Der Ex-Vize des Verfassungsschutzes offenbart in einem Brief, wie die Behörde außer Kontrolle geriet. Alexander Eisvogels Schreiben ist eine Abrechnung.
Der Duft von Dillkartoffeln hing in der Luft, als Alexander Eisvogel, 48, offiziell verabschiedet wurde. Der Vizepräsident des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV) war noch einmal aus dem Urlaub zurückgekehrt, um am letzten Freitag im Juli der Rede seines Präsidenten Hans-Georg Maaßen zu lauschen, in der Kantine der Kölner Behörde, kurz vor dem Mittagstisch für mehr als 1500 Geheimdienstmitarbeiter.
Maaßen bedankte sich vor der versammelten Belegschaft bei Eisvogel, der an der „Zukunftsorientierung des Inlandsnachrichtendienstes entscheidend mitgewirkt“ habe. Das war alles, danach gab es Menü 1 bis 5.
Inzwischen hat sich Alexander Eisvogel auch um die Vergangenheitsbewältigung des BfV verdient gemacht. Der Spitzenbeamte hat einen Abschiedsbrief geschrieben – und skizziert darin schonungslos eine Behörde, deren Führung die Kontrolle entglitten ist. „Wir waren wie die Titanic auf großer Fahrt“, schreibt der ausgeschiedene Vizechef, „ziellos im Zickzack über den ,VS-Atlantik‘ unterwegs! Und das mit vielen Eisbergen voraus.“
Das Sieben-Seiten-Papier stellte Eisvogel vor seinem Wechsel an die Bundesakademie für öffentliche Verwaltung in das für alle BfV-Mitarbeiter einsehbare Intranet ein. Es bietet Einblicke in eine Welt, die seit dem Skandal um die rechte Terrorgruppe NSU aus den Fugen geraten ist. Es ist eine Streitschrift für eine Radikalreform des Inlandsgeheimdienstes – zugleich wirft der Brief aber auch ein Licht auf jenen Mann, der versuchte, das BfV durch die Krise zu lotsen: Eisvogel
selbst.
Als der Jurist im Frühjahr 2010 zweiter Mann des Verfassungsschutzes wurde, kannte er das Amt bereits in- und auswendig. In der Geheimdienstzentrale hatte Eisvogel Karriere gemacht, war zum Leiter der Islamismus-Abteilung aufgestiegen. 2006 holte ihn das CDU-geführte Hessen an die Spitze seines Landesamtes für Verfassungsschutz. Beste Voraussetzungen also für den nächsten Karriereschritt am Reihn.
"Ich hielt mich für einen ganz Großen", schrieb Eisvogel in seinem Papier unverblümt. Dass sich der smarte Mittvierziger selbst als besseren Präsidenten sah, war im Hochsicherheitskomplex von Köln-Chorweiler ohnehin ein offenes Geheimnis. So verwundert es kaum, dass die Probleme beim Verfassungsschutz laut Eisvogel nicht erst mit seiner Rückkeht begannen, sondern schon viel früher. Jahrelang habe der damalige Präsident Hein Fromm eine "Führung an der langen Leine" praktiziert. Diesem als "alternativlos" empfundenen Stil habe er, Eisvogel, sich angepasst.
Wenn das Bild vom deutschen Inlandsnachrichtendienst zutrifft, das der BfV-Vize in dem Schreiben entwirft, dann war die Amtsleitung vom Alltag der Agenten, der Auswerter und V-Mann-Führer so weit entfernt wie Berlin vom Reihn.
Fromm und Eisvogel widmeten sich demnach „völlig“ den „zahllosen, ach so wichtigen Terminen in Berlin und im Ausland“. Das Bundesamt für Verfassungsschutz mit seinen insgesamt 2700 Mitarbeitern sei nicht von der Amtsleitung, sondern von den Abteilungsleitern geführt worden. „Wir waren der Auffassung, dass Sie schließlich jederzeit um einen Termin bitten konnten. Das musste reichen“, schreibt Eisvogel selbstkritisch an die Mitarbeiter des Hauses. Und resümiert nüchtern: „Dass im Laufe der Jahre immer weniger zu uns kamen, fiel uns, fiel mir eigentlich kaum auf.“
Mit seiner Kritik trifft der ehemalige Vize einen sensiblen Punkt. Denn es waren vor allem schwere Kommunikationsdefizite, die dem Verfassungsschutz seine wohl größte Identitätskrise der vergangenen Jahrzehnte bescherten. Bei der Suche nach den Killern von acht türkischstämmigen Männern sowie einem Griechen operierten die Geheimdienstler von Bund und Ländern mitsamt ihren V-Leuten oft blind und ahnungslos nebeneinanderher. Dass die Mordserie auf das Konto von Rechtsextremisten gehen könnte, zog kaum einer von ihnen in Erwägung.
