Am 27.12.2012 wurde offiziell das Lager Möhlau geschlossen. Es folgte ein Zwangsumzug aller dort lebenden Menschen in das neue Lager Vockerode. *1
Im Vorfeld war den Flüchtlingen aus Möhlau klar, dass das Versprechen des Landkreises Wittenberg auf eine dezentrale Unterbringung in Vockerode nicht eingelöst werden würde. Die Flüchtlingsinitiative Wittenberg forderte daher in einer Petition dezentrale Unterbringung und sprach sich gegen die diskriminierenden Sondergesetze aus, welche das Leben Geflüchteter Menschen in Deutschland unerträglich machen. So heißt es: „Nach der Schließung des Wohnheims Möhlau im Landkreis Wittenberg möchten wir nicht in einem Ort leben, der von seiner Verkehrsanbindung und seinen Einkaufsmöglichkeiten noch schlechter ist. Abgesehen von den infrastrukturellen Nachteilen in Vockerode, verlangen wir von den Behörden ihr Versprechen der dezentralen Unterbringung endlich einzulösen. Wir, Flüchtlinge aus Möhlau (Landkreis Wittenberg ), wollen nicht unter solchen Bedingungen leben, die zwangsläufig psychische Probleme, Gewaltausbrüche und Kriminalität fördern.“ *2.
Allein die Tatsache, dass nun 170 Flüchtlinge nach Vockerode ziehen mussten, heizte die ohnehin verbreitete Anti-Stimmung gegen Flüchtlinge an. Am Tage des Umzuges wurden die an Fenster und Balkonen gaffenden Bürger_innen vereinzelt nach ihren Meinungen gefragt. Diese lassen sich als nichts anderes als rassistische Äußerungen zusammenfassen.
Am nächsten Tag versuchte sich ein Mann aus Somalia das Leben zu nehmen, nachdem er seinen Abschiebebescheid bekam, um gegen die Ausweglosigkeit seiner Lage zu protestieren.
Diese geschaffene Situation ließen sich auch die Nazis nicht entgehen. Am 10. Januar verteilten die NPD- Kreisverbände Wittenberg und Anhalt- Bitterfeld an Bushaltestellen und Briefkästen Flyer, um die „Vockeroder“ Bürger_innen über ihr menschenverachtendes Weltbild zu informieren. Wie auch in ihren Wahlkämpfen gingen sie unverblühmt auf ihre „Lösung des Problems“ ein. So hieß es beispielsweise: „Mit uns wird es diese Art von Ausländerpolitik nicht mehr geben. Wirtschaftsflüchtlinge, … und kriminelle Elemente werden ohne viel Palaver in ihre Herkunftsländer überführt.“ Weiterhin zogen sie in dem Flyer eine Parallele zu den Zuständen in Insel, in dem sie sich als glorreiche Retter der „armen, ungehörten“ Bürger_innen von Insel darstellten: „Die Bürger von Vockerode sollten ihren Blick z.B. zum Altmarkdorf Insel wenden. … , (dort) gab die NPD den Bürgen von Insel eine Stimme. Deshalb liegt es jetzt bei den Bürgern von Vockerode, ob sie ihren bisher friedlichen Ort zu einen zweiten Insel werden lassen … Die Unterstützung der NPD wäre den Bürgern dafür jedenfalls sicher!“
Damit nicht genug: die NPD beantragte außerdem monatliche Infostände in Vockerode. (der erste voraussichtlich am 16. Februar 2013)
Unabhängig davon gründete sich kurz vorher eine Gruppe auf Facebook, auf welcher die Bürger_innen aus Vockerode ihren „Emotionen“ freien Lauf ließen. Ein Gründer dieser Gruppe erklärte, dass er unzählige Kommentare löschen musste, da diese verachtende Einstellungen gegenüber Flüchtlingen enthielten und somit „deplaziert“ waren. Um Taten sprechen zu lassen, verließ die Initiative die virtuelle Welt um sich auch in der realen Welt zu gründen und lud alle Bürger_innen aus Vockerode am 25. Januar in die Sporthalle des 1600-Seelendorfes ein.
