[B] Kein Verlust - Anmerkungen zum abgesagten "Queer Liberation March"

SIAXT

Von 1998 bis 2013 fand der „transgeniale CSD“ in Kreuzberg 36 und Umgebung statt; 2014, 15 und 16 traten „Ein CSD in Kreuzberg“, ein „Kreuzberger CSD“ und ein „X*CSD“ an seine Stelle.1 Dieses Jahr wurde in vorletzter Minute (für vergangenen Samstag) zu einem „Queer Liberation March“ (nunmehr in Schöneberg) aufgerufen2 und der Aufruf in letzter Minute wieder zurückgezogen3.

Die folgenden Thesen sollen deutlich machen, daß die Absage der geplant gewesenen Veranstaltung der inhaltlichen Dürftigkeit des  Aufrufs zu ihr und dem parallel dazu der Siegessäule (als „queer“ gelabeltes, monatlich in Berlin erscheinendes, werbefinanziertes Magazin) gegebenen Interview adäquat ist, womit nicht gesagt sein soll, daß die früheren tCSD von größerer inhaltlicher Qualität gewesen wären4.

 

QLM-Aufruf: „Der CSD in Berlin ist eine Zurschaustellung von Pinkwashing von Firmen und staatlichen Institutionen, deren Präsenz in dieser Parade nur dazu dient ihre Profite und Macht auszubauen während ihre Policies weiterhin auch uns gegenüber Repression fortführen.“

 

Kritik: Der CSD in Berlin ist vielmehr in erster Linie eine riesengroße Party – nebenbei mit bescheidender reformistischer/anti-rechtspopulistischer Agenda. Wie bei jeder riesengroßen Party kommen dabei auch kommerzielle Interessen zum Zuge; wie bei jeder reformistischen oder bloß anti-rechtspopulistischen Initiative gibt es dabei auch die Tendenz zur Legitimation (und zugleich Kritik an) staatlicher/n Institutionen.

Diejenigen, die sich in erster Linie in Abgrenzung von solch einer Veranstaltung definieren, beweisen/kaschieren damit nur ihre eigene Plan- und Begriffslosigkeit.

Daran ändert sich auch nichts, wenn zugleich von „Policies“, mit denen Firmen und jene staatlichen Institutionenweiterhin auch uns gegenüber Repression fortführen“, gesprochen wird, aber dabei weder gesagt wird, wer mit „uns“ gemeint ist, noch jene „Policieskonkret benannt werden.

Diesem Mangel hilft auch das Siegessäulen-Interview nicht ab, wo es u.a. heißt: Der CSD, wie wir ihn verstehen, ist kein Tag für PolitikerInnen, um Fotos zu machen und ihre Toleranz vorzuführen. Auch kein Tag für Unternehmen, um von unserer Ausbeutung zu profitieren, oder für die Polizei, um ihr Image aufzubessern, während sie gleichzeitig unseren Widerstand zum Schweigen bringt. Denn wiederum bleibt unklar, wer mit „uns“ gemeint ist. Können queers … (what ever) keine AusbeuterInnen sein? Ist/Wird eine anti-homophobe Initiative dadurch weniger anti-homophob, daß sie nicht zugleich gegen Kapitalismus, Patriarchat, Rassismus, what ever gerichtet ist?!

Sind PolitikerInnen alle gleich – von NPD bis Linkspartei, DKP, MLPD, Die Frauen? Sind politische AktivistInnen, die nicht ParteifunktionärInnen sind, aber trotzdem einen großen Teil ihrer Zeit für Politik verwenden, keine „PolitikerInnen“? Und falls ja, warum nicht? Oder ist das ‚Schlimme’ nur das Fotos machen?

Und wessen Widerstand wogegen ist gemeint?

 

QLM-Aufruf: Die bisher angekündigten Alternativen zur kommerziellen CSD-Parade sind bislang nur auf Zelebrierung fokussiert5, und während dies zwar ein essentieller Bestandteil von CSD ist da unsere Erfolge und unser Überleben feierwürdig sind, ist es dennoch wichtig uns in Solidarität und Affinität mit jenen in unseren Communities zu positionieren, die weiterhin stark ums Überleben kämpfen (people of colour, trans, intersex, Menschen mit Behinderungen, Arbeiter_innen, Frauen, Geflüchtete und asylsuchende Queers).“

 

Kritik: Welche Erfolge sind gemeint, wenn doch angeblich soviele ums bloße Überleben kämpfen müssen: people of colour, trans, intersex, Menschen mit Behinderungen, Arbeiter_innen, Frauen, Geflüchtete und asylsuchende Queers?! Wieviel Prozent der Weltbevölkerung (oder auch der Bevölkerung in Deutschland) bleiben übrig, die weder „Arbeiter_innen“, noch Frauen noch people of colour etc. sind?! Welche zu feiernden „Erfolge“ bleiben also übrig, wenn angeblich nur ein einstelliger Prozent-Anteil von Kapitalisten, die weder schwarz noch trans noch inter noch behindert sind, nicht ums Überleben kämpfen müssen?!

Und was ist bitte sehr eine community (Gemeinschaft)?! – Ich würde sagen: Die Ersetzung von Gesellschaftsanalyse und Politik durch Kultur und Identität.

 

QLM-Aufruf: Es steht heutzutage zu viel auf dem Spiel in einem Klima von ansteigendem Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Islamofeindlichkeit, Klassizismus, Sexismus, Antisemitismus, Ableismus, Homofeindlichkeit, Transfeindlichkeit und Transmysogynie.“

 

Kritik: Vieles wird angetippt; nichts wird analysiert; zu nichts wird revolutionär Partei ergriffen; zu nichts wird eine Strategie vorgeschlagen. Es bleibt beim Beklagen der moralischen Schlechtigkeit der Welt.

