Notiz über Mehrheit

Erstveröffentlicht: 
07.04.2014

Einerseits, so scheint es, hat es noch nie eine Gesellschaft gegeben, in der es wie in der unseren einfach und gefahrlos ist, nicht nur eine Meinung zu haben, sondern sie auch in die (mediale) Öffentlichkeit zu tragen. Auf meinem blog kann ich sagen und veröffentlichen, was ich will, und wenn es auch der größte Blödsinn wäre. Die Grenze meiner Rechte zur Äußerung wäre immer nur die Grenze zu den Rechten der anderen. (Gewiss sind diese Grenzen auch nicht vollkommen unabhängig von der Machtposition eines Menschen, über einen wehr- und machtlosen Mitbürger herzuziehen birgt weniger Gefahren, als über die Bundeskanzlerin oder den lokalen Mafia-Boss herzuziehen.)

 

Andrerseits aber waren wohl auch noch nie die Kräfte der Vereinnahmung, der Kontrolle, der Überwachung so groß wie derzeit. Meinungsäußerungen in den alten und neuen Medien scheinen geradezu prädestiniert, beim freien Umherwandern eingefangen und ins Netz des Mainstreaming gedrängt zu werden. Ein Gedanke ist kaum heraus, da ist er auch schon von Gedankenpolizisten umzingelt. Man kann gar nicht politisch und ökonomisch machtlos genug sein, um sich sogleich zum Gedankenpolizisten berufen zu fühlen. Offensichtlich interessiert es kaum, ob ein Gedanke dazu geeignet ist, die Adressaten weiter zu bringen, anzuregen oder zu befreien, bzw. das alles eher nicht zu tun. Was zählt ist, ob man diesen Gedanken haben und verbreiten darf oder nicht.

 

Das hat nicht das Geringste mit einem Zwang zur „politischen Korrektheit“ zu tun, denn dabei geht es nicht um eine Einschränkung der Gedankenfreiheit, wie es die rechte Kritik gern unterstellt, sondern um eine Form des semantischen Respekts. Es ist das ur-demokratische Recht über die eigene Bezeichnung auch dann mitzubestimmen, wenn eine Mehrheit es aus Gewohnheit oder auch aus Bosheit unterbinden will. Dass man ein Wort wie „Neger“ nicht benutzen soll (wenn es einem schon nicht die historisch-moralische Sensibilität bestimmt), hat mit dem Respekt vor Menschen zu tun, die mit diesem Begriff leidvolle Erfahrungen verbinden. Die größte Ignoranz spricht aus dem, der auf sein Mehrheitsrecht pocht, den Begriff weiter zu verwenden, weil er doch in sich gar nicht diskriminierend gemeint sei.

 

Nicht die political correctness sondern ihre Gegnerschaft ist es, die das Denk- und Sprechverbot generiert, denn sie impliziert das Recht einer Mehrheit, sich (schon einmal) verbal respektlos gegenüber einer Minderheit zu verhalten.  Und sie generiert das Recht auf Gefühl- und Gedankenlosigkeit. (Damit soll nun wiederum nicht gesagt werden, dass so etwas wie political correctness nicht ihrerseits wiederum „gedankenpolizeilich“ – und zugleich gedankenlos – verwendet werden kann: Respekt und Würde können niemals „verordnet“ werden, wohl aber kann es zu ihrer Realisierung Verständigungen geben.)

 

Vielleicht ist es sogar noch komplizierter, die Geschichte des Diskurses scheint es indes nahezulegen: Der Widerstand gegen die Zumutung des politisch korrekten Sprechens erzeugt das Gefühl einer (gekränkten) Mehrheit anzugehören. Diese Illusion verbindet im Übrigen den äußeren rechten Rand, der mit so etwas strategisch umzugehen weiß, mit einer Mitte, die eher aus Gewohnheiten denn aus Ideologie heraus argumentiert. Man muss nur seine Arbeit oder seine Gesundheit verlieren, um selber sehr rasch zu einer verachteten Minderheit zu gehören, zu einem „Assi“, „Proll“, „Spast“ oder „Krüppel“ zu werden.

 

Es gibt traditionelle Instrumente des gedankenpolizeilichen Mainstreaming wie etwa eine „Bild“-Zeitung. Es handelt sich dabei um ein durchaus terroristisches Mittel zur Gleichschaltung der Meinungen und Geschmäcker, das deswegen, neben „Aufregung“ auch Trost und Genugtuung verspricht, weil es immer „die Anderen“ sind, die auf solche Weise behandelt werden.

 

Im „Shitstorm“ haben sich die neuen Medium ein schnelleres und probateres Mittel des Mainstreaming und der gedankenpolizeilichen Behandlung von Dissidenz geschaffen. Man bezeichnet damit Reaktionen auf eine Meinung, die nichts mehr mit der Formulierung einer Gegenmeinung zu tun haben, sondern von moralischer Empörung über die Forderung nach einem Verbot des abweichenden Gedankens bis hin zum Bedrohungsszenarium und zur Vernichtungsphantasie reichen.

 

Aber selbst wenn solche semantischen Massen sich insgesamt zivilisierter geben, verlieren sie nichts von ihrem Unterdrückungspotential. Warum entfaltet sich etwa gegen den Moderator einer belanglosen Fernsehsendung (der man, anders als einer Regierung, einfach entgehen kann, indem man einen Ausschaltknopf betätigt) ein solcher Mediensturm? Etwa weil eine Fernsehsendung für viele Menschen schon mehr „Lebensmittelpunkt“ und Identifikationsfläche ist als Politik, Arbeit, Familie und Gesellschaft? Oder weil man weiß, dass in diesem Fall die Fähigkeit zur Gegenwehr limitiert ist?

 

Eine der Triebkräfte des militanten Mainstreaming ist die Magie der Zahl; es geht daher nicht mehr darum, dass eine Mehrheit (die es in einer komplexen Gesellschaft wie der unseren gar nicht mehr geben kann), Instrumente und Sprachen gegen Minderheiten bzw. dissidente bzw. zum Opfer erkorene Einzelne entwirft, sondern es geht vielmehr umgekehrt darum, durch bestimmte Instrumente und Sprachen das Empfinden „Mehrheit“ als Affekt zu erzeugen.

 

Und nun begreifen wir, warum eben dieser Fernsehmoderator „geopfert“ werden muss: weil er den Affekt „Mehrheit“ mit einem Instrument, das zu genau diesem Zweck geschaffen wurde, nicht (mehr) erzeugen kann. Er ist der Sündenbock dafür, dass das Medium selber, dessen man sich so vergewissert hat, einen solchen Affekt nicht mehr erzeugen kann. Er soll Schuld daran sein, dass sich das Gefühl der Mehrheit anzugehören, nicht mehr einstellen will.

In der Gesellschaft des Finanzkapitalismus gibt es keine durch Lebensbedingungen, Überzeugungen, Erfahrungen, Werte und so weiter gebildete Mehrheit mehr. Zur gleichen Zeit aber gibt es auch keine Kultur, die das Leben jenseits des Mehrheitsempfindens unterstützen und organisieren könnte. Genau das Gegenteil findet statt, nämlich die Erzeugung künstlicher, temporärer Mehrheiten durch die Kultur von Finanzkapitalismus und Postdemokratie.

„Mehrheit“ ist eine mediale Simulation (natürlich begleitet von ideologischen Parasiten), die sofort zusammenbricht, wenn man sich selber und seinen Mitmenschen nur einmal genauer ansieht. Also muss „Mehrheit“-bilden genau darin bestehen, das nicht zu tun. Mehrheitsfähig sind demnach alle Rituale, Symbole, Narrative, Events usw., welche geeignet sind, uns von der Betrachtung der eigenen sowie der Lebenssituation des Nächsten abzuhalten. Eine Bild-Zeitung sagt vor allem Anderen (noch vor den klammheimlichen Wünschen) etwas über die Gier ihrer Konsumenten aus, „Mehrheit“ zu sein. (Die Geschichte dieses Mediums wird zu Ende sein, wenn es diese Aufgabe nicht mehr erfüllen kann, was mittelfristig abzusehen ist, auch wenn es so unvorstellbar scheint wie das unrühmliche Ende von „Wetten, dass…?“)

 

In der zerfaserten Gesellschaft des Finanzkapitalismus wird die Herstellung der Mehrheitssimulation immer schwieriger, das Bedürfnis danach freilich auch immer größer. Daher laden sich zwangsläufig die Rituale der Mehrheitssimulation mit immer mehr Regression und mit mehr Aggression auf. Mehrheitsfähig auf dem deutschen Büchermarkt, nur zum Beispiel, sind nur noch Bücher, die fundamentale Regression (der eigene Körper, die eigene Küche, die eigene Familie) oder fundamentale Aggression (Hasspredigten, wie die von Sarrazin oder Pirinçci) bieten, und am besten beides miteinander verbunden. Verkauft werden immer nicht nur „böse Gedanken“ (aus dem Gestus: „Wird man doch wohl noch mal sagen dürfen.“), sondern die Illusion einer Mehrheit anzugehören bzw. sich ihr zugehörig machen zu können (und sei es durch die richtige Mischung aus Küchenkunst und Diätplan).

 

Das „Wir“, das die ökonomische und politische Praxis pausenlos weiter auflöst (jeder ist Konkurrent von jedem; jeder muss für sich selber sorgen) wird medial und kulturell wieder erzeugt und von genau jener Politik instrumentalisiert, die es zuvor zerstört hat. Bei dieser Schleife allerdings hat es sich mit einem Aggressionspotential aufgeladen – da man so gut wie nicht mehr Mehrheit für etwas, sondern immer nur Mehrheit gegen etwas sein kann –, dass es am Ende selbst für die schamlosesten Formen des „neuen Regierens“ gefährlich wird.

 

Zur Mehrheit zu gehören, die sich durch wirkliche Lebenspraxis und Interessen nicht mehr bilden kann, wird unter solchen Bedingungen zu einer Lebensaufgabe, zu deren Erfüllung man allerlei entwürdigende Rituale zu durchlaufen bereit ist. Da wirft man sich schon mal in Kleidung, die einem gerade noch mega-peinlich vorgekommen ist, da benutzt man Worte, die einem gestern noch als barbarisch erschienen, da freut man sich über die unsinnigsten Triumphe in unsinnigen Sportarten, weil es „uns“ so gut tut.

 

So begreifen wir das Wirken der Gedankenpolizei in den alten und neuen Medien noch einmal. Sie wirkt nicht nur, weil es nun so leicht und gefahrlos geworden ist, andere Menschen zu terrorisieren, sondern auch, weil der Affekt Mehrheit so lebenswichtig wie flüchtig wurde. Da Mehrheit prekär wurde, und man zugleich nicht gelernt hat, ohne Mehrheit zu leben, klammert man sich an das Phantasma der „bedrohten Mehrheit“, und das nährt zugleich die horrende Angst, selber einmal, wie auch immer, „Minderheit“ zu sein.

 

Mehrheit ist keine Lebenserfahrung mehr und keine Erzählgemeinschaft (auch wenn man sich um das „Tatort“-Lagerfeuer versammelt, in der Gewissheit, dass diese Bilderzählungen Woche für Woche das Dissidente und den Mainstream austarieren werden), es ist ein Ineinander von Perforation und Imagination. („Tatorte“ handeln von tragischen und grotesken Einzelnen, die sich buchstäblich für die Mehrheit opfern.) Es ist eine Inszenierung. Ein Kipppunkt dieser Gesellschaft liegt dort, wo das Interesse an der Mehrheits-Inszenierung größer ist als die Organisation subjektiver Freiheiten (von Demokratie im klassischen Sinn wollen wir gar nicht erst reden).

 

Die Mehrheit, die Angela Merkel wählt, tut das mehrheitlich aufgrund ihrer Mehrheitsfähigkeit. Sie ist die gute Königin, die ihrem Volk das Mehrheits-Empfinden (zurück) gibt. Was um so notwendiger scheint, als ringsumher Mehrheitsfeiern entweder abgesagt werden, oder in ihrer Aggression und Regression paradoxerweise nicht mehr wirklich mehrheitsfähig sind.