Proyecto Memoria/Genova 2001 - eine persönliche Erinnerung/Azzoncao

Genova - (Foto: Azzoncao)

Genova 2001 per me - eine persönliche Erinnerung - chi non ha memoria non ha futuro -

 Genova 2001 / 20. Juli - Im Juli 2001 fuhren wir mit einer kleinen Gruppe nach Genova. Da wir alle berufstätig waren konnten wir uns lediglich den Freitag frei nehmen und mussten auch schon am Montag wieder auf „der Matte stehen“.

 

So fuhren wir in einem kleinen LKW in der Nacht auf den Freitag nach Genova. Dort kamen wir am Morgen an. Wir parkten außerhalb des Stadion Carlini und ich suchte nach meinen FreundInnen aus dem Mailänder Sozialzentrum BULK. Das Stadion erwies sich als großer Bienenkorb, wo wir uns unter den Tausenden erst einmal orientieren mussten. Es brauchte etwas Zeit die FreundInnen zu finden.

 

Nach kurzem Hallo ging es auch schon los zur Demonstration. Da fast alle unsere Bekannten fest eingebunden waren, entschlossen wir uns, uns als Gruppe locker der Demo anzuschließen und zu sehen was so kommen mochte.

 

Der Demonstrationszug war beeindruckend groß, die Gruppen vielfältig und die Stimmung sehr gut. Aufgeregt, freudig gespannt und leicht ängstlich, da es ja in Richtung Zona Rossa ging. Was hieß, dass es Auseinandersetzungen mit der Polizei geben würde, die die Leute an dem Eindringen in die Zone der Staatsoberhäupter hindern würden. Die selbstgebastelten Protektoren und Schilder wurden von uns leicht verwundert belächelt, da ihr praktischer Wert niedrig erschien und die Symbolkraft einem realistischen Polizeiknüppel schmerzhaft weichen müsste. Der Selbstschutz war eher demonstrativer Art. Nicht desto Trotz zogen die so ausstaffierten Don Quichotes diszipliniert an der Spitze der Demonstration immer mehr Richtung City. Von der rechten Seite aus begrenzte bald ein Bahndamm die Demo und es wurde immer enger. Ein lockeres Mitlaufen wurde schwierig. Schließlich kam der Demozug vor Polizeiketten an einer Unterführung zu stehen. Wir konnten das aus einer Distanz von ca. 500 Meter mehr erahnen, als sehen.

 

Ohne den weiteren Verlauf der Ereignisse an der Demonstrationsspitze abzuwarten, entschlossen wir uns in den benachbarten Stadtteil auszuweichen und lateral wieder in den Bereich der Demonstrationsspitze zu kommen. In den Seitenstraßen staunten wir nicht schlecht. Viele ausgebrannte PKWs, zerschlagene Bankfassaden und gesprayten Parolen zeugten von vorangegangenen Sachbeschädigungen, von deren Verursacher niemand zu sehen war. Lediglich einige kleine Gruppen, die sich dort vermummt, aber passiv, aufhielten ließen erahnen, wer das hier veranstaltet hatte. Das es niemand des Demonstrationszuges aus dem Stadion Carlini gewesen war, war offensichtlich. Wir waren mit ihm ja gerade erst angekommen.

 

Während wir so durch die Parallelstraßen zogen, bekamen wir über den Lärm und den Blickkontakt aus der Ferne mit, dass es zu Kämpfen an der Spitze der Demonstration gekommen war. Wir durchquerten den Stadtteil und versuchten die Polizei zu umgehen, die sich im Stadtteil hektisch bewegte. Diverse Straßen waren von Polizeiketten und - fahrzeugen blockiert.

 

Wir hatten verabredet, dass unser Aufenthalt lediglich dem Demonstrieren und dem Dokumentieren dienen sollte. Irgendwelche Angriffe auf die Polizei standen nicht auf unserer Agenda. Angriffe auf uns wollten wir entsprechend beantworten. So zogen wir fotografierend durch den Stadtteil und nach ca. einer Stunde kamen wir von der Seite an der Unterführung an, wo das Fahrzeug der Carabinieri brannte. Die ganze Zeit passten wir auf, nicht irgendwelchen prügelnden Polizeieinheiten als willkommenes Opfer zu erscheinen.

