Arnstadt: „Das ist Rassismus!“

Soli-Aktion für Miloud vor dem Gerichtsgebäude

Am Donnerstag, den 28. Mai 2015, sollte ab 10:20 Uhr eine Verhandlung gegen Miloud Lamar Cheriff vor dem Amtsgericht Arnstadt wegen des Tatvorwurfs der Beleidigung stattfinden. Für die Verhandlung ordnete Richter Türpitz Sicherheitskontrollen an, Besucher*innen wurden nach Waffen und ähnlichem durchsucht und mussten ein Ausweisdokument vorzeigen – für Polizisten galt dies nicht. In Arnstadt hatte man wohl nicht damit gerechnet, dass das betreffende Verfahren sich über den gewohnten Alltag hinaus zu einer Besonderheit entwickeln sollte.

 

Eingeplant wurden exakt 40 Minuten. Aufgrund der Sicherheitskontrollen konnte jedoch erst 10:50 Uhr mit der Verhandlung begonnen werden, einschließlich der Unterbrechungen durch ein Rechtsgespräch zwischen den Verfahrensbeteiligten endete sie 13:10 Uhr. 

 

Warum wich nun die Verhandlung von der Einschätzung des Richters ab?

 

Dieser wollte über den Tatvorwurf der Beleidigung gegenüber einem Bundespolizisten verhandeln. Der Betroffene (im Verfahren als Angeklagter bezeichnet), sein Verteidiger Sven Adam, die Aktivisten von The Voice Jena und weitere Unterstützer*innen sahen das jedoch anders. Was für die beteiligten Juristen (Richter als auch Erfurter Oberstaatsanwalt) vermutlich eine zu verhandelnde Kleinigkeit gewesen sein dürfte, war für die Gegenseite ein klassischer Fall von Racial Profiling. Die Prozessstrategie richtete sich demnach auf die zielstrebige Befragung nach der Begründung für die Kontrolle durch den diensttätigen Bundespolizeibeamten Krug als dieser am 9. Juli 2014 im Regionalexpress von Erfurt nach Würzburg ausgerechnet den Betroffenen bei Gräfenroda kontrollieren wollte. Diesen politischen Kontext des Sachverhalts sparten Richter als auch Staatsanwalt immer wieder gekonnt aus. Darüber hinaus fiel Türpitz dem Verteidiger wiederholt ins Wort und versuchte die sachliche Herleitung der Argumentation zu unterbrechen und zum Abbruch zu bringen.

 

Gehört wurden im Verfahren insgesamt zwei Zeugen. Zuerst wurde ein Bahnfahrgast befragt, der in unmittelbarer Nähe des Betroffenen im Zug gesessen hatte. Richter, Staatsanwalt und Verteidiger wollten nun wissen, was dieser beobachtet bzw. gehört hatte. Der Zeuge hatte jedoch weder seine Augen, noch Ohren überall, sondern nahm lediglich die Unmutsäußerungen des Betroffenen wahr als dieser durch die gerade zugestiegenen Beamten aufgefordert wurde sich auszuweisen. Ob die Beamten nach der entsprechenden Situation auch andere Fahrgäste kontrolliert hätten, bejahte er, es wären noch ein paar gewesen. Auf die Frage des Richters, ob der Zeuge diese als „Ausländer“ erkannt habe, antwortete der Zeuge, dass er sich dafür nicht interessiere. Eins zu Null für den Zeugen - Richter Türpitz kassierte dafür eine Rüge des Verteidigers Adam, der sich gegen die Wortwahl wendete. Immer wieder wurde deutlich, dass der verhandelnde Richter überhaupt keine Vorstellung von der eigentlichen Problematik hatte und sich dies auch nicht erschließen konnte und wollte.

 

In der Beweisaufnahme folgte die Vernehmung des Zeugen, Peter Krug, Beamter der Bundespolizei, der regelmäßig Züge auf der betreffenden Strecke mit einem Kollegen begleitet und dort seinen Dienst tut. Über das Aufgabenrepertoire der Bundespolizei mussten sich nicht nur die Unterstützer*innen wundern, dies taten alle Anwesenden. Krug beschrieb die Tätigkeit gar als „Seelsorge“, er kümmere sich um Sorgen und Nöte der Bahnreisenden. Neben dem Erteilen von Reiseinformationen beruhige er aufgelöste Fahrgäste, die beispielsweise ihren Ausstieg verpasst hätten. Die Befragungen, die er nach Bundespolizeigesetz durchführt, dienen darüber hinaus der Erlangung von Erkenntnissen hinsichtlich von Straftaten, dem Schutz der Reisenden und der Gefahrenabwehr. Obwohl auch die Wörter „internationaler Terrorismus“ fielen, beschrieb der Zeuge, dass er oftmals Thoska-Karten (Studierendenausweis in Thüringen, mit welchem der Thüringer Nahverkehr nutzbar ist) unter die Lupe nehme, schließlich käme Leistungserschleichung häufig vor. Nun wunderte sich auch der Staatsanwalt und stellte fest, dass dies eigentlich die Aufgabe des Personals der Reisebegleitung sei. Aber Beamter Krug ist ein feiner Mensch, nimmt alle Aufgaben um ihn herum wahr und stellt sich im Dienst immer wieder freundlich vor „Guten Tag, Bundespolizei, Krug mein Name. Ich hätte mal ein paar Fragen.“ Wer ist denn schonmal von einem Bundespolizisten mit diesen Worten angesprochen worden? Höflich gefragt, wird man im Zug höchstens von Bahn-Mitarbeiterinnen, die Reiseinformationen sammeln.

Von diesem scheinbaren Ideal aber zurück in die Situation der vermeintlichen Tat: Bundespolizeibeamter Krug betritt mit seinem Kollegen das nahezu vollbesetzte Großraumabteil der 2. Klasse und greift sich unseren Freund Miloud – natürlich ganz zufällig, stichprobenartig heißt das im Beamtendeutsch – heraus und verlangt dessen Ausweisdokument. Rechtmäßig muss diese Kontrolle dem Bundespolizeigesetz folgend verdachtsunabhängig passieren, amtlich wird dies auch als „Schleierfahndung“ bezeichnet und diese ist verfassungsrechtlich umstritten. Denn die dadurch ermöglichte Personenkontrolle wird unverhältnismäßig oft ohne Ermittlungserfolge gegen „ausländisch“ aussehende Betroffene eingesetzt – natürlich dient diese dennoch der Gefahrenabwehr und Vereitelung von Straftaten, auch wenn das meist nicht klappt. Dass diese polizeiliche Praxis gegen den Gleichheitsgrundsatz verstößt, ist Teil einer bereits langanhaltenden juristischen Diskussion in der Bundesrepublik. Nicht nur Betroffene und Aktivist*innen benennen diese Praxis deutlich als das, was sie ist, rassistisch – als „Racial Profiling“.

 

Krug fühlte sich im Laufe der Befragung sichtlich immer unwohler, wollte gar von einem ihm als Zeugen nicht zustehenden Aussageverweigerungsrecht Gebrauch machen. Denn: Beim Verwaltungsgericht Dresden ist eine Klage des Angeklagten gegen die Rechtmäßigkeit der bundespolizeilichen Maßnahme anhängig. Dass der Betroffene (!) zuvor Beschwerde gegen die Beamten bei der entsprechenden Dienststelle einlegte, um sich gegen die rassistische Kontrolle zur Wehr zu setzen, taucht in der Ermittlungsakte nicht auf. Ebenso wenig wie ein Protokoll über die Kommunikation der Beamten mit ihrem Vorgesetzten, in welcher die Begründung für die Kontrolle deutlich wurde. Die Staatsanwaltschaft Erfurt ermittelte demnach wiedermal sehr genau: Wie und warum jedoch eine Kopie der Duldung des Betroffenen in die Akte gelangte, blieb eine unbeantwortete Frage des Verteidigers. Nach einem Rechtsgespräch zwischen den Verfahrensbeteiligten verkündet der Richter die vorläufige Auffassung des Gerichts: Eine Beleidigung kann nicht zweifelsfrei festgestellt werden. Die Beweisaufnahme wird daraufhin einvernehmlich geschlossen.

