jürgen Habermas in André Gorz: Kritik der ökonomischen Vernunft. Sinnfragen am Ende der Arbeitsgesellschaft (1988), Berlin 1989; ders.: Arbeit zwischen Misere und Utopie (1997), Frankfurt a. M. 2000.

8   André Häger: Das Subjekt als Entzugsfigur. Ein Blick hinter die Kulissen des Denkens von André Gorz, in: Hans Leo Krämer (Hg.): „Der Horizont unserer Handlungen: den Zusammenbruch des Kapitalismus denken“ (André Gorz). Kongress über die Ideen von André Gorz. 15. und 16. Februar 2013 in Saarbrücken. Eine Dokumentation, Saarbrücken 2013, 77-95, 93.

9   Vgl. Karl Marx: Thesen über Feuerbach (1845/46), in: MEW, Bd. 3, Berlin 1972, 6.

10 Siehe Marcus Hawel: Krise und Geschichte. Zum Entstehungszusammenhang kritischer Theorie, in: Marcus Hawel, Moritz Blanke (Hg.): Kritische Theorie der Krise, Berlin 2012, 13-46, 21, Fn. 47.

11 Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung (1945–1959), Bd. 3, Frankfurt a. M. 1959, 1602.

12 Gorz: Abschied vom Proletariat, a.a.O., 9.

13 Ebd.

14 Ebd., 16.

15 Siehe Rolf Wiggershaus: Die Frankfurter Schule. Geschichte, theoretische Entwicklung, politische Bedeutung, München, Wien 1988, 19 ff.

16 Gorz: Abschied vom Proletariat, a.a.O., 20.

17 Ebd., 22.

18 Vgl. Max Horkheimer: Geschichte und Psychologie (1932), in ders.: GS, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1988, 48–69.

19 Vgl. Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte (1940), in ders.: Schriften, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1955.

20 Horkheimer: Geschichte und Psychologie, a.a.O., 59.

21 Alex Demirović: Der nonkonformistische Intellektuelle. Die Entwicklung der Kritischen Theorie zur Frankfurter Schule, Frankfurt a. M. 1999, 29.

22 Vgl. Gregor Kritidis: Linkssozialistische Opposition in der Ära Adenauer. Ein Beitrag zur Frühgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, Hannover 2008, 542 f.

23 Vgl. Ralf Dahrendorf: Lebenschancen. Anläufe zur sozialen und politischen Theorie, Frankfurt a. M. 1979.

24 Vgl. Karl Marx, Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei (1847/48), in: MEW, Bd. 4, Berlin 1972, 459-493, 493.

25 Vgl. Herbert Marcuse: 33 Thesen zur militärischen Niederlage des Hitlerfaschismus (1947), in ders.: Feindanalysen. Über die Deutschen, Schriften aus dem Nachlass, hrsg. v. Peter-Erwin Jansen, Springe 2007, 126-139.

26 Ebd., 133 f.

27 Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben (1951), Frankfurt a. M. 1979, 258.

28 Ebd., 257.

29 Theodor W. Adorno: Einleitung in die Soziologie (1968), Frankfurt a. M. 2003, 3. Vorlesung, 43 f.

30 Siehe hierzu Bernd Leineweber: Intellektuelle Arbeit und kritische Theorie. Eine Untersuchung zur Geschichte der Theorie in der Arbeiterbewegung, Frankfurt a. M. 1977.

31 Marcuse wird zum „Idol der Studenten“ (vgl.: Die Zeit, 21.07.1967); er liefert mit seiner Randgruppentheorie die theoretische Legitimation des politischen Subjekts der Befreiung. Vgl. Herbert Marcuse: Revolutionäres Subjekt und Autonomie. Vortrag auf der Sommeruniversität Korčula, 14.-25.8.1968, in: Marxismus-Kollektiv (Hg.): Marx und die Revolution. Mit Beiträgen von Ernst Bloch, Ernst Fischer, Iring Fetscher, Jürgen Habermas, Herbert Marcuse u.a., Frankfurt a. M. 1970.

32 „Ein nicht bornierter Begriff von Praxis (.) kann einzig noch auf Politik sich beziehen, auf die Verhältnisse der Gesellschaft, welche die Praxis eines jeden Einzelnen weithin zur Irrelevanz verurteilen.“ Theodor W. Adorno: Marginalien zu Theorie und Praxis, in ders.: Stichworte. Kritische Modelle, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1969, 169-191, 174.