Dieser Einladung folgten ca. 280 „Vockeroder_innen“. Am Redner_innenpult nahmen die Ortsbürgermeisterin Renate Luckmann (SPD) sowie drei Mitglieder der BI Platz. Die Versammlung wurde eingeleitet mit einer kurzen Schilderung der Situation. „Seit dem Umzug am 27.12.2012 gab es einige Konflikte mit den Migranten und dies schürte Ärger, gar Angst. Aber wir sind dabei eine Lösung zu finden. Unsere erste Maßnahme war ein Besuch beim Stadtrat in Oranienbaum, welcher uns Rückendeckung bei unseren Forderungen versprach“.
„Das Problem“ liege nach Angaben des Sprechers der Initiative in der Nutzung des Schulbusses. Der Schulbus komme oft zu spät, seitdem die Flüchtlinge diesen auch nutzen. Diese Verspätung wird zurück geführt auf Verständigungsprobleme bezüglich Wechselgeldern ect. „Der Schulbus soll sicherer werden“, hieß es. Ein erster Vorschlag war die „Absicherung der Kinder durch ehrenamtliche Begleiter“.
Weder müssen die Kinder geschützt werden, noch liegt „das Problem“ an den Flüchtlingen. Die Busverbindungen zu Ämtern, Ärzten oder zum Einkaufen sind einfach sehr schlecht.
Ein weiteres Problem stellt für die Bürgerinitiative das neue Müllproblem dar, was die Flüchtlinge zu verantworten hätten. Auch hier ist es Aufgabe des Landkreises, die Müllversorgung für 170 neue Bewohner_innen des Ortes zu sichern.
Im weiteren wurde angesprochen, das sich die „Vockeroder“ übergangen fühlten. Sie seien nicht in die Pläne des Landkreises Wittenberg eingeweiht worden und hätten nichts, bzw. viel zu spät von dem neuen Lager gewusst.
Um „den Bürgern und Asylbewerbern ein Leben in Ruhe und Sicherheit zu gewährleisten“
veröffentlichte die Bürgerinitiative einen Forderungskatalog mit folgenden Punkten:
schrittweise dezentrale Unterbringung der Flüchtlinge, ein Informationsbüro des Landkreises, Schaffung der notwendigen Infrastruktur (Verkehr, Schulen, medizinische und soziale Betreuung ect.), regelmäßiger Informationstausch und Schaffung einer Plattform zur offenen Diskussion und Information.
Ein Sprecher der Initiative versuchte die Forderung nach dezentraler Unterbringung mit der Genfer Konvention zu begründen:„Die Migranten sollen nicht aufgrund von Rasse, Religion,… zusammen gepfercht leben müssen.“
Die Bürgermeisterin ergriff als nächste das Wort. Sie ging auf die Flyer-Aktion der NPD ein und beteuerte, dass es keine Zusammenarbeit mit der NPD oder anderen Neonazistrukturen geben würde. „Es ist ein steiniger Weg, der in keine rechtsradikale Schublade gesteckt werden darf“, sagte sie.
Bevor die Bürgerinitiative ihren Input beendete, riefen sie dazu auf, an der Kreistagssitzung in Wittenberg teilzunehmen, um ihrem Protest Nachdruck zu verleihen. Außerdem riefen sie zu reger, produktiver Beteiligung an der Bürgerinitiative auf.
Diesen Part beendet, folgte die Fragerunde der Bürger_innen. Zuerst sprach ein Vertreter der Kirche. Die Landeskirche unterstütze „vehement“ die Forderungen der BI. Es solle ein „Abbau der Ausländer auf ein erträgliches Maß“ erfolgen. Man kenne „das Problem“, er spreche aber nicht nur im Namen der Kirche, sondern auch als gebürtiger „Vockeroder“. „Die Asylbewerber sollen irgendwo leben, aber es muss ja nicht in Vockerode sein“, fügte er hinzu. Er wies schlussendlich daraufhin, dass die Bürgermeister_innen aus umliegenden Dörfern eine weitaus braunere Gesinnung haben dürften, als man den „Vockerodern“ bald unterstellen würde.
