Die Strategie der parlamentarischen Opposition war vergeblich. Manche GegnerInnen des „Arbeitsgesetzes“ in Frankreich, das – wird es verabschiedet – für die Lohnabhängigen eine ungeheure Regression bedeuten wird, hatten auf Abgeordnete vom linken Flügel der Sozialdemokratie gesetzt. Umsonst.
Diese hätten vorige Woche dem Missantrauensantrag der bürgerlichen Opposition gegen die Regierung von Manuel Valls zustimmen können, um dessen Kabinett zu Fall zu bringen. Dies war die einzige Möglichkeit, die ihr blieb, die Annahme des Gesetzentwurfs zu verhindern – nachdem die Regierung das Verfahren nach Verfassungsartikel 49-3, das die parlamentarische Sachdebatte aushebelt und das von Francois Hollande bei einem früheren sozialen Konflikt im Jahr 2006 als brutal und undemokratischen bezeichnet worden war (vgl. https://www.youtube.com/watch?v=UtzELy5ASd8 ), einsetzte.
Dadurch wurde die Abstimmung über den Entwurf mit der Vertrauensfrage verknüpft. Doch letztendlich standen Parteigrenzen und Parteiräson den so genannt linken SozialdemokratInnen doch näher als das Anliegen, den Gesetzentwurf zu stoppen. Alle ihrer Abgeordneten stimmten in der Vertrauensabstimmung für die Regierung und gegen das Misstrauensvotum. Dabei rechtfertigten die Nuancen, die in Sachen Wirtschafts- und Sozialpolitik zwischen der bürgerlichen Rechtsopposition und Valls bestehen, keinesfalls ein Stimmverhalten, welches das „Arbeitsgesetz“ mit durchwinkte. Stattdessen hätte der linke Parteiflügel die Widersprüche im feindlichen Lager, und dieses umfasst die weit nach rechts gewanderte Regierungssozialdemokratie ebenso wie den Bürgerblick, ausnutzen können.
Die Kritik innerhalb des regierenden Parti Socialiste (PS) und die Angst der Regierung vor einer Parlamentsdebatte, zeigte jedoch – auf einer taktischen Ebene wichtig – die Krise der Regierung und deren autoritären Staatsverständnisses. Ohne die Ablehnung der Mehrheit der französischen Menschen – auch in Umfragen etablierter Medien zwischen 71 und 74 Prozent – ernst zu nehmen, offenbarte die Regierung, dass sie im Zweifelsfall lieber die Polizei mit Blendgranten auf DemonstrantInnen schießen lässt, als eine nach bürgerlichem Verständnis „demokratische“ Debatte im Parlament zu führen.
Daraus erwächst eine mächtige Krise der politischen „Vertretung“. Ein Großteil der linken WählerInnenschaft wird nie wieder für François Hollande oder Manuel Valls und ihren Anhang stimmen, die Zustimmungswerte für den amtierenden Staatspräsidenten fallen auf die Zehn-Prozent-Marke zu. Nur die Drohung, falls man nicht (wieder)gewählt werde, drohe der neofaschistische Front National an die Macht zu kommen, soll nach den Kalkülen von Manuel Valls und seinen Beratern die eigene vormalige AnhängerInnenschaft noch bei der Stange halten. Zwar bedeutet dies noch nicht, dass der bürgerliche Staat unmittelbar ins Wanken gerät, und die konservativ-liberale Opposition steht für die Ablösung der Regierung bereit (welche allerdings mit einer starken Wahlenthaltung einhergehen dürfte), doch auf der politischen Linken klafft ein mächtiges Loch in der politischen Repräsentation. Dadurch klappt zumindest eine bisherige Stütze des politischen Systems, die auch einen Teil der Lohnabhängigen an dieses binden und die Verwertungslogik des Kapitals dadurch hinter ihrem Rücken durchsetzen konnte, weg. Ob vorläufig oder definitiv, wird sich erweisen müssen. Bislang wird die Lücke vielfach noch von allgemeinem „Politikverdruss“ oder rechtsautoritärem „Protestwählertum“ aufgefüllt, doch es gilt, sie mit fortschrittlicher Systemkritik zu füllen.
