Aleksej POLIKHOVITCH: „Das hat nichts mit Stalin-Ikonen zu tun“ Alle Verurteilten der ersten Welle des „Bolotnaja-Falles“ haben auf das Gerichtsurteil Einspruch erhoben. Das Moskauer Stadtgericht wird diese in nächster Zeit überprüfen.
Die Pressestelle des Moskauer Stadtgerichts hat der „Novaja Gazeta“ bestätigt, dass die Sache bei ihnen eingelangt ist, und die Termine der Anschauung in Kürze bekanntgegeben werden. Im Februar hat das Zamoskvoreckij-Gericht acht Beteiligte des „Bolotnaja-Falles“ wegen der Teilnahme an Massen-Unruhen und Ausübung von Gewalt auf die Polizei angeklagt. Sergej Krivov wurde für 4 Jahre verurteilt, Andrej Barabanov für 3 Jahre und 7 Monate. Aleksej Polikhovitch, Denis Luckevitch und Stepan Zimin für 3 Jahre und 6 Monate, Artem Savelov für 2 Jahre und 7 Monate, Aleksandra Naumova (Dukhanina) für 3 Jahre und 3 Monate bedingt. Damals wurde von allen erklärt, dass ihnen das Urteil unbegreiflich ist. Im Moment befinden sich die Verurteilten nach wie vor in Moskauer Untersuchungsgefängnissen (Dukhanina unter Hausarrest).
Offensichtlich haben sich die Ereignisse in der Ukraine, die heute die Grundlage der russischen Innen- und Außenpolitik bilden, auf die Entwicklung dieses politischen Prozesses ausgewirkt. Umso mehr, weil viele der darin Beteiligten in der „Ukraine-Frage“ eine aktive zivilrechtliche Position einnehmen. Heute veröffentlichen wir einen Brief von Aleksej Polikhovitch.
Brief des politischen Häftlings Aleksej Polikhovitch über die Spekulationsversuche im „Bolotnaja-Fall“
Bei einer unserer endlosen Sitzungen hat der Anwalt Dmitrij Agranovskij einmal einen Omon-Polizisten korrigiert, der bei seiner Rede die Anrede „meine Herrschaften“ benutzte. „Herrschaften gibt es nur im alten Rom“, sagte Agranovskij, und mir hat das damals gefallen. In der russischen Sprache herrscht wirklich eine Armut an akzeptablen Anreden. Der Herr ist dem Kamerad nicht Herr, der Kamerad dem Herren nicht Genosse – so wird die Widersprüchlichkeit der russischen Geschichte weitergeführt. In den Gerichten haben wir den Polizist*innen immer geantwortet, dass wir nicht als „Herrschaften“ angesprochen werden wollen, und noch weniger als „Kamerad*innen“. Wir haben uns die Freiheit zurückerobert, die uns möglich war – in dem Moment war es eine lexikalische Freiheit. Die Freiheit, den Sinn und die Bedeutung der Worte zu verteidigen, trotz allen Umständen.
Der vorliegende Brief wurde vollkommen und gänzlich durch das Verhalten von Dmitry Agranovskij auf Twitter provoziert, und den halbpolitischen Spekulationen, die dieser Mensch zum Thema „Bolotnaja-Fall“ macht. Ich habe extra diese – offene – Form gewählt, weil Dmitry mit mir nie persönlich über meine Position zur Krim und zur Ukraine gesprochen hat, was ihn aber nicht daran gehindert hat, auch meine Ansichten in seine eigene ukrainophobische Hysterie hineinzuspinnen. Unter den Bedingungen einer sowjetischen Renaissance wird es aktuell, die eigenen und fremden Ansichten zu definieren. Also werde ich auch Klarheit in die Sache bringen.
Meine linken Ansichten haben nichts mit Stalin-Ikonen bei 1. Mai-Demonstrationen zu tun. Der erste Mai ist weniger Feiertag als Tag der Solidarität und des Erinnerns. Sowjetischer Militarismus und Panzer in Prag haben damit nichts zu tun. Begeistertes Geschrei und Küssen des Führers auch nicht. Bei einer sowjetischen 1. Mai-Demonstration geht es darum, wie der Marx-Voodoopriester den Marx-Umstürzer begraben hat. Es geht also um den Sieg des Ersatzes über das Original. Ich bin kein roter Chauvinist und freue mich nicht über die Invasion der benachbarten Länder. Ich unterstütze das Recht der Völker auf Selbstbestimmung, aber niemals unterstütze ich imperiale Ambitionen eines Staates, sowie das Entfesseln von Krieg und Lügen. Wenn ich schon für Überzeugungen sitze, dann ist es wohl klar dass ich nicht beabsichtige, diese zu ändern. Wenn ich für meine Schuld sitze, dann haben meine Überzeugungen nichts damit zu tun. Gekünstelte Loyalität als Strategie sieht dumm aus. Immer auf der Seite der Mehrheit zu sein ist nicht eine prinzipiell linke Position, sondern Prinzipienlosigkeit.