Der Inhalt eines weiteren Beitrages forderte: „Wenn Vockerode nun schon die Flüchtlinge nehmen muss, sollen wenigstens auch Gelder für die Ortskasse fließen“. Eine Frau schloss sich an und wollte wissen, an wen sie sich wenden könne, wenn wiederholt ein Flüchtling bei ihr klingelt und nach dem Weg fragt.
Neben Fragen wie: „Wie viele kommen noch?“, „Wie viele Hausmeister gibt es?“, „Gibt es einen Wachschutz?“, „Sollen WIR jetzt auswandern?“, gab es Kommentare wie: „Ich habe gehört das Heim in Quedlinburg soll geschlossen werden und die kommen dann alle hierher.“ * 4. , „Schon allein das Treffen hier rückt uns in die rechte Ecke“, „Man kann die ja an den Waldrand packen, wo sie keiner sieht“, „Als die das erste Mal Randale gemacht haben, hatte ich gleich am nächsten Tag ein Formular von der NPD im Briefkasten. Ich muss ja sagen, dumm sind die nicht.“
Zwischendurch vernahmen wir etliche Bemerkungen wie, „Geh zurück nach Afrika.“ oder „Zwei Zimmer für vier Leute: das reicht doch!“
Die Bürgermeisterin wurde zusehends kleiner in ihrem Stuhl. Sie sagte irgendwann: „Wenn die NPD ihre Infostände macht, müssen wir uns ja nicht dazu stellen.“. Außerdem wies sie auf die Lebensbedingungen der in den Blocks lebenden Menschen hin und beteuerte, das dies kein besonders einfaches Leben sei und die Flüchtlinge nichts für die derzeitige Situation könnten.
Der letzte Beitrag des Abends einer Frau aus dem Dorf war ein kleiner Hoffnungsfunke. Sie mahnte auf ein Miteinander und forderte auf, in den Dialog zu treten. Es müsse gemeinsam eine Lösung gefunden werden.
Im Laufe der Versammlung wurde sich auffällig oft von einer Zusammenarbeit mit Neonazistrukturen distanziert, andererseits aber wurden massiv rassistische, ignorante Vorurteile reproduziert. Es wurde oft und (gefühlt) gerne über „das Problem“ gesprochen.
Die Forderung nach dezentraler Unterbringung deckt sich mit der Forderung der Flüchtlinge, die Distanzierung vom „rechten Rand“ ist für die „Vockeroder“ notwendig um vom Landkreis nicht abgestempelt, sondern „gehört“ zu werden. Eine Motivation für ihren „Kampf“ liegt offensichtlich im Erhalt ihrer „Idylle“ und im „Fremd sein“ der Flüchtlinge.
Der Landkreis Wittenberg hat hinter dem Rücken Aller diese Situation herbei geführt. Ein Sprecher der Flüchtlingsinitiative Wittenberg sagte, dass beide Seiten Opfer dieser Manipulation seien. Die „Vockeroder“ beschweren sich, dass die Flüchtlinge dort leben müssen, genauso wenig entspricht aber die Unterbringung in Vockerode den Forderungen der Flüchtlinge. „Wir haben Angst. Die Versammlung war eine Art Kriegserklärung gegen uns. Es muss unbedingt eine Lösung gefunden werden.“
Flüchtlingsinitiative Vockerode
Antirassistisches Netzwerk Sachsen-Anhalt
Internet: antiranetlsa.blogsport.de
* 1. http://de.indymedia.org/2012/12/339603.shtml
* 2. Petition: Widerspruch gegen anhaltende Diskriminierung von Asylbewerbern im Landkreis Wittenberg, http://www.ludwigstrasse37.de/nolager/2012_12_03_vockrode.htm
* 3. hXXp://www.npd-abi.de/vockerode-und-seine-neuen-bereicherer/
* 4. In Quedlinburg gibt es kein Flüchtlingslager