Kommunikationsmängel kosteten auch BfV-Chef Heinz Fromm das Amt. Kurz nach der Enttarnung der NSU-Gruppe im November 2011 ließ ein Referatsleiter Akten von siegebn V-Leuten aus dem Umfeld der Terroristen schreddern. Als die Aktion acht Monate später bekanntwurde, zog ein wütender, von seinen Leuten enttäuschter Fromm die Konsequenz - und ließ sich in den Ruhestand versetzen. Eisvogel blieb als Vize im Amt, galt aber als angeschlagen.
In seiner Abschiedsnote fragt er sich nun, ob man die Schuld für die Reißwolf-Aktion "allein bei denen abladen kann", die sie ausführten und danach vertuschten. Oder ob der Vorgang nicht vielmehr ein "Symptom für die Sprachlosigkeit" zwischen Amtsleitung und Arbeitsebene sei. So viel Selbstkritik war bislang selten bei der Aufarbeitung des NSU-Komplexes.
Eisvogels Gedanken zum Abgang sind auch ein Dokument der Resignation, geschrieben von einem, der an seinen Ansprüchen gescheitert ist. Dass Reformen im Amt nötig waren, habe er bereits von der NSU-Affäre erkannt, schreibt er. Die Veränderungen seien jedoch „zu vorsichtig begonnen“ oder „einfach verschoben“ worden. „Wir mögen einen Jahresplan gehabt haben, aber keine Zielorientierung.“ Auch das lausige Image der Behörde, die Politiker von Grünen und Linken am liebsten ganz auflösen würden, thematisiert Eisvogel. „Wir werden von Teilen der Gesellschaft als Anachronismus emp funden“, räumt der ehemalige Vize ein, „also dürfen wir auf keinen Fall wie ein Anachronismus wirken!“
Das ist leichter gesagt als getan. BfV-Präsident Maaßen, seit gut einem Jahr im Amt, kämpft an mehreren Fronten gegen die schlechte Verfassung des Inlandsgeheimdienstes. Und die wohl schwierigste Front ist der Streit mit den Chefs der Landesämter für Verfassungsschutz über Zuständigkeiten.
Kaum weniger problematisch ist die Kommunikation nach außen, die sich seit der Entdeckung des NSU kaum verbessert hat. Als der SPIEGEL vergangene Woche detaillierte Fragen zu einer geheimen, von BfV, Bundesnachrichtendienst und dem amerikanischen Geheimdienst CIA gemeinsam betriebenen Datensammelstelle nach Köln schickte, ließ das Amt die Fragen zunächst weitgehend unbeantwortet. Keine Auskunft darüber, wann das Parlamentarische Kontrollgremium des Bundestags über das „Projekt 6“ unterrichtet wurde. Nachdem der SPIEGEL-Artikel öffentlich wurde, lieferte das Amt ein Informationshäppchen nach: Das BfV erklärte, dass die Politiker des Gremiums über den Vorgang informiert seien. Am vergangenen Dienstag legte das Amt dann in einer weiteren Presseerklärung offen, wann das geschehen war: am 12. August, also zu einem Zeitpunkt, als die Behörde bereits von den SPIEGEL-Recherchen zu Projekt 6 wusste. Selbst intern gilt diese Krisen-PR als unglücklich. Dabei hätte Maaßen frühzeitig in die Offensive gehen können; schließlich trug er im Jahr 2010, als die gemeinsame Datenbank von BfV, BND und CIA abgeschaltet wurde, noch keine Verantwortung in Köln.
Ob Maaßen, dem Zurückhaltenden, die offenen Worte seines ausgeschiedenen Vizes gefallen haben, ist fraglich. Der Jurist, dessen Mitarbeiter über das hohe Arbeitspensum ihres Chefs stöhnen, will die verkrusteten Strukturen der Behörde aufbrechen. Dafür richtete er eigens eine „Querdenker-Gruppe“ ein. Mit seiner Abrechnung befeuert Eisvogel nun jene Kritiker, die ohnehin glauben, dass das Amt nicht zu retten sei. Ein paar Monate Reform, ein „bloßes ,brush up‘“, schreibt Eisvogel, das werde nicht reichen: „Der Verfassungsschutz wird sich künftig dauerhaft anpassen und erneuern müssen.“
HUBERT GUDE