Die Gerechtigkeit steht oft dem entgegen, was allgemein anerkannt wird. Umgekehrt werden Ungerechtigkeit und Verbrechen oft von Fanfaren und Applaus begleitet. Wenn das Verhalten der russischen Macht in der Ukraine gerecht ist, warum so eine Bombardierung des Informationsfeldes mit Hass? Wozu dienen Dummheit und fehlende Objektivität des russischen Fernsehens, das damit auf krasse Art seine Beziehung zum Volk demonstriert? Keine alternativen Standpunkte, keine Zweifel. Fehler in der Logik, das Absurde wird gekonnt retuschiert durch den Ausdruck eines Aufschlages, und immer wieder offenkundige Schwarzmalerei. Vor ein paar Monaten hat der Russländische Staatliche Rundfunk die europäischen Medien dahingehend beschuldigt, dass die die Einnahme von Gebäuden in Kiew als friedlichen Protest bezeichneten. Jetzt werden analoge Besetzungen administrativer Zentren in Slavjansk von „Rossija 1“ als friedliche Willensäußerung des Volkes propagiert. Die Approbation von Minister*innen am Maidan ist eine Diktatur, die selbsternannten Anführer*innen des Donbass dagegen „vom Volk Auserwählte“. In der Westukraine sind immer „Extremist*innen und Radikale“, im Osten dagegen „Freischärler*innen und Protestierende“. Während sie Kiew des Neonazismus beschuldigen, wird die Französin Le Pen von russischen Kanälen propagiert, als ob diese Rechtsextremistin den Kampf gegen das Gespenst Faschismus verkörperte, das in Europa umgeht.
Der gerade moderne bürokratische Antifaschismus und imperialistischer Dunst sind mir persönlich zuwider. Ich kann mich nicht an vieltausendköpfige Demonstrationen erinnern nach den Morden an Markelov und Baburova, den Morden an Antifaschist*innen und Migrant*innen in Moskau. Wen hat dieses Thema bei uns überhaupt beschäftigt, solange die Organisation BORN («Kampf-Organisation russischer Nationalist*innen») noch nicht die Hand gegen die Vertreter*innen des Systems erhoben hat? Es gibt Ultrarechte nicht nur in der Ukraine, dieses Problem ist in ganz Osteuropa aktuell. Schwarz-gelb-weiße Flaggen des russischen Imperiums werden auf russischen Märschen und auf den Tribühnen der Stadions geschwungen. Alle wissen, welche Gestalten unter den Imperiumsflaggen marschieren. Dieselben Flaggen waren auch auf den Demonstrationen „Für die Krim“ in Moskau, neben Plakaten wie „Faschismus kommt nicht durch!“ und neben der Fahne der Volksrepublik Donezk in Kramatorsk.
Dieser ganze Wahnsinn hat einen einfachen Grund. Was für „uns“ angenehm und nützlich ist, ist die Wahrheit; was aber „unsere“ Position in Frage stellt ist eine Lüge. Du kannst soviele Argumente suchen wie du willst, sie stempeln dich trotzdem als Banderisten ab. Der „Rechte Sektor“ hat die Welt überschwemmt, und sein wichtigster PR-Agent ist das Russische Fernsehen. Die Aktivist*innen des „Rechten Sektors“ werden bald selbst glauben, dass sie die Satans Kämpfer*innen sind.
Natürlich ist Propaganda in der Geschichte nichts Neues. Die Techniken, auf das Bewusstsein der Massen einzuwirken, sind auf dem letzten Stand. Der grundlegende Trick ist die maximale Vereinfachung einer offensichtlich komplizierten Realität. Es ist notwendig, ein erkennbares Feindbild zu schaffen. Dafür wird eine Entindividualisierung des Gegners durchgeführt, das heißt er wird seiner persönlichen Eigenschaften beraubt. Dann wird der unpersönliche Feind dehumanisiert, alles Menschliche wird aus ihm ausgeschlossen und er wird als Monster dargestellt. Entsprechend dieser Merkmale wird die Tragödie von Odessa nur von einem bestimmten Winkel beleuchtet. Die beiderseitigen Ausschreitungen auf der Straße sind zweitrangig, die Fälle von gegenseitiger Hilfe der verwundeten Gegner*innen, sowie die Versuche, die Menschen aus dem brennenden Gewerkschaftshaus zu retten werden totgeschwiegen. Der Akzent, der auf die Gewalt der Fußballfans und des allgegenwärtigen „Rechten Sektors“ gelegt wird, überschattet die ganze Dynamik der Situation.
In diesem allgemeinen geopolitischen Bacchanal ist es erforderlich, den Kopf zu bewahren. Es ist wichtig, nicht patriotischem Betrugsgeflecht nachzugeben, ethische Richtlinien zu behalten und weiterhin zu denken. Das ist sowohl im Gefängnis möglich, als auch in der Freiheit. Und denjenigen, die mit ganzer Seele in die Reihen und Glieder der Finsterlinge und Imperialist*innen streben – wie sie im Knast sagen, aber aus anderem Anlass – „Grünen Weg, und kehrt nicht wieder!“ (Gute Reise und auf Nimmerwiedersehen)
Aleksej Polikhovitch
Untersuchungshaftanstalt „Butyrka“
Mai 2014
P.S. Ich bitte den Anwalt Agranovskij in Zukunft von der Weiterleitung meiner vermeintlichen Überzeugungen im Kontext seiner Ängste und Phobien abzusehen, und genauso von Verallgemeinerungen wie „alle Bolotniks“, „alle mir bekannten Bolotniks“ und ähnlichen im politischen Kontext, nicht direkt mit uns verbundenen Angelegenheiten. Es ist nicht nötig, in meinem Namen zu sprechen, außer beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (ECHR). Es ist nicht nötig, auf objektive Bemerkungen so beleidigt zu reagieren, dass man als Antwort darauf meine Angehörigen beschimpft. Ich hoffe, das Thema ist jetzt abgeschlossen.