 

Obwohl in Arnstadt im Sinne unseres anstrengenden und mühseligen politischen Kampfes gegen institutionalisierten Rassismus gefochten wurde, entfuhr den 15 Unterstützer*innen immer wieder ein Schmunzeln, gar ein Lachen. Augenscheinlich lief für den institutionellen Rassismus – verkörpert von Polizeibeamten, Richter und Staatsanwalt – einiges schief...

 

- Die vom Richter selbstverschuldete Sicherheitskontrollen trugen zum enormen Verzug des ordnungsgemäß erstellten Zeitplans bei.

- Der Oberstaatsanwalt ging fälschlicher Weise davon aus, dass dieses Verfahren „heute“ nicht stattfände. Daher war er in Bezug auf die zu erörternden Rechtsgrundlagen nicht vorbereitet und trug daher nur einen geringen Anteil der ausgetauschten Worte bei (Vorlesen der Anklage und Plädoyer mit eingerechnet – weniger Teilnahme geht quasi nicht).

- Ein für ein anderes Verfahren geladener Zeuge verirrte sich im Raum, äußerte zur Eröffnung der Verhandlung seine Verwirrung und lief wieder hinaus.

- Alle lassen sich überraschen: Die Bundespolizeibeamten sind höfliche und aufgeschlossene Ratgeber bei Sorgen rund ums Reisen und im Einsatz gegen die gemeine Leistungserschleichung.

- Der Staatsanwalt wünscht sich „privat“, in Hinblick auf die Unmutsäußerungen des Angeklagten im Zug, freundlichere Umgangsformen bei der Formulierung von Kritik an polizeilichen Maßnahmen.

- Die gepolsterten Stühle im Sitzungssaal 210 dürfen nicht in Berührung mit Lebensmitteln kommen – diese sind laut Richter Türpitz in der Hosentasche zu verstauen.

- Die Protokollantin des Gerichts hatte wirklich einen schweren Job, denn: Sven Adam redet wirklich schnell cooles Zeug: „Das ist Rassismus!“ Das Polizeiverhalten benennt er als „Beißreflex“ und weist auf die routinemäßige Zusammenarbeit von Staatsanwaltschaften, Gerichten und Polizei hin, welche die Betroffenen von Racial Profiling regelmäßig zu Tätern umdeuten und damit diffamieren.

 

Fazit: Verteidiger, Staatsanwalt und Richter sind sich über den geurteilten Freispruch einig. Der Richter verkündet sinngemäß, dass polizeiliche Maßnahmen rassistisch genannt werden dürfen, gültiges deutsches Recht seien sie dennoch. Sahne oben drauf: Die Staatskasse zahlt für unseren politischen Kampf!

 

Für Miloud, die Betroffenen überall und ihre Unterstützer*innen war der Tag ein kleiner Erfolg auf einem langen Weg zur Bekämpfung von Racial Profiling. Verwaltungsgericht Dresden wir kommen!

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Guter Kampf, guter Bericht! Bitte weiter so!

beschrieb der Zeuge, dass er oftmals Thoska-Karten (Studierendenausweis in Thüringen, mit welchem der Thüringer Nahverkehr nutzbar ist) unter die Lupe nehme, schließlich käme Leistungserschleichung häufig vor. Nun wunderte sich auch der Staatsanwalt und stellte fest, dass dies eigentlich die Aufgabe des Personals der Reisebegleitung sei.

 

Bundesbullen dürfen auch Fahrausweise kontrollieren. Das zu wissen kann sehr hilfreich sein.