 

Die Auseinandersetzung an dieser Unterführung/Kreuzung war sehr heftig. Der Aufenthalt für Menschen, die nicht fähig oder nicht willens waren auf eine solche brutale Polizeigewalt adäquat zu antworten, war gefährlich. Wir zogen uns deshalb rasch aus dieser Zone zurück und versuchten zu anderen Demonstrationen zu gelangen, die sich noch als politische Protestzüge in der Stadt bewegen würden. Davon fand sich aber keiner. Überall waren Menschen auf der Flucht und zogen in kleineren und größeren Gruppen von einer Stelle zur anderen. Schließlich zogen wir uns, wie viele Menschen auch, in höher gelegene Straßen Genovas zurück. Von dort sahen wir von verschiedenen Stellen in der Stadt Rauch aufsteigen. In weiteren Straßenzügen waren diverse ausgebrannte Fahrzeuge und kaputte Bankautomaten zu sehen. Schäden, die aber schon „alt“ erschienen, also aus dem frühen Morgen.

 

Schließlich versuchten wir auf der anderen Seite des schon genannten Bahndamms wieder in Richtung Stadion Carlini zu gelangen. Nach einigen Kilometern fand sich eine Brücke über die wir die Gleise überquerten und wieder auf der Straße des Vormittags, Corso Aldo Gastaldi/Corso Europa, landeten. Die DemonstrantInnen befanden sich dort in einem völlig unorganisierten Zustand und zogen sich immer weiter Richtung Stadion Carlini zurück. Diverse Gruppen versuchten mit allem Möglichen die Straße unpassierbar gegen aggressiv anstürmende Polizisten zu machen. Der Ruf „assasini“, „assasini“ erklang sehr oft. Wir deuteten dies erst einmal als Beschimpfung der Polizisten. Von der Ermordung Carlo Giulianis hatten wir noch nichts erfahren. Die Polizei griff mit Gasgranaten und Schlagstöcken immer weiter die DemonstrantInnen an. An einen geordneten Rückzug war nicht zu denken. Daran, sich der Polizei in einer solch desolaten Situation zu stellen, auch nicht. Zudem waren diese äußerst aggressiv und man merkte es ihnen an, dass es ihnen nur um eins ging: Menschen zu verletzen. Wir entschieden uns von der Hauptsstraße aus eine Gasse zu nehmen, die uns über einen Berg führte. Das war alles mehr eine Flucht, als ein geplanter Rückzug. Mit einigen Italienern und Deutschen ging es einen steilen Berghang rauf.

 

Oben angekommen, teilten die Deutschen uns mit, dass vor einigen Minuten ein Demonstrant erschossen worden sei. Ein Anruf ergab, das schon die Medien darüber berichteten. Wir waren wie vor den Kopf geschlagen und sahen uns ratlos an. Eine erste Reaktion in der Gruppe, war der Vorschlag umzukehren und die Polizei anzugreifen. Aber dies war eher ein Reflex. Schnell war klar, dass für jeden von uns diese Neuigkeit eine Orientierungslosigkeit auslöste. Das jemand von uns G8-GegnerInnen von der Polizei erschossen worden war, raubte uns die Initiative und wir waren von dieser Dimension staatlicher Repression, einem polizeilichen Mord, völlig überrannt.

 

Einen Monat zuvor, am 15. Juni 2001, hatten schwedische Polizisten in Göteborg mehrere G8-GegnerInnen auf einer Demonstration angeschossen. Einem schossen sie in den Rücken. Er überlebte nur knapp. Dies hatten wir entweder als Ausnahme Situation eingeschätzt oder verdrängt. Todesschüsse der Polizei als Damoklesschwert für zukünftige Proteste - das hatte von uns niemand ernsthaft in Erwägung gezogen.