Der Aufruf ist eine einzige Litanei.

 

QLM-Aufruf: „Es wäre problematisch einfach zu schweigen und damit zur Unsichtbarmachung von Kämpfen unserer Communities beizutragen.“

 

Kritik: Was heißt „Unsichtbarmachung“? Welche Kämpfe sind gemeint? Werden sie unsichtbar gemacht oder sind sie für Außenstehende nicht zu sehen, weil es sich um selbstbezügliche Szene-Beweihräucherung handelt?

Diejenigen, die zu diesen Fragen nichts zu sagen haben, sollten sehr wohl besser schweigen statt mit Phrasen zu nerven.

 

QLM-Aufruf: „Lasst uns das Narrativ des Pride wieder an uns reißen aus den Händen von Firmen und Staat und stattdessen unsere Erfahrungen, Kämpfe und Erfolge als Community zentrieren.“

 

Kritik: Nein, ich will kein „Narrativ“ an mich reißen. Und ich bin auch nicht „stolz“ (pride), einen deutschen Paß zu haben, trans und lesbisch und KommunistIn zu sein. Ich will mich auch nicht auf eine Gemeinschaft zentrieren, sondern die gesellschaftlichen Verhältnisse verändern.

 

QLM-Aufruf: „Lasst uns zusammenkommen und die Schönheit und Komplexität der vielen Intersektionen von Erfahrungen feiern, die unsere Community verkörpert, und gemeinsam für die Kämpfe um unsere Befreiung eintreten.“

 

Kritik: Wovon soll denn überhaupt befreit werden, wenn doch angeblich die „Intersektionen [… unserer] Erfarungen“ von feiernswerter Schönheit sind?

In Wirklichkeit ist „Intersektionalität“6 vielmehr ein Begriff zur Analyse oder zumindest Beschreibung der Überlagerung verschiedener Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse sowie Diskriminierungen, und die Erfahrungen, die die Menschen machen, sind das Produkt der herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse – sie sind nicht zu feiern, sondern zu analysieren:

Experience [… is] not the origin of our explanation, not the authoritative (because seen or felt) evidence that grounds what is known, but rather that which we seek to explain, that about which knowledge is produced. […]. Experience is, in this approach, not the origin of our explanation, but that which we want to explain.7

 

QLM-Aufruf: „Das ist ein Aufruf aktiv zu werden und ein Aufruf an Individuen und Institutionen innerhalb queerer Communities eine Koalition zu bilden um sowohl gegen das Pinkwashing durch Firmen und politische Parteien zu marschieren als auch gegen die Unsichtbarmachung von Kämpfen von PoCs, Trans, Intersex, Geflüchteten, Asylsuchenden, Arbeiter_innen, Menschen mit Behinderung, und Frauen.“

 

Kritik: Dieser Satz bringt nichts Neues, die Pinkwashing-These; der prinzipielle Anti-Parteien-Affekt und die These von der „Unsichtbarmachung von Kämpfen“ waren oben schon Thema.

 

OLM-Aufruf: „Wir marschieren für unsere Menschlichkeit, unsere Würde, unseren Zugang zu Krankenversorgung, Arbeit, bezahlbaren Wohnraum, für Gerechtigkeit und ein Ende von Gewalt durch den Staat, unser Recht auf Mobilität.“

 

Kritik: Das setzt zwar teilweise die thematischen Akzent anders als der mainstream-CSD, ist aber kein Deut revolutionärer; thematisiert kein bißchen die verschiedenen gesellschaftlichen Strukturen und deren Funktionsweisen und die Möglichkeiten, dagegen Widerstand zu entwickeln.

Das Beschwören „unsere[r] Würde“ beschränkt sich darauf, Art. 1 des Grundgesetzes der BRD beim Wort zu nehmen; der Humanismus ist eine Ideologie, die die gesellschaftlichen Widersprüche verdeckt (s. Kasten in der beigefügten .pdf-Datei).

Im übrigen beschränkt sich der gerade zitierte Satz darauf, einfach eine reformistische Agenda an die Stelle einer anderen reformistischen Agenda zu setzten – aber es wird nicht gesagt (und es ist auch nicht ersichtlich), warum die eigene Agenda (des QLM) dem Jahrestag des Stonewall Riot in der Christopher Street in New York angemessener sein soll als die des mainstream-CSD.

(Es käme ja – richtigerweise – auch niemandE auf die Idee am 1. Mai die reformistische Agenda des DGB durch die reformistische Agenda des mainstream-CSD zu ersetzen.)

Der zitierte Satz ist erneut das, was ich bereits bei früherer Gelegenheit als bloß „geliehene Radikalität“ kritisiert hatte:

Nach dem queeren Szene-Weltbild scheint es – jedenfalls nach dem Aufruf für den letztjährigen Berliner transgenialen CSD und den Aufrufen für die Vorjahre8 zu urteilen – für Schwule und Lesben (als Schwule und Lesben), die nicht trans- oder intersexuell sind, für Frauen gar (als Frauen), die keine Lesben sind, an den ‚deutschen Zuständen(S. 380) nicht viel auszusetzen zu geben. […]. Das hat einen doppelt problematischen Effekt:

1. Auf dem originären Feld von queer politics (die Aneignung des Begriffs und die Entwicklung entsprechender Politikformen erfolgte in den USA bekanntlich im Kontext der AIDS-Krise und den daran anknüpfenden Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen) hatprogressive’ (deutlicher: autonome, linksradikale) queer Politik dem queeren mainstream überhaupt nichts entgegenzusetzen. Die Radikalität des tCSD im letzten Jahre war vollständig eine ‚geliehene’ – ‚geliehen’ durch Übernahme einiger Parolen des hetero/a/normativen Teils der autonomen Szene gegen Gentrifizierung, Militarismus und andere jeweilige Mode-Themen.

