Marginalisierte Jugendliche und prekarisiertes Leben + ein Toter/ eine Tote getötet vom Repressionsapparat, der seine diskriminierenden Motive zu verschleiern sucht = Aufstand?
Eine mathematische Formel, die sich in der Geschichte bewährt zu haben scheint. Doch es handelt sich hier nicht um ein einfaches 1+1=2, sondern um eine komplizierte Textaufgabe, bei der das Kleingedruckte gelesen werden muss.
Wer in Deutschland darauf wartet, dass diese Formel ihre Wirkung entfaltet, der/die wartet vergebens. Denn Tote gab es bereits genug. Sie kamen aus verschiedenen marginalisierten Gruppen und Schichten, manchmal hat ihr soziales Umfeld mit Wut reagiert und manchmal ist es stumm geblieben. Es gab und gibt Unterstützung und Ansätze zur gemeinsamen Organisation zwischen verschiedenen betroffenen und nicht betroffenen Gruppen. Die Umstände waren da (es gibt hier sogar Jugendarbeitslosigkeit!), allein ein Aufstand blieb bisher aus.
Gleichzeitig geht die ganze Scheiße immer weiter. Einerseits befinden sich immer mehr Menschen in einer verzweifelten Lebenslage, andererseits scheint es dem fetten Nashorn Deutschland verdammt gut zu gehen. Während gewartet wird auf den richtigen Moment, weisen gesellschaftliche Diskurse den Weg nicht hin zu einer emanzipatorischen sozialen Revolte, sondern zur Verfestigung der herrschenden Normalität bis hin zur Salonfähigkeit sozialdarwinistischer Vorstellungen und der Tolerierung neofaschistischer Ideen. Moral wird delegiert an einige Wenige, die den Banken ins Gewissen reden möchten und rassistischer Gewalt begegnen, indem sie um ein bisschen mehr Toleranz bitten. Im Zuge der Extremismusdebatte wird gleichzeitig alles kriminalisiert, was der Gesamtscheiße im emanzipatorischen Sinne an den Kragen will.
Es geht also um eine sehr komplexe Textaufgabe. Werden einzelne Faktoren nicht berücksichtigt, kommt bei der Berechnung der aktuellen Lage Blödsinn heraus. Gleichzeitig kann mensch nicht alles auf einmal denken und muss letztendlich irgendwo konkret ansetzen. Das sollte allerdings nicht davon abhalten, das große Ganze im Blick zu behalten und darauf zu verweisen, sich mit der Realität wie sie uns erscheint immer wieder rückzukoppeln.
Zu versuchen alles mitzudenken heißt nicht gleichzeitig, sich aus der eigenen Subjektivität lösen zu können. Es ist nicht möglich, die eigene Subkultur (und derer gibt es viele, die der Autonomen ist nur eine unter tausenden) hinter sich zu lassen um sich mit einer imaginären Masse von Leuten im Aufstand zu vereinen. Es wird immer aus der eigenen Position heraus gehandelt. Wenn wir etwas zu einer möglichen Revolte beitragen wollen (und dieses „wir“ ist in diesem Fall ein autonomes, anarchistisches, linksradikales, emanzipatorisches etc.), müssen wir bei uns selbst ansetzen und uns selbst bewegen.
Wenn wir einen Aufstand wollen, dann müssen wir etwas tun. Etwas zu tun erschöpft sich nicht darin, andere Menschen per Plakat (am besten noch im Szene-Chick und in Szene-Sprache) dazu aufzurufen, eine soziale Revolte loszutreten. Da müssen wir schon selbst ran. Doch wie nur? Ganz ehrlich, uns fällt keine einfache Antwort ein. Wahrscheinlich sind wir ziemlich schlecht in Mathe. Doch das ist kein Grund, die Hände in den Schoß zu legen, vielmehr ein Grund, um zu experimentieren.
Es mag ein bisschen weit hergeholt erscheinen, Tage des Aufstands auszurufen und zu hoffen, dass sich innerhalb dieser Tage etwas entwickelt. Doch dass sie vermutlich nicht eine breite Revolte entfachen werden heißt nicht, dass sie zu nichts führen: Die Insurrection Days bieten sowohl einen gedanklichen wie einen konkreten Ort um sich zu treffen, sich aufeinander zu beziehen, um Bande enger zu knüpfen. Eine soziale Wirklichkeit zu flechten unter selbstgewählten Vorzeichen, die Respekt im Umgang miteinander propagieren, diskriminierendes Verhalten ablehnen und dieses konsequent bekämpfen. Einen Ort um die herrschenden Verhältnisse zu bekämpfen, sei es ihre Erscheinung im Gewand des kapitalistisch orientierten Staates oder in unserem eigenen durch entsprechende Sozialisation geprägten Verhalten.
Es tut gut, mit Vielen zu kämpfen und an einem Diskurs mitzuflechten, der letztendlich die Welt genau wie alle Diskurse mitprägt. Und es ist wichtig, diesen Diskurs des „diese Scheiße muss enden und es muss ein Anderes geben“ im emanzipatorischen Sinne zu prägen und immer wieder auf's Neue für sich zu beanspruchen, denn neofaschistische Kreise schlafen nicht und machen sich das Potential der Ablehnung gegenüber den Verhältnissen zu Nutze. Von staatlicher Seite ist es ebenfalls leichter, eine Revolte zu entpolitisieren und zu kriminalisieren, wenn es keine starke emanzipatorische Bewegung gibt, die es schafft ihre Inhalte in den gesellschaftlichen Diskurs einzubringen.
Ein Aufstand hat Stärke und Gewicht, wenn er dem Bestehenden etwas entgegensetzt, was nicht verschwindet, sobald die Barrikaden heruntergebrannt sind. Wir wünschen uns einen Aufstand an jedem Ort und zu jeder Zeit, doch herbeireden können wir ihn nicht. Wir können aber an unserem sozialen Netz weiter knüpfen, versuchen es reißfest zu machen, und durch die Propaganda der Tat am Diskurs mitwirken in einer Sprache, die über die Subkulturen hinweg verstanden werden kann.
Sicher gibt es an dem Konzept viel zu kritisieren. Eine ernstzunehmende Frage ist, ob kaputte Scheiben an Niederlassungen einiger prominenter Vertreter_innen des Schweinesystems nicht eher (getragen durch die Darstellung in den dominanten Medien) eine Stärkung von Staat und regierungsbejaenden Meinungen zur Folge haben, statt den Diskurs in die gewünschte Richtung zu lenken. Auf die Frage gibt es momentan keine befriedigende Antwort. Und somit bleibt uns nichts anderes übrig, als an dieser kniffeligen Textaufgabe mit vielen Unbekannten weiter zu tüfteln und durch Versuch und Irrtum und Reflektion der Lösung vielleicht ein Stückchen näher zu kommen.
In diesem Sinne: smash the system, wenigstens ein bisschen!
Ob auf den Insurrection Days oder an jedem Ort und zu jeder Zeit.
Hier der original Aufruf http://insurrectiondays.noblogs.org/
und die Diskussion zu den Insurrection Days http://insurrectiondays.noblogs.org/diskussion/
Ein Aufstand ist keine Weltmeisterschaft
d. h. grenzenlose Dekonstruktion lohnt sich, oder frei nach Tiqqun: Ein Aufstand in Deutschland kann nur erfolgreich sein "im Abschluss eines Prozesses, der überall sonst schon weiter fortgeschritten sein wird als dort."
... wenn dem so ist ...
... sollten wir wohl überall sein und die Aktivitäten dort unterstützen, nur nicht hier. Denn wenn D eh zum Schlusslicht der Veranstaltung determiniert ist, ist es für den Weltenlauf gleichgültig, ob heute hier Menschen am Aufstand arbeiten oder nicht ... Ja, wenn ...