33 „Denken ist ein Tun, Theorie eine Gestalt von Praxis; allein die Ideologie der Reinheit des Denkens täuscht darüber. Es hat Doppelcharakter: ist immanent bestimmt und stringent, und gleichwohl eine unabdingbar reale Verhaltensweise inmitten der Realität.“ Adorno: Marginalien zu Theorie und Praxis, a.a.O., 171.

34 Vgl. Demirović: Der nonkonformistische Intellektuelle, a.a.O.

35 Vgl. Detlev Claussen: Theodor W. Adorno. Ein letztes Genie, Frankfurt a. M. 2003, 393-401.

36 Vgl. Adorno: Marginalien zu Theorie und Praxis, a.a.O., 180-184. „Zurückgefallen wird auf jene disziplinäre Attitüde, die einst die Kommunisten einübten.“ Ebd., 189.

37 Vgl. Krahls Nachruf auf Adorno „Der politische Widerspruch in der Kritischen Theorie Adornos“ in der „Frankfurter Rundschau“, wieder veröffentlicht in: Keine kritische Theorie ohne Amerika, Hannoversche Schriften, Bd. 1, hg. v. Detlev Claussen, Oskar Negt und Michael Werz, Frankfurt a. M. 1999, 77-81.

38 Detlev Claussen: Die amerikanische Erfahrung der Kritischen Theoretiker, in: Keine kritische Theorie ohne Amerika, a.a.O., 27-45, 31; siehe auch Theodor W. Adorno: Reflexionen zur Klassentheorie (1942), in ders.: Soziologische Schriften, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1995, 373-391.

39 Vgl. Marcuse: Der eindimensionale Mensch, Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft (1964), in ders.: Schriften, Bd. 7, Frankfurt a. M. 1984, Vorrede.

40 Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts (1943), Hamburg 1952, 9-38.

41 Häger: Das Subjekt als Entzugsfigur, a.a.O., 79.

42 Siehe Theodor W. Adorno: Negative Dialektik (1966), Frankfurt a. M. 1994; siehe auch Asaf Angermann: Beschädigte Ironie. Kierkegaard, Adorno und die negative Dialektik kritischer Subjektivität, Berlin 2013.

43 Vgl. Adorno: Negative Dialektik, a.a.O., 15.

44 Vgl. Hawel: Krise und Geschichte, a.a.O., 40 ff.

45 Adorno: Negative Dialektik, a.a.O., 314.

46 Vgl. Demirović: Der nonkonformistische Intellektuelle, a.a.O., 44.

47 Siehe Christoph Tür>48 „Identität ist die Urform von Ideologie.“ Adorno: Negative Dialektik, a.a.O., 151.

49 Vgl. das Kapitel „Das Proletariat als Kopie des Kapitals“ in Gorz: Abschied vom Proletariat, a.a.O., 27-35; insbesondere 29; siehe auch Gorz: Die Moral der Geschichte (1959).

50 Vgl. Benedict Anderson: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts (1983), Berlin 1998.

51 Siehe Georg Lukács: Geschichte und Klassenbewusstsein. Studien über marxistische Dialektik (1923), Amsterdam 1967.

52 Vgl. Hawel: Krise und Geschichte, a.a.O., 28 ff.

53 Gorz: Abschied vom Proletariat, a.a.O., 29.

54 Ebd., Fn. 2.

55 „Die Proletarier sind und sind nicht der Gesamtarbeiter, ähnlich wie die Soldaten die Armee sind und zugleich nicht sind, die aufmarschiert, in Zangenbewegungen vordringt und überraschend durchbricht. Sie sind es vom Standpunkt des Armeegenerals, dessen strategischer Plan in Hunderte von Teilbefehlen an Hunderte von Kommandeuren kleiner Einheiten sich zergliedert.“ André Gorz: Abschied vom Proletariat, a.a.O., 23. „Die Macht der Arbeiterklasse bleibt eine im Namen der Klasse über die Arbeiter ausgeübte Herrschaft.“ Ebd., 26.