2. Wenn also ‚queer’ in diesem ‚progressive’ (deutlicher: autonomen, linksradikalen) Sinne fast gar nichts zum Feld der Sexual- und Geschlechterpolitik zu sagen hat, dann ist queer in diesem Diskurs ein Ersatzwort für ‚autonom’, ‚linksradikal’ oder ‚revolutionär’. Und spätestens bei dem letzten Wort wird deutlich, worum es bei ‚queer’ geht: ‚revolutionär’ will auch in der ‚progressivequeer-Szene keineR ‚sein’ (genauso wenig wie beim mainstream-CSD); und eine revolutionäre Praxis entwickeln schon gar. Selbst die Wörter ‚autonom’ und ‚linksradikal’ werden – wiederum an den tCSD-Aufrufen gemessen – gemieden.

queer’ im Sinne dieser ‚progressivescene in Berlin zeichnet sich also nicht durch eine – gegenüber dem schwullesbischen mainstream – größere Radikalität auf sexual- und geschlechterpolitischem Felde, schon gar nicht durch mehr Feminismus aus, sondern ist einfach eine soft-Variante linksradikaler Politik: Glitter statt Steine; Sekt statt Bier. […].

Ich würde dagegen genau die gegenteilige (Begriffs)strategie vorschlagen wollen: nämlich queer gerade auf sexual- und geschlechterpolitischem Felde revolutionär zu profilieren; und dann müßten allerdings dazu noch andere revolutionäre Teilbereichs-Politiken hinzukommen. Dies würde freilich voraussetzen, über einen Begriff revolutionärer Politik zu verfügen, von dem aus diese Teilbereichs-Politiken entwickelt werden könnten – statt bestimmte Politikfelder (Flüchtlingspolitik, gentrification etc.) zu claimen, um damit die – trotz allem queer-postmodernem Getue – modernist identity bestimmter Szenen zu stabilisieren.
An nichts fehlt es ‚progressiver’ Politik seit 1989 aber mehr als an einem solchen Begriff revolutionärer Politik. Allerdings gibt es historische Überlegungen und Erfahrungen, an die angeknüpft werden könnte: Gegen den Strom. Versuch einer Aktualisierung der „Feministische[n] Kritik“ von 1993.“9

 

QLM-Aufruf: „Wir marschieren gegen Heteronormativität, Homonormativität, Homonationalismus, trans-ausschließende Politiken, und gegen den Rassismus, Sexismus und Ableismus sowohl innerhalb als auch außerhalb unserer Communities.“

 

Kritik: Dies läßt nach der obigen Aufzählung („ansteigendem Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Islamofeindlichkeit, [… usw.]“) eine weitere Aufzählung folgen; wiederum wird nichts analysiert; nichts erklärt; nichts einmal konkretisiert.

Kann „Homonormativität“ einfach so neben „Heteronormativität“ gestellt werden? Hat es überhaupt Sinn, in einer heterosexistischen Gesellschaft von „Homonormativität“ zu sprechen? Wären schwule und lesbische „Homonormativität“ (falls es sie denn gibt) ein- und dasselbe oder macht das patriarchale Geschlechterverhältnis einen grundlegenden Unterschied zwischen Männerbündelei/Maskulinismus und FrauenLesben-Separatismus?

Was wird alles als „trans-ausschließende Politiken“ denunziert? Wird das Recht auf Selbstorganisation von Cis-FrauenLesben anerkannt oder bekämpft? Was soll das Gerede vom Marschieren gegen Sexismus auch „innerhalb […] unserer Communities“, wenn zu den Fällen von sexueller/sexualisierter Gewalt und Belästigungen bei vergangenen alternativen CSD-Demos (tCSD, X*CSD)10 sowie dem Umgang mit ihnen kein (selbst)kritisches Wort verloren wird?!

 

QLM-Aufruf: Wir feiern Identitäten, unsere Freund- und Liebschaften, und die Vielfalt unserer Communities, and wir marschieren in Solidarität mit jenen von uns, die Gewalt und Repression erfahren in Berlin und im Rest der Welt.“

 

Kritik: Oh wie radikal... (dieses abstrakte Anti-Gewalt-Bekenntnis). – Als ob es revolutionäre Gesellschaftsveränderung und deren Verteidigung ohne Gewalt und Repression gegen die – absehbare – bewaffnete Konterrevolution geben könnte. Aber von Revolution spricht der QLM-Aufruf ja ohnehin nicht, er möchte stattdessen „unsere Identitäten, unsere Freund- und Liebschaften, und die Vielfalt unserer Communities“ feiern (wobei wiederum unklar bleibt, wer mit „uns“ gemeint ist). Queer theory war dagegen als Kritik von essentialistischer Identitätspolitik gestartet:

„[…] wo eine bestimmte Identitätskonfiguration anstrebt, ‚die Stelle des Wirklichen‘ einzunehmen, um durch Selbst-Naturalisierung die eigene Hegemonie zu festigen und auszudehnen, ist von […] revolutionärer Praxis nichts übrig geblieben als ein konkretistisches, reifiziertes, Politik lähmendes Fundament.“11
„Aus der Gruppe aus dem Umfeld des Wagenplatz Kanal wurden andere Teilnehmende als Cis-Macker, weiße Deutsche oder Nazi-Enkel bezeichnet. Diese Fremdzuschreibungen erfolgten nicht als Reaktion auf ein bestimmtes Verhalten, sondern schlicht nach Augenscheinnahme und ohne dass diejenigen, die sie vornahmen, wissen konnten, ob die so Bezeichneten unter anderem auch trans, migrantisch oder jüdisch sind. Unserer Meinung nach konterkarieren die beständigen identitätspolitischen Fremdzuschreibungen und essentialistischen Positionierungen die Kernidee von queerer Politik grundsätzlich. Wenn es bei politischen Differenzen und Konflikten nicht um die Inhalte, sondern zuallererst um Zuschreibungen und Identitäten geht, wird das Motto des diesjährigen X*CSD ‚Queer bleibt radikal’ ad absurdum geführt.“12

 

Dies heißt nicht, daß Identitäten in Politik keine Rollen spielen würden; aber queer theory war – gegen die Naturalisierung von Identitäten – mit der These angetreten, daß Politik und Gesellschaftliches an erster Stelle stehen und Identitäten – als Produkt davon – an zweiter13. Antiessentialismus heißt also zwar nicht, auf Identitäten zu verzichten, aber Antiessentialismus  heißt: „das Verhältnis von Identität und Politik vom Kopf auf die Füße zu stellen“14 – und folglich Identitäten als etwas gesellschaftlich Produziertes zu analysieren15. In der Berliner queer-Szene stehen dagegen vermeintlich innerlich-individuell gegebene Identitäten weithin an erster Stelle, und Politik kommt unter „ferner liefen“.

 

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In dem Interview, das die QLM-Vorbereitungsgruppe der Siegessäule gab,16 wurde der Vorbereitungsgruppe u.a. folgende Frage gestellt:

 

„Letztes Jahr gab das Thema ‚Pinkwashing’, das in Redebeiträgen auf der Kreuzberger CSD-Demo unter anderem auf den Staat Israel bezogen wurde, Anlass zu Diskussionen17. Beiträge der Gruppe ‚Berlin against Pinkwashing’ und des Wagenplatzes Kanal drückten Solidarität mit Palästina und der BDS-Bewegung (‚Boycott, Divestment, Sanctions’, also Boykott israelischer Waren) aus. Dies wurde von anderen Anwesenden auf der Demo scharf kritisiert: den Boykott-Aufruf gegenüber einem jüdischen Staat sahen sie als antisemitisch an. Was ist eure Position zu der Debatte? Wie definiert ihr den Ausdruck ‚Pinkwashing’?“

 

Die darauf gegebene Antwort lautete folgendermaßen:


QLM-Vorbereitungsgruppe: „[...]. Zum Problem des Antisemitismus und zur Diskussion letztes Jahr: wir haben beobachtet, dass es oft nicht-jüdische Deutsche sind, die definieren wollen, was Antisemitismus ist. Jede/r sollte sich gegen Antisemitismus einsetzen. Aber die Definition darüber, was antisemitisch ist, sollte schon Juden und Jüdinnen überlassen bleiben. Wenn jüdische Menschen und PalästinenserInnen über ihre Kämpfe sprechen wollen, unterstützen wir das.“


Kritik des Sätze, „die Definition darüber, was antisemitisch ist, sollte schon Juden und Jüdinnen überlassen bleiben. Wenn jüdische Menschen und PalästinenserInnen über ihre Kämpfe sprechen wollen, unterstützen wir das“:


Die zitierten Sätze ist typischer Berliner, queerer Betroffenheits-Subjektivismus18.


Richtig ist vielmehr Folgendes:

 

1. Diejenigen, die Begriffe verwenden, stehen – wenn sie nicht mißverstanden werden wollen – in der Pflicht, die Begriffe, die sie verwenden, zu definieren.

 

2. Der Verweis auf ‚Betroffene’ hilft dabei zumeist nicht weiter, da sich die ‚Betroffenen’ zumeist nicht einig sind, da sie zumeist in unterschiedliche politische Richtungen gespalten und zumeist auch nicht nur von einem gesellschaftlichen Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnis bzw. nur einer Diskriminierung betroffen sind, sondern von mehreren (sodaß zwischen den Betroffenen nicht nur politische, sondern auch gesellschaftliche [ökonomische] Widersprüche bestehen).

 

3. a) „Definitionsmacht“ kann sich also nicht auf die politische Theorie beziehen.


b) Sinnvoll ist „Definitionsmacht“ dagegen als Beweislast-Regel (bzw. Beweislast-Entlastung) in Fällen sexueller Gewalt und anderen Fällen.

 

4. Es gibt nicht nur einen Feind, gegen den alle möglichen Kämpfe geführt werden, sondern es gibt eine Vielzahl von Widerspruchslinien.19 Politische, individuelle und Kollektivsubjekte stehen oftmals in einem gesellschaftlichen Verhältnis auf der beherrschten und ausgebeuteten oder diskriminierten Seite und in einem anderen Verhältnis auf der herrschenden, ausbeutenden oder diskriminierenden Seite.

 

5. Dies führte dazu, daß das Verhältnis zwischen z.B. Feministinnen und Marxisten oder auch jüdischen Israelis und PalästinenserInnen oftmals alles andere harmonisch ist.

 

6. Es mag bezweifelt werden, ob sich Berliner CSD-Veranstaltungen per se zum Nahost-Konflikt positionieren müssen; aber wenn politische Gruppen Berliner CSD-Veranstaltungen zum Schauplatz des Nahost-Konfliktes machen, ist es etwas dünn sich auf, „Wenn jüdische Menschen und PalästinenserInnen über ihre Kämpfe sprechen wollen, unterstützen wir das.“, zurückzuziehen.

 

7. Einige Fragen, die sich zumindest beantworten lassen sollten:


a) Wird Israel nur pink-gewaschen oder ist Israel juristisch und gesellschaftlich tatsächlich pinker als die Lage in den besetzten Gebieten?


b) Was sind die Ursachen von Homo- und Transphobie und Patriarchat in Israel und den besetzten Gebieten? Liegt die Ursache dafür (jeweils) beim anderen nationalen Kollektiv oder gibt es dafür jeweils ‚interne’ Ursachen?

 

c) Ist es (Wäre es) für eine Veranstaltung, die sich in die Tradition des „politischen Widerstands und zivilen Ungehorsams“ (Siegessäulen-Interview) stellt, richtig, für einen (bürgerlich-patriarchalen) palästinensischen Staat zu streiten und den (bürgerlich-patriarchalen) israelischen Staat zu Gunsten des ersteren abzuschaffen?20

 

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Der QLM wurde schließlich mit folgender Begründung abgesagt:

 

so very sad to say we had to cancel the demo tomorrow. we were way too small of a team trying to make this happen (5 people), and in too little time. we didn't manage to organize enough people for a proper awareness team and we thought it better to cancel the demo then risk putting people in harm. we lost our driver today as well, so we wouldn't have even had a sound system. thankfully there are many other points of action during the day tomorrow where queers can raise their voice, and we encourage you all to do so. we hope that next year with more time and support we can make something happen. if you want this to happen next year, and can help make it happen, get in touch!!21

 

Anmerkungen:

 

1. Ich hoffe meinerseits dagegen, daß

 

  • diese Erklärung – nach dem Zerfall des tCSD und der Kurzlebigkeit des Kreuzberger / X*-CSD – den endgültigen Schlußpunkt unter die identitätspolitische Verwirrung der Berliner, sich als ‚linksradikal’ verstehenden queer-Szene setzt.

  • und es im nächsten Jahr keinen neuen Anlauf ohne vorherige rigorose (Selbst)kritik dessen gibt, was in Berlin seit der Zerstörung der Lesbenwoche 199722 unter dem Labeln „queer“ und „trans*“ passiert ist.

 

2. Eine solche (Selbst)kritik müßte – nach den öffentlich bekannt gewordenen Vorfällen von 201023, 201124 und 201625 und der jetzigen Absage unter anderem wegen we didn't manage to organize enough people for a proper awareness team – den bisherigen Umgang mit sexueller/sexualisierter Gewalt und Belästigungen sowie die fortwährende Reduktion des Patriarchats als strukturell-materiellem gesellschaftlichen Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnis26 auf „Sexismus“27 einschließen. 2012 (? – hinsichtlich des Jahres bin ich mir nicht sicher) wurde es sogar fertiggebracht, beim tCSD einen Flier mit einer langen Aufzählung von -ismen, bei deren Auftreten die Awareness-Struktur kontaktiert werden könne, zu verteilen, in dem allein sexuelle/sexualisierte Gewalt / Sexismus (oder wie auch immer zu bezeichnen) gar nicht erwähnt worden war...

 

Für eine Rückgewinnung des Begriffs der gesellschaftlichen Strukturen – statt queerem Subjektivismus und Individualismus!

 

Für eine Rekonstruktion des politischen revolutionär-feministischen Lesbianismus!

 

 

PS.:

 

Ein Vorschlag, den ich bereits 2011 für 2012 unterbreitet hatte – vielleicht mögen ihn ja welche 2018 aufgreifen:

 

Für einen femo-genialen tCSD 2012!

Für die Einreihung der queers in die feministische Front

http://theoriealspraxis.blogsport.de/images/Fr_einen_Femogenialen_tCSD_2012.pdf

 

 

PPS. – zum Weiterlesen, von Anderen (was einschließt, daß ich nicht alles, was dort steht, teile):

 

  • Escalating Identity

    Aus dem Vorwort zur deutschen Übersetzung: „Auch wenn ich nicht mit Allem übereinstimme oder Einiges andersgeschrieben hätte, so halte ich viele Punkte für extrem wichtig: die Kritik an einer Politik der Identität sowie der Kritik an einem Appell an die individuelle Haltung und eines vermeintlich antirassistischem Reformismus vor dem Hintergrund einer materiell manifestierten weißen Vorherrschaft. Vieles in dieser Diskussion muss noch gesagt werden. Dabei kann es helfen, jenen zuzuhören, die bereits an anderer Stelle ähnliche Konflikte führten. Ich hoffe, dass diese Übersetzung dazu beitragen kann.“

    https://linksunten.indymedia.org/node/107465 / https://linksunten.indymedia.org/en/system/files/data/2014/03/9476681025.pdf

 

 

  • Privilege Politics is Reformism

    https://blackorchidcollective.wordpress.com/2012/03/12/guest-post-privilege-politics/

    Privilege theory seeks to redress and describe the huge inequalities which materially, psychologically, and socially exist in society. While it is often accurate in its sociological analysis of such inequalities, it fails in crucial realms of actual struggle. […]. It ends up not being a theory of struggle, but a theory of retreat. Privilege theory’s main weakness are a tendency towards reformism, a lack of politics, and a politics of retreat.

 

3 http://www.facebook.com/events/1815633872086511/permalink/1830915390558359/?ref=1&action_history=null (die Facebook-Event-Seite wurde inzwischen gelöscht; ein fast vollständiges Zitat der Absage findet sich am Ende dieses Artikels).

 

4 Vgl. z.B. meine kritischen Anmerkungen zu den Redebeiträgen beim tCSD 2010 und zum Nicht- bzw. Quasi-Aufruf für den tCSD 2011: http://theoriealspraxis.blogsport.de/images/Worum_geht_es_dem_transgenialen_CSD_eigentlich.pdf und http://theoriealspraxis.blogsport.de/2011/06/25/transgenialer-csd-2011-in-berlin-ohne-offiziellen-aufruf/. S. außerdem (kritischer) Aufruf zu einem FLT-Block beim tCSD 2012: https://frauenlesbentrans.wordpress.com/2012/06/15/auf-zum-feministischen-flt-block-beim-tcsd-2012/.

 

5 So explizit der Aufruf zu einem „CSD Alternative / queer picnic“, das am Samstag vergangener Woche in der Hasenheide stattfinden sollte: „Wir wollen einen queeren Raum schaffen, der es uns ermöglicht unsere Identitäten zu zelebrieren“ (https://www.facebook.com/events/1197722610333521/). (FN von TaP.)

 

6 Für eine lexikalische Darstellung des Konzeptes siehe: http://gender-glossar.de/glossar/item/25-intersektionalitaet; zu seinen theoretischen und politischen Grenzen: http://theoriealspraxis.blogsport.de/2010/07/03/intersektionalitaet-und-gesellschaftstheorie/.

 

7 Joan W. Scott, Experience, in: Judith Butler / Joan W. Scott (Hg.), Feminists Theorize The Political, Routledge: New York, 1992, 22 - 40 (26, 38); vgl. ergänzend: http://theoriealspraxis.blogsport.de/2011/06/21/gegen-den-kult-vermeintlich-authentischer-erfahrungen-und-vermeintlich-reiner-theorieloser-fakten/.

 

8 S. meine damalige längere FN, die wie folgt endete: „Zusammenfassend läßt sich sagen: In den fünf Jahren von 2006 bis 2010 kam kein einziges Mal in den Aufrufen die Wörter ‚Patriarchat’, ‚patriarchal’, ‚Feminismus’ und ‚feministisch’ sowie ‚Geschlechterverhältnis’ vor; ‚sexistisch’ und ‚homophob’, wenn überhaupt, nur als einzelne Aufzählungspunkte unter vielen, aber nicht als zentrale Objekte queerer Gesellschaftsanalyse und queeren Widerstandes.

Die Aufrufe übernahmen die auch im hetero/a/normativen Teil der autonomen Szene üblichen Themen und hängten bestenfalls, als Betroffenheits-Anliegen, einen Satz Homophobie- und Sexismus-Kritik dran. Die gesellschaftlichen Verhältnisse als Ganze wurde aber nicht unter diesem Fokus analysiert und folglich auch nicht von dort aus eine politische Strategie entwickelt.“ (http://theoriealspraxis.blogsport.de/2011/05/05/heute-5-5-11-17-h-queere-globalisierung-imperialen-begehrens/#fn1304585093085n)

 

10 S. dazu unten FN 23 - 25.

 

11 Sabine Hark, ‚Jenseits‘ der Lesben Nation? Die Dezentrierung lesbisch-feministischer Identität, in: Verein Sozialwissenschaftliche Forschung für Frauen – SFBF – e.V. (Hg.), Zur Krise der Kategorien. Frau – Lesbe – Geschlecht, Selbstverlag: Frankfurt am Main, 1994, 89 - 112 (100, vgl. 89, 93 f., 98-100, 103).

 

13There is no gender identity behind the expressions of gender; [...].“ / „Hinter den Äußerungen von Geschlecht liegt keine Geschlechtsidentität; […].“ (Judith Butler, Gender Trouble, Routledge: New York, 1990, 25 / meine Übersetzung)

„die Geschlechtsidentität [ist] ein Tun, wenn auch nicht das Tun eines Subjekts, von dem sich sagen ließe, daß es der Tat vorangeht.“ (dies., Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, 49 – meine Hv.)

„Die Ideologie ruft die Individuen als Subjekte an.“ (Louis Althusser, Über die Reproduktion, VSA: Hamburg, 2012, 265; vgl. http://schaper-rinkel.eu/wp-content/uploads/2006/10/04schaper-r.pdf, S. 47)

„das Individuum wird [von der Ideologie] als (freies) Subjekt angerufen, damit es […] (freiwillig) seine Unterwerfung [unter die Ideologie und die gesellschaftlichen Verhältnisse] akzeptiert […]. Es gibt Subjekte nur durch und für ihre Unterwerfung.“ (Louis Althusser, Ideologie und Ideologische Staatsapparate (Anmerkungen für eine Untersuchung), in: ders., Ideologie und Ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie, Hamburg / Westberlin: VSA 1977, 108 - 153 [148] – Einfügungen in eckigen Klammern von mir; Original-Hervorhebungen getilgt)

 

14 Sabine Hark, a.a.O. (FN 11), 98; vgl. http://theoriealspraxis.blogsport.de/images/Kuschelsex.pdf, S. 11 f.

 

15 Auch wenn der Sozialkonstruktivismus – verglichen mit dem De-Konstruktivismus – eher zu einem starken Subjekt-Begriff tendiert, so spricht auch der Sozialkonstruktivismus nicht von der Individualistic (oder Voluntaristic), sondern von der Social Construction of Gender (hrsg. von Judith Lorber / Susan A. Farell, Sage: Newbury Park / London / New Dehli, 1991). In letzter Instanz (ultimately) entscheidend sind nicht die individuellen Handlungen, sondern die „institutional arenas“ (Candace West / Don H. Zimmermann, Doing gender, in: ebd., 13 - 37 [14]) – ich würde sagen: die widersprüchlichen gesellschaftlichen Verhältnisse –, die das individuelle Handeln und Denken bestimmen; das individuelle Handeln ist „socially guided“ (sozial gesteuert). Vgl. auf Deutsch: Regine Gildemeister und Angelika Wetter, Wie Geschlechter gemacht werden. Die soziale Konstruktion der Zweigeschlechtlichkeit und ihre Reifizierung in der Frauenforschung, in: Gudrun-Axeli Knapp / Angelika Wetterer (Hg.), Traditionen. Brüche. Entwicklungen feministischer Theorie, Kore: Freiburg i. Br., 1992, 201 - 254 (212).

Jedenfalls für MaxistInnen sollte dies einfach zu verstehen sein, denn Marx sagte: Die Menschen machen ihre Geschichte „unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen“ (MEW 8, 115 – meine Hv.). Marx’ „analytische Methode [geht daher] nicht von dem Menschen, sondern der ökonomisch gegebnen Gesellschaftsperiode“ – genauer gesagt: von den jeweiligen materiellen, gesellschaftlichen Verhältnissen – aus (MEW 19, 371). – Auch revolutionäre Politik ist nicht bloß ‚Wille und Vorstellung’, sondern Produkt gesellschaftlicher Widersprüche und deren analytischer Durchdringung.

 

17 S. dazu: Kollektiv der Rattenbar sowie einzelne Mitorganisator*innen, Statement zum X*CSD 2016 von Teilen des Orga-Teams; https://xcsd.wordpress.com/2016/10/04/statement-zum-xcsd-2016-von-teilen-des-orga-teams/ und Erklärung einiger Teilnehmerinnen zum X*CSD, https://xcsd.wordpress.com/2016/10/04/erklaerung-einiger-teilnehmerinnen-zum-xcsd/. (FN von TaP)

 

18 S. zur Kritik: Eine revolutionär-feministische Perspektive auf die „linksradikale, queerfeministische Perspektive“ (von Samstag) auf den 8. März; https://linksunten.indymedia.org/de/node/108153.

 

19 S. dazu: Wider den marxistischen und queeren Totalitäts-Anspruchs; http://TheoriealsPraxis.blogsport.de/2017/07/22/wider-den-marxistischen-und-queeren-totalitaets-anspruchs/ und das System, in dem wir leben“. Oder: Warum die kapitalistische Produktionsweise nicht das Ganze ist; https://linksunten.indymedia.org/de/node/108153.


20 S. zu diesen sieben Kritikpunkten meine Facebook-Diskussion mit Georg Klauda: https://www.facebook.com/georg.klauda/posts/1592002500832616.

 

22 Vgl. meinen Beitrag: De-konstruktiv oder destruktiv? – queer Lesbianismus, in: Gabriele Dennert / Christiane Leidinger / Franziska Rauchut (Hg.), In Bewegungen bleiben. 100 Jahre Politik, Kultur und Geschichte von Lesben, Querverlag: Berlin, 2007, 322 - 325 (324).

 

25 „Wir finden es unerträglich, dass auf dem X*CSD Menschen sexuell belästigt wurden. […] es [gab] in der Oranienstraße sexuelle Übergriffe. Die vorhandenen Unterstützungsangebote konnten nicht genutzt werden, da sie nicht ausreichend bekannt gemacht wurden. Für die Größe der Veranstaltung waren nicht genügend Ansprechpartner*innen und Anlaufpunkte auf der Straße sichtbar.“ (https://xcsd.wordpress.com/2016/10/04/statement-zum-xcsd-2016-von-teilen-des-orga-teams/)

 

26 Siehe dazu meinen Beitrag bei der Veranstaltung Klasse Frau – Zum Stand feministischen Kämpfens: https://soundcloud.com/umsganze/klasse-frau-zum-stand-feministischen-kampfens (Min. 27:15 ff. [33:45 - 36:20]) sowie meinen Text: Was heißt „strukturell“?; http://theoriealspraxis.blogsport.de/2017/05/30/was-heisst-strukturell/.

 

27 Während „Patriarchat“ ein struktureller Begriff ist, tendiert der Ausdruck „Sexismus“ dahin, auf einzelne Äußerungen und Handlungen zu fokussieren.

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Ein Recht Cis-FrauenLesben-Selbstorganisierung? Entweder es geht um Frauen oder um Menschen mit Vulva, dann müssten entweder Transweiblichkeiten mitorganisiert sein oder Transmännlichkeiten. Jede andere Selbstorganisierung ist exklusiv. Auch deshalb, weil FrauenLesben-Separatismus aus der Erkenntnis entstand, dass es ein Gegengewicht gegen patriarchale Herrschaft geben muss. Transfrauen repräsentieren diese Herrschaft nur für diejenigen, die ihre Genitalien mit Geschlecht gleichsetzen und damit bei den Wurzeln patriarchaler Herrschaft selbst verweilen.

"Ein Recht Cis-FrauenLesben-Selbstorganisierung? Entweder es geht um Frauen oder um Menschen mit Vulva, dann müssten entweder Transweiblichkeiten mitorganisiert sein oder Transmännlichkeiten."

 

Warum?

 

FrauenLesben*-Selbstorganisierungen ist gemeinsame Selbstorganisierung von Cis- und Trans-FrauenLesben. Sie mag manchmal oder oft sinnvoll sein; aber  warum sollte sie das Einzige sein, was feministisch legitim ist?  :o

 

Organisierung von Menschen mit Vulva wäre dagegen keine Organisierung ausschließlichen von FrauenLesben*, da sie - wie Du erkennst - Trans-Männer, die sich nicht als Teil des "lesbischen Kontinuums" (Adrienne Rich) verstehen, einschließen würde.

 

Cis-FrauenLesben-Selbstorganisierungen mag meinetwegen als Selbstorganisierung von Menschen mit Vulva, die keine Trans-Männer sind, definiert werden (wenn es Dir Vergnügen bereit - siehe dazu aber genauer am Ende). - Aber was sollte an einer solchen Organisierung feministisch illegitim sein?

 

FrauenLesbenTrans-Selbstorganisierung ist gemeinsame Selbstorganisierung von Cis- und Trans-FrauenLesben sowie Trans-Männern (auch wenn sie sich nicht als Teil des "lesbischen Kontinuums" verstehen). Auch diese ist manchmal sinnvoll. (Oder Deines Erachtens etwa nicht?) Trotzdem ist sie - um zum nächsten Punkt überzuleiten - "exklusiv", da Cis-Männer nicht dabei sind.

 

Jede andere Selbstorganisierung ist exklusiv.

 

Und?

 

Selbstorganisierung von Lohnabhängigen ist Organisierung ausschließlich (exklusiv) von Lohnabhängigen. Was sollte daran marxistisch oder anarchistisch illegitim sein? Selbst der bürgerliche Staat akzeptiert sie, macht sie zurecht zum Definitionsmerkmal von Gewerkschaften und nennt sie "Gegnerfreiheit": https://de.wikipedia.org/wiki/Gegnerfreiheit.

 

Revolutionäre Organisierung ist (gemeinsame) Organisierung von RevolutionärInnen (seien sie MarxistInnen, FeministInnen, AntirassistInnen, AnarchistInnen und nicht-anarchistischen Linksradikalen [im klassischen Sinne]). Sie mag manchmal oder oft sinnvoll sein; aber warum sollte sie das Einzige sein, was revolutionär legitim ist?  :o Oder ist sie - nach Berliner queer-Maßstäben - illegitim, da sie "exklusiv" ist (da ReformistInnen, GradualistInnen, Konservative und Reaktionäre an ihr nicht beteiligt sind)?

 

Kommunistische Organisierung ist (gemeinsame) Organisierung exklusiv von anarchistischen und marxistischen KommunistInnen. Ist sie - nach Berliner queer-Maßstäben - illegitim, weil nicht-kommunistische AnarchistInnen und Linksradikale an ihr nicht beteiligt sind (sie also "exklusiv" ist)?

 

Anarchistische Organisierung ist Organisierung exklusiv von AnarchistInnen. Ist sie - nach Berliner queer-Maßstäben - illegitim, weil MarxistInnen und nicht-anarchistische Linksradikale an ihr nicht beteiligt sind (sie also "exklusiv" ist)?

 

Was ist Deines Erachtens also (anscheinend) das Problem an "exklusiv"?

 

"Auch deshalb, weil FrauenLesben-Separatismus aus der Erkenntnis entstand, dass es ein Gegengewicht gegen patriarchale Herrschaft geben muss."

 

Genau!

 

"Transfrauen repräsentieren diese Herrschaft nur für diejenigen, die ihre Genitalien mit Geschlecht gleichsetzen und damit bei den Wurzeln patriarchaler Herrschaft selbst verweilen."

 

1. Der Biologismus ist zwar eine (von mehreren) Legitimationsideologien des Patriarchats, aber nicht dessen Wurzel - aber dies nur nebenbei.

 

2. Den Biologismus zu abzulehnen, heißt nicht zu verkennen, daß Cis- und Trans-FrauenLesben nicht dasselbe sind. Zwischen ihnen bestehen Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Ihr Erfahrungen und ihre gesellschaftliche Lage sind teilweise ähnlich; teils unterschiedlich. Socialisation matters. (Der wirkliche Unterschied zwischen Cis- und Trans-FrauenLesben ist also nicht die Vulva, sondern die unterschiedliche Sozialisation. Biologistisch sind nicht, Cis-FrauenLesben-Organisierung für feministisch legitim halten, sondern diejenigen, die den Unterschied zwischen Cis- und Trans-Frauen an der Vulva festmachen!)

Warum muß also also gemeinsame Organisierung ein Dogma sein, und warum sollte getrennte Organisierung, soweit ein Bedürfnis für sie besteht, illegitim sein? (Zur näheren Argumentation sei noch einmal auf meinen in FN 22 genannten Text verwiesen.)

Dein 2. Punkt ignoriert aber genau das, worauf ich hinaus wollte: Selbstorganisierung derjenigen, die in der machtvollen Position sind (in unserem Beispiel CisFrauenLesben) ist NICHT emanzipatorisch. Ebenso wie zum Beispiel die Selbstorganisierung von sogenannten Arbeitgeber*innen. Dieses Machtverhältnis zu legitimieren mit dem Sozialisationsargument, welches nichts anderes als die Verlagerung von der biologistischen auf die kulturalistische Differenz ist, ist Mist.

 

"Selbstorganisierung derjenigen, die in der machtvollen Position sind (in unserem Beispiel CisFrauenLesben) ist NICHT emanzipatorisch."

 

Daß das Beispiel ("in unserem Beispiel CisFrauenLesben") unter die Prämisse ("in der machtvollen Position") fällt, müßte ja aber erst einmal bewiesen werden. Daß eine solche Beweisführung möglich ist, erscheint aber sehr fraglich. Denn Trans-Weiblichkeiten wurden zum Teil jahrelang männlich sozialisiert, haben dabei (männliche) Durchsetzungstechniken gelernt, die nicht unter die durchschnittliche weibliche Sozialisation im Patriarchat fallen, und die patriarchale Dividende genossen, bevor sie ihr Trans-Coming out hatten.
Zu diesem Komplex habe ich schon mehrfach schriftlich und mündlich - öffentlich und nicht-öffentlich - Stellung genommen; ich habe zu diesem Thema auch noch einen weiteren (unfertigen) längeren Text auf Lager. - Vllt. komme ich dazu, ihn demnächst fertigzustellen und noch hinterherzuschieben. -

Nun ist mein obiger Text ja allerdings etwas länger als der eine Satz, mit dem Du nicht einverstanden bist. - Falls alle anderen Sätze meines obigen Textes unstrittig sind, wäre dieser eine verbleibende Satz wohl kaum des Streites Wert...

Was ist also mit meinen anderen Einwänden gegen das Berliner queer-Verständnis?

Danke für das Auseinandernehmen einer "Position", die diese Bezeichnung eigentlich schon garnicht verdient hat.