 

Wir zogen weiter in Richtung Stadion Carlini. Auf dem Weg dorthin begegneten wir immer wieder Gruppen, die die Information über den Tod eines Demonstranten schon hatten und ähnlich orientierungslos wie wir wirkten. Am Stadion Carlini war die Situation nicht anders. Zwar waren hier viel mehr Menschen. Aber es herrschte große Ratlosigkeit. Die Gewalt schien viele paralysiert zu haben. Ich traf Francesco (siehe Interview), der in einem Pulk von SprecherInnen stand. Er erzählte mir, dass mehr als einmal auf DemonstrantInnen geschossen worden sei und hielt mir einige Patronenhülsen hin.

 

Ein Verbleiben am Stadion mit unserem kleinen LKW mit nicht italienischen Kennzeichen erschien uns zu gewagt. Wir entschieden uns, aus Genova raus zu fahren und einen Schlafplatz zu suchen. Nach kurzer Fahrt erreichten wir den lingurischen Ort Bogliasco. Dort stellten wir den kleinen LKW auf einen Parkplatz am Strand.

Mit einer Flasche Wein zog ich mich an den Kai des kleinen Hafens zurück. Ich dachte an den 20jährigen Spanier, der an diesem Nachmittag erschossen worden war. Die Identität Carlos war uns bis dahin nicht bekannt. Wir hatten von einem jungen Spanier gehört. So saß ich am Kai und schaute auf die lingurische See. Ich dachte an mein Alter und wie viele Jahre ich die Chance gehabt hatte älter zu werden und länger zu leben. Wie viel ich erlebt hatte, Schönes und weniger Schönes, neue Erfahrungen, Richtungswechsel, berufliche Veränderungen, politische Perspektivwechsel, Lieben, Freundschaften, etc.. Alles Möglichkeiten an Erfahrungen, die diesem jungen Mann von einem Polizisten genommen worden waren. Nach und nach gesellten sich die anderen an den Kai und wir hockten dort noch lange zusammen, jeder seinen eigenen Gedanken nachhängend.

 

 

Genova 2001 / 21. Juli

 

Am nächsten Morgen schwammen wir eine Runde im Meer. Wir waren begeistert von diesem schönen Ort und wunderten uns, warum er dort so still und leer war. Als wir ein Jahr später nach Bogliasco kamen, um dort auf einem Campingplatz zu übernachten, sahen wir wie touristisch dieser Ort genutzt wird. Und das er 2001 nur deshalb so leer war, weil die Propaganda der Regierung Berlusconi mit den Geschichten von gewalttätigen DemonstrantInnen die Menschen aus Genova und auch aus Bogliasco vertrieben hatte.

 

Wir fuhren wieder zum Stadion Carlini, wo wir uns der großen Demonstration anschlossen.

 

Die Stimmung schwang zwischen ängstlich/verzagt und wütend/grimmig. Aber alle Menschen schienen entschlossen, sich durch die Polizei nicht einschüchtern lassen zu wollen. Trotz all der staatlichen Gewalt gegen den G8-Gipfel demonstrieren zu wollen.

 

Wie lange wir brauchten bis wir zum Hafenbereich gelangten, kann ich nicht sagen. Unten am Meer angekommen befanden wir uns auf einer riesigen Straße mit zehntausenden DemonstrantInnen. Eine ganze Strecke vor uns war wahrzunehmen, dass die Polizei Tränengas verschoss. Und das dort etwas brannte. Viele zögerten und der größte Teil der DemonstrantInnen zog auf der großen Promenade in die gegensätzliche Richtung. Wir waren neugierig und sahen uns das Ganze von näher an. Vorne lieferten sich einige hundert Demonstranten ein „hit and run“ gegen eine ganze Polizeiarmada, die jeder lateinamerikanischen Diktatur zu Ehren gereicht hätte. Einige Vollidioten schreckten nicht davor zurück eine Bank, oder was es war, in der Parterre eines Wohnhauses anzuzünden. Hier kam es dann innerhalb der Militanten fast zu Schlägereien, da viele dies nicht wollten.

 

Die Polizