Wie ein 1. Mai aussehen kann...

Abends um 6 Uhr, nachdem er/sie von einem harten und langen Arbeitstag heimgekommen ist und schnell in die warme Wohnung möchte, raucht er vor der Haustür noch schnell eine Zigarette. Danach nimmt er noch die Post aus dem Briefkasten heraus. Genervt und freudlos trägt er die Werbung, die behördlichen Mitteilungen und die Tageszeitung mit nach oben. Verwundert zieht er einen besonderen Brief hervor. "Von einem Mitmenschen" steht dort als Absender. Er liest ihn. Es scheint ein subjektiver Text zu sein, der verschiedene Fragen beinhaltet, die sich irgendwie um das Wort "Freiheit" drehen. Es wird schnell klar, dass das irgendein "Weltverbesserer"-Text sein müsse, von einem Anonymen. Aber irgendwie ist er unaufdringlich geschrieben, als möchte er von nichts überzeugen und für nichts überreden. Für keine Demonstration, für keine Petition, für keine Partei, für keine Ideologie. Am Schluss stehen sogar noch ein paar nette Worte, fast als wäre der Absender ein guter Freund. Es war eine Weltverbesserer-Schrift, aber völlig unpolitisch, eher im Sinne eines simplen, persönlichen Kunstwerks. Etwas verdutzt, aber doch erfreut lächelt er/sie und widmet sich den Briefen von der Stadtverwaltung, von der Versicherung und von der Bank. Vielleicht lässt sich soetwas als diffus links oder emanzipatorisch bezeichnen. Vielleicht auch nicht. Was es auch sei, es hinterlässt einen Eindruck an diesem Abend. Morgen wird der 1. Mai sein.


Am nächsten Morgen, wenn die Menschen durch die Straßen laufen, um zur lokalen Festivität zu kommen und zu betrinken oder um mit der Familie eine Wanderung durch die Natur zu machen, werden sie sehen, dass in der Nacht zum 1. Mai überall kleine Gruppen und wütende Jugendliche Spuren an den Institution der Macht hinterlassen haben. Nein, die Massendemos stehen noch bevor, aber auch schon in der Nacht gab es unangemeldete, unkontrollierte, individuelle Aktionen. In den Großstädten oft mit feuriger Entschlossenheit, aber auch auf dem Lande oder in der Kleinstadt, eher in Form einiger Farbbomben. Alles ist voller Parolen gesprayt, überall sind Aufkleber verteilt, der heutige Tag scheint ein Tag der unerhörten Meinung zu sein. Es wird viel geredet. Anderswo findet, gemäß dem Maydayprinzip, eine friedliche und tanzende Demoparade statt, das viele Menschen anlockt. Während in mancher Stadt eine Ansammlung von 10000 Menschen durch die Straßen marschiert, ziehen woanders stattdessen 1000 Gruppen von 10 Leuten durch die Stadt. Es ist eine auffällige Kreativität, die an diesen 1. Mai gelegt wird. Manche verteilen Flyer und Zeitungen, andere halten mit einem Megafon spontane Reden, eine Gruppe praktiziert einen Die-In, um auf die mörderische Logik des Bundeswehreinsatzes hinzuweisen. Manche verteilen fremden Leuten Essen, dass sie am Tag zuvor dem Warenzyklus entrissen haben, andere zerreißen Werbeplakate oder entwerten Fahrkartenautomaten. Wenn es dann dunkel wird, werden viele den noch eher friedlichen Tagesablauf unterbrechen und sich mit den Verhältnissen radikal und militant auseinandersetzen. Andere werden wieder heimfahren und die Fahrt im Zug selbst noch zu einer Aktion machen und die eintönigen Sitze und Wände mit Flyern und Aufklebern verschönern.

Warum nicht so? Zeichnen wir diesen Tag durch das aus, durch dass er sich von den anderen abhebt, durch den Bruch mit der Normalität, durch die Auseinandersetzung mit dem Bestehenden, auf vielfältige Art und Weise.

Für die Mischung aus Quantität und Qualität, zentral und dezentral, produktiv und destruktiv.

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dat is jut!

einen Stein zu werfen. Aber manchmal ist es viel radikaler, mit seinen Nachbarn zu reden!"

 

So oder so ähnlich ist ein Zitat von Naomi Klein, dem ich voll und ganz zustimmen kann. Ist das, was mir so grad spontan zu diesem Text im Sinn gekommen ist.

... schafft diesen Tag der ARBEIT endlich ab -    ---- auch wenn ich mit vielen  Ideen deines Textes einverstanden bin --- und mensch das ja nun wirklich nicht jeden tag machen kann (?)

Sie hatte gestern einen harten Arbeitstag und war heute schon auf der Gewerkschaftsdemo, die ihr inhaltlich nicht weit genug ging - nun möchte sie noch auf die "revolutionäre Maidemo".

 

Sie kommt an - und niemand ist besoffen oder sonstwie zugedröhnt.

Die Redebeiträge sind allgemein verständlich. 

Die Demoteilnehmer achten aufeinander - und nehme auch Rücksicht auf diejenigen, die nicht zu ihrer "Bezugsgruppe" gehören.

Niemand gefährdet fahrlässig seine Mitdemonstrantinnen, nur um sich besonders martialisch in Szene zu setzen.

Niemand rennt andere Demoteilnehmer um, nur weil sich in 50 Meter Entfernung ein Bulle bewegt hat.

Niemand lässt auf der Demoroute leere Glasflaschen fallen, an denen sich andere Demoteilnehmer verletzen können.

Nicht jeder 19jährige Dorfpolizist, der an diesem Tag nach Berlin gekarrt wurde, wird deshalb von irgendeinen Vollpfosten gleich als Todfeind betrachtet, dem man Pyros ins Gesicht werfen darf.