56 Die 1970er und 1980er Jahre können vielleicht als die Jahrzehnte der „kraftlosen Schönheit“ (Hegel) bezeichnet werden, die sich an der abgestorbenen Wirklichkeit festhält, ohne deren Scheiden aufzuhalten. Insofern ist es unglückliches Bewusstsein, das langsam, verspätet das Scheitern einsieht, dann aber Anfang der 1990er Jahre mit dem Untergang des Realsozialismus trotzig das Kind mit dem Bade ausschüttet, mithin Marx zu Grabe trägt, der noch lebendig ist. Die enttäuschte, zu Verstande, aber nicht zur Vernunft (denn diese kennt Kritik und bestimmte Negation) gekommene kraftlose Schönheit wird erst melancholisch und dann renitent im Selbsthass für die vorangegangene Täuschung. Der Konvertit tritt auf die Bühne, einer der sich dem Zeitgeist anpasst und von Utopie und Transzendenz nichts mehr wissen will, gleichsam ein opportunistischer Wendehals.

57 Gorz: Abschied vom Proletariat, a.a.O., 11.

58 Ebd., 15.

59 Siehe die einschlägigste Untersuchung von Michael Vester: Die Entstehung des Proletariats als Lernprozess. Die Entstehung antikapitalistischer Theorie und Praxis in England 1792-1848. Mit einem Vorwort von Alfred Krovoza und Thomas Leithäuser, Frankfurt a. M. 1970; siehe auch Edward P. Thompson: The Making of the English Working Class, London 1965.

60 Gorz: Abschied vom Proletariat, a.a.O., 16.

61 Ebd., 9.

62 André Gorz: Wege ins Paradies. Thesen zur Krise, Automation und Zukunft der Arbeit, Berlin 1983, 56 f.

63 Ebd., 57.

64 Gorz: Abschied vom Proletariat, a.a.O., 63.

65 Gorz: Wege ins Paradies, a.a.O., 58.

66 Ebd., Fn. 10.

67 Ebd., 68.

68 Ebd., 67.

69 Oskar Negt: Der politische Mensch. Demokratie als Lebensform, Göttingen 2010.

70 Vgl. Oskar Negt: Wozu noch Gewerkschaften? Eine Streitschrift, Göttingen 2004.

71 Vgl. André Gorz: Wa(h)re Arbeit, in: Tatjana Freytag, Marcus Hawel (Hg.): Arbeit und Utopie. Oskar Negt zum 70. Geburtstag, Frankfurt a. M. 2004, 29-37.

72 Siehe Oliver Heins: Freie Software – eine Gegen-Ökonomie?, in: Sopos 1/2002, http://www.sopos.org/aufsaetze/3c48ca89b119c/1.phtml. [letzter Zugriff: 25.11.2013]

73 Vgl. Albert Camus: Der Mensch in der Revolte (1951), Hamburg 1969, 112.

74 Siehe Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a. M. 1981; Axel Honneth: Kampf um Anerkennung, Frankfurt a. M. 1992.

75 Vgl. Michael Hardt, Antonio Negri: Empire – die neue Weltordnung. München 2003; dies.: Multitude. Krieg und Demokratie im Empire, München 2004.

76 Vgl. Hans-Jürgen Urban: Die Mosaik-Linke. Vom Aufbruch der Gewerkschaften zur Erneuerung der Bewegung, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 5/2009, 71-78.

77 Vgl. Francis Fukuyama: Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir? München 1992.

78 „Pseudo-Aktivität wird herausgefordert vom Stand der technischen Produktivkräfte, der zugleich zum Schein sie verdammt.“ Adorno: Marginalien zu Theorie und Praxis, a.a.O., 181. 1969 hat Adorno diese Aussage auf diejenigen bezogen, die auf lächerliche Weise Barrikaden gegen jene „spielen“, die das Kommando über die Atombombe haben und die Spielenden nur temporär gewähren lassen. Heute mag dieses Verdikt, das in der Zeit des Kalten Krieges formuliert wurde, mutatis mutandis auch auf Occupy und Blockupy zutreffen.

79 „[D]as Leiden an einem negativen Zustand, diesmal an der blockierten Realität, wird zur Wut auf den, welcher ihn ausspricht.“ Adorno: Resignation, a.a.O., 147.

 

Erschienen in: Berliner Debatte INITIAL 24 (2013) 4, S. 17-34