Ein unfreiwilliger Spendenlauf: Wenn Neonazis marschieren, geben Bürger für jeden Meter Geld an Flüchtlinge - ein Protestmodell für die Zukunft?
Von Matthias Pöls
Weißenfels. "Wir sollen hier die Ausländer durchfüttern? Da kommt mir das glatte Kotzen", dröhnt es knarzend aus den Lautsprechern. Rund 150 Menschen stehen um den kahlrasierten Mann, der Parolen ins Mikrofon brüllt, große Gestalten in Schwarz.
Die Bürger von Weißenfels bleiben auf Distanz zum Aufmarsch der Neonazis
in ihrer Stadt. Aber ein Einzelner traut sich, seine Stimme zu erheben:
"Kannst du nicht mal das sagen, ohne vom Manuskript abzulesen?", fragt
ein 1,60 Meter großer Mann mit höhnischer Stimme und stellt sich auf die
Zehenspitzen. Sofort recken zehn schwarze Männer die Hälse vor und
grölen. Stille. Kurz danach setzt sich der Trupp wieder in Bewegung. Die
rechten Fäuste in Richtung des strahlend blauen Himmels gereckt,
skandieren 150 Kehlen, dass sie keine Asylbewerberheime wollen - immer
wieder, auf fast jedem der 7000 Meter, die sie am Sonnabend laufen.
Doch der kleine Zwischenruf ist nicht das einzige Zeichen, dass die
Stadt am südlichen Zipfel von Sachsen-Anhalt gegen den
fremdenfeindlichen Aufmarsch setzt. Für jeden Meter, den die Neonazis an
diesem Tag laufen, haben Bürger zuvor 50 Cent gespendet - für genau
jene, gegen die die Rechtsextremisten demonstrieren. Durch die Aktion
"Jeder Meter zählt" gehen 3500 Euro an in Weißenfels untergebrachte
Flüchtlinge. Die Neonazis wollten gegen Flüchtlinge demonstrieren. Jetzt
unterstützen sie sie.
Das Projekt Wunsiedel hat damit seinen ersten Nachahmer gefunden. Die
Aktion ging um die Welt: In der bayerischen Stadt wurde vor drei Wochen
ein sogenannter Trauermarsch der Neonazis erstmals in einen
Spendenmarsch umgewandelt. Rechts lief gegen Rechts. Für jeden Meter,
den der Trupp zum Gedenken an den Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß
unterwegs war, spendeten Unternehmen und Bürger. Das Ergebnis: 10000
Euro kamen für Exit Deutschland zusammen, ein Aussteigerprogramm aus der
rechten Szene. Man könnte sagen: dumm gelaufen. Leichter und witziger
kann eine Aktion gegen rechtsradikale Stimmungsmache kaum sein. Doch
kann das Projekt Wunsiedel zum Prinzip der Demonstrationen gegen
Rechtsextremisten werden?
In Weißenfels wirft an diesem Sonnabend die Sonne ihre Strahlen auf den
kleinen Weihnachtsmarkt. Nikolaus-Tag. Von den Buden auf dem Marktplatz
schwebt der süßlich-klebrige Geruch von gebrannten Mandeln in Richtung
des Standes vom Bündnis für Toleranz der 40000-Einwohner-Stadt. Ein
Handvoll Menschen hat sich hier versammelt und klärt über die Situation
von Flüchtlingen in der Region auf. Dass die Menschen hier schon
dezentral untergebracht werden. Dass mit den Spenden etwa Deutschkurse
finanziert werden sollen.
Auch Weißenfels ist kein Idyll der Fremdenfreundlichkeit. "Es besteht
die Gefahr, dass die Demo der Rechten an die Ressentiments der Menschen
anknüpft", warnt Katja Henze, Integrationsbeauftragte der Stadt. In den
schon nicht mehr ganz so neuen Bundesländern haben viele nach wie vor
große Vorbehalte gegen Flüchtlinge. Dabei gibt es hier, anders als in
den alten Ländern, kaum einen Landstrich, in dem der Ausländeranteil die
Zwei-Prozent-Hürde überspringt. Aber gerade hier verbreiten die
Rechtsradikalen ihre Parolen - und finden viel zu oft Gehör.
"Wir sind das Volk", brüllt der Mann ins Mikrofon, während der
Demonstrationszug die Markierung "Danke für 2500 Euro" überschreitet und
an renovierten Altbauten nahe an der idyllischen Innenstadt
vorbeiläuft. Der Ruf der friedlichen Revolution wird umgewandelt. Wie es
bereits in Dresden durch die sogenannten Pegida-Demonstrationen
("Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes")
geschehen ist.
Doch anders als in der sächsischen Landeshauptstadt, ist auf den
Weißenfelser Straßen kein breiter Gegenprotest zu sehen. Gerade mal
sieben Jugendliche haben die Rechtsradikalen zum Beginn ihres Marsches
am Bahnhof "begrüßt". Die Gesichter hinter dunklen Tüchern versteckt,
stehen sie rund 100 Meter hinter den zahlreichen Polizisten, die den
Demonstrationszug begleiten. "Wir sehen uns dann später", rufen die
Jugendlichen übermütig. Die Neonazis antworten mit höhnischem Gelächter.
Der offene Widerspruch, die Konfrontation ist anscheinend nicht die
Sache der Weißenfelser. Kann der Spendenlauf gegen die Neonazis dann
vielleicht die Protestform für die etwas Zögerlicheren sein?
"Viele Menschen haben die Bilder aus dem Fernsehen im Kopf - und haben
Angst", erklärt Oberbürgermeister Robby Risch, weshalb kaum Menschen als
Gegendemonstranten auf der Straße sind. Im Oktober attackierten in Köln
enthemmte Hooligans Passanten, nur mit Mühe hielt die Polizei später in
Hannover einen ähnlichen Aufmarsch in Schach. Die "Hooligans gegen
Salafisten" entstammen auch der rechten Szene. Manch ein engagierter
Bürger, der sich für Flüchtlinge einsetzt, befürchtet gar, dass sich die
Krawalle von Rostock-Lichtenhagen 1992 wiederholen könnten.
Es wäre wohl jedenfalls zu einfach, die Zurückhaltung der Weißenfelser
auf den Straßen als stille Duldung der Rechtsextremisten zu verstehen.
"Schlimm. So etwas ist schlimm", sagt eine ältere Frau, die mit einigem
Abstand zu der Demonstration in Richtung Weihnachtsmarkt läuft. Stadtrat
Jörg Freiwald berichtet am Stand des Weißenfelser Toleranz-Bündnisses
von einem Kreis sehr aktiver Frauen. Die Damen im Alter von 60 bis 83
Jahren hätten erklärt, dass sie nicht mehr im richtigen Alter seien, um
auf der Straße zu demonstrieren. Stattdessen haben sie spontan 100 Euro
für den Spendenlauf gegeben. "Das Anliegen ist ihnen extrem wichtig",
erklärt der Linken-Politiker Freiwald. Er ist sich sicher, dass ein
starkes Zeichen von dem Protest ausgeht - auch an die Weißenfelser
selbst.
Der Berliner Protestforscher Dieter Rucht sieht in den unfreiwilligen
Spendenmärschen der Rechtsextremisten eine Bereicherung. "Sie fallen aus
dem Rahmen und erreichen mit bescheidenen Mitteln einen maximalen
Effekt", erklärt er.
Neue Protestformen, sagt er, hätten es fast naturgemäß schwer. Die
Lichterketten zum Beispiel trafen in den neunziger Jahren auf eine
riesige Resonanz. Allein in München gingen 1992 mehr als 400000 Menschen
auf die Straße. Lichterketten gab es kurz darauf in fast allen größeren
deutschen Städten.
Bald darauf ebbte die Welle der Lichterketten jedoch wieder ab - und
auch Ruchts Prognose für den Fortbestand der Spendenmärsche ist nicht
sonderlich optimistisch. Die Aufmerksamkeit für solche neuen Aktionen
nehme im Lauf der Zeit einfach ab, erklärt der 68-Jährige. Andererseits
seien Aktionen wie in Wunsiedel oder Weißenfels mehr als nur ein
Strohfeuer. Der Wille zum Protest sei vorhanden. "Und man weiß nicht,
welche Spuren dies in den Herzen und Köpfen der Menschen hinterlässt."
In Weißenfels wollen viele Menschen jedenfalls noch ein Zeichen setzen.
Am Abend, als die Neonazis fort sind, kommen 150 Bürger zum
Weihnachtsmarkt. Sie halten Kerzen in den Händen - und haben jene dazu
eingeladen, die sie mit der Aktion unterstützen wollen: die Flüchtlinge,
die in den vergangenen Wochen nach Weißenfels gekommen sind.
Die Idee mit der Spende finde oberklasse
Für jeden Depp, der mit hohlen Parolen durch die Straßen zieht, wird ein Obulus gespendet. Das finde ich sehr gut. Denn damit entkräftet man der Bewegung jenes Argument, dass Asylsuchende uns das letzte Haar vom Kopf fressen würden. Was an sich ja schon äußerst abwegig ist, aber für den dumpfen Protest taugen wohl ausgerechnet die untersten Argumente.
Wenn diese Spendenaktion Schule macht, müsste sich der braune Mob ziemlich schnell ein anderes Argument suchen. Wahrscheinlich kommen dann so hahnebüchene Argumente wie, die bringen ganz schlimme Krankheiten.