Vergebens ist auch die Strategie, alleine durch militante Aktionen von mehr oder minder isoliert agierenden Kleingruppen, wie sie seit zwei Monaten vor allem in Paris und den westfranzösischen Städten Rennes und Nantes sowie Toulouse – Hochburgen der autonomen Bewegung in Frankreich – durchgeführt werden, den Gesetzentwurf aufhalten zu können. Gewiss geht es dem politisch bewussten Teil in diesem „antagonistischen Block“, dessen Anliegen über Randale und jugendliche Auflehnung hinausreicht, durchaus ums kapitalistische Ganze. Doch aus einer strategischen Perspektive ist die Klammer der Ablehnung der Loi travail (also der geplanten „Arbeitsrechtsreform“) momentan unerlässlich, während militante Kleingruppen sich für solche „Details“ erklärtermaßen weniger interessieren. Zumindest teilweise scheint bei manchen Aktionen ein fetischisiertes Verhältnis zu Gegenständen deutlich, die als äußere Ausdrucksformen vermeintlich das Kapitelverhältnis symbolisieren. In hunderten von Fällen wurden Geldscheinautomaten von Banken, die in den Augen der Betreffenden den Kapitalismus scheinbar am unmittelbarsten verkörperten, angegriffen und demoliert. Aus Rennes wird inzwischen durch die Medien vermeldet, in der Stadt herrsche ein akuter Mangel an Bargeld, aufgrund der hohen Zahl solcherart attackierter Automaten. Das Kapitalverhältnis selbst brachte dies mitnichten ins Wanken.
Die Militanz in der direkten Konfrontation mit den bewaffneten Staatsorganen ist, von Seiten der Bewegung her – vor einer weiteren Verbreiterung – kaum mehr steigerbar. Militärisch können diese Staatsorgane nicht besiegt werden, vielmehr ist auf ihrer Seite die Eskalationsspirale nach oben hin offen. Ende vergangener Woche entsandte die Pariser Zentralregierung die polizeiliche Elitetruppe RAID, vergleichbar mit der GSG9 in Deutschland und sonst für Anti-Terror-Einsätze reserviert, nach Rennes. Diese räumte dort einen der Kommune gehörenden Saal, nachdem er seit zehn Tagen besetzt war. 700 Menschen kamen zu einer verbotenen Demonstration, um dagegen zu protestieren. Das genügt nicht, um dem Notstandstaat, der sich dabei auf den seit dem 14. November letzten Jahres ohne Unterbrechung geltenden (und soeben bis Ende Juli verlängerten) Ausnahmezustand stützt, in den Arm zu fallen. Zumal er sich noch immer auf einen relativen Massenkonsens stützen kann – nicht, was das geplante „Arbeitsgesetz“ betrifft, das in Umfragen massive Ablehnung erfährt, aber sowohl wenn es um „gewalttätige Aufrührer“ als auch wenn es um „Terroristen“ geht. Laut einer Befragung vom Mittwoch werfen angeblich 74 Prozent der Regierung „mangelnde Härte“ im Umgang mit vermummten Militanten vor. An diesem Punkt muss die Bewegung auch zwingend nach einer gesellschaftlichen Vermittelbarkeit ihrer Aktionsformen fragen.
Eine Auflösung des Dilemmas, zwischen einer Strategie einer bestenfalls zahnlosen parlamentarischen Opposition und einer in die Sackgasse führenden Steigerung der Militanz, zwischen unwirksamen gewerkschaftlichen „Latschdemonstrationen“ alle paar Wochen und dem Agieren einer selbsternannten Kleingruppen-Avantgarde wählen zu müssen, ist jedoch möglich. Unserer Auffassung nach liegt sie in einer Aufhebung dieser Teilaspekte in und durch eine Strategie der Convergence des Luttes oder Bündelung der Kämpfe, die konsequenterweise auch das Nebeneinander der verschiedenen Akteure und Aktionsformen in ein sinnvolles Verhältnis zueinander setzten muss.
Seit Wochenbeginn, seit dem Abend des Pfingstmontag hat die Protestbewegung stärker als zuvor auf jene Bereiche überzugreifen begonnen, wo sie die herrschende Klasse auch auf ökonomischer Ebene treffen und die Mehrwertproduktion zumindest an einigen Punkten stören kann. Mit den unbefristeten Streikaufrufen von Teilen der Gewerkschaften – die sich nach dem Einsatz des Verfassungsartikels 49-3 endlich dazu in der Pflicht sahen, das Kampfniveau zu erhöhen – öffnen sich für Bewegung aktionstechnisch neue Horizonte. Im Raum Bordeaux blockierten streikende LKW-Fahrer, die sich seit Montag im Ausstand befinden – von den Möglichkeiten zur Ausdehnung der Arbeitszeiten, die das geplante Gesetz bietet, wären sie in besonders fataler Weise betroffen – zusammen mit der Platzbesetzerbewegung Nuit debout die Warenannahmezentrale einer Supermarktkette. Hier zeigt sich exemplarisch die Strategie der Convergence des Luttes, die gleichzeitig um eine symbolische Vermittelbarkeit und einen ökonomischen Schaden gegen die Herrschenden ringt. In Lorient wurde der Fischereihafen durch die Sozialprotestbewegung erfolgreich blockiert; in Hafenstädten der Normandie und Le Caen waren es alle Zufahrtstraßen, die durch quer stehende LKWs versperrt wurden. Auch in mehreren Raffinerien hat der Arbeitskampf begonnen, obwohl die Petrochemie-Branche landesweit erst ab diesem Freitag zum Streik aufgerufen ist, und zusätzlich werden Treibstofflager blockiert. Seit der „Belagerung“ des Treibstoffdepots von Exxon Mobil in Notre-Dame-de-Gravenchon, in der Nähe von Le Havre, droht nun in der Region ein Kraftstoffmangel. Wenn die Gewerkschaften die Blockade der Raffinerien nicht vorzeitig aufgeben, wie beim Kampf gegen die Renten„reform“ im Oktober 2010, der kurz darauf prompt mit einer Niederlage endete, dann wird sie eine erhebliche ökonomische Wirkung entfalten.
Die Platzbesetzerbewegung, die am 31. März begonnen hat, hält nach wie vor durch, stößt jedoch in Anbetracht der Zeitdauer auch ihre Grenzen. Die Jugendbewegung, die ihr Protestpotenzial schon seit Anfang März voll ausgeschöpft hat, ist kaum noch ausdehnbar, und an den Universitäten geht die Beteiligung an den Protesten zurück, weil dort überall die Prüfungsperiode eingesetzt hat. Aber von einer Berufsgruppen übergreifenden, auf das Arbeits- und Wirtschaftsleben zielenden Mobilisierung, an der neben Beschäftigten auch Jugendliche und AktivistInnen von den besetzten Plätzen teilnehmen können, könnte eine positive Zuspitzung ausgehen.
Nur wenn der Kampf der Gewerkschaften gegen das Gesetz, der Kampf von Autonomen und Anderen gegen die Polizei, der Kampf der Platzbesetzungen für Demokratie – die dieses Namens würdig wäre – als Teil einer antikapitalistischen Bewegung gedeutet wird, kann es einen wirkliche Bündelung der Kämpfe geben. Das toutlemondedetestelapolice („Alle verachten die Polizei“) – so richtig und wichtig dieser Slogan in einem Moment des Kampfes gewesen sein mag – muss in ein „Toute l’europe deteste l’austerité“ (oder „ganz Europa hasst Austerität“) aufgehoben werden. Mit der Artikulation der Proteste gegen das geplante „Arbeitsgesetz“, „und gegen seine Welt“, wie die französischen Protestierenden skandieren, ist dafür die entsprechende Kampagne auf französischer Seite schon vorgezeichnet. Entsprechende, inhaltlich ähnliche oder parallele Vorhaben gibt es in nahezu allen EU-Ländern, wie das bereits verabschiedete „Arbeitsgesetz“ der Rechtsregierung in Spanien, den so genannte Jobs Act unter Matteo Renzi oder den „Peters-Gesetz“ (oder auch „45-Stunden-Gesetz“) genannten aktuellen Gesetzentwurf in Belgien. Man braucht nur zu erkennen, dass solche Angriffe auf die Lohnabhängigen, und/oder die sozial Ausgegrenzten, überall und oft nahezu gleichzeitig geführt werden.
In der doppelten Ablehnung der amtierenden sozialdemokratischen Regierung und der herrschenden neoliberalen Agenda einerseits und mit dem Aufbegehren gegen den nationalistischen Backlash (Stichworte Polen, Ungarn, Österreich, und in Frankreich Bedrohung durch den Front National), steht die Bewegung gegen das geplante „Arbeitsgesetz“ in diesem Teil Westeuropas für das linke Projekt eines „dritten gesellschaftlichen Blocks“ neben neoliberale Alternativlosigkeit und nationalistischen ReaktionärInnen. Es muss weiterhin darum gehen, das Neue und die wirkliche, fundamentale Bedeutung dieser gemeinsamen Bewegung herauszustellen: „Ihr repräsentiert uns nicht und wir wollen auch nicht mehr von Euch repräsentiert werden. Eure Welt ist traurig und leer, wir ringen demgegenüber um andere Beziehungen zueinander, um neue demokratische Formen, um wirkliche Alternativen in herrschenden Welt der Alternativlosigkeit.“
Deswegen gilt es jetzt Streiks, Demos, Besetzungen, Riots, Blockaden und Boykotte kreativ zusammenzudenken. Wer in Grenznähe zu Frankreich wohnt, kann gut materialistisch sein Auto dort betanken, um den Treibstoffmangel zu beschleunigen und dem Streik in den Raffinerien zu schnellerer Wirksamkeit zu verhelfen. Im eigenen Land nach einemden Kristallationspunkt gegen das EUropäische Herrschaftsprojekt suchen! Für weitere Fragen die örtliche Platzbesetzung oder den Nuit debout-Ableger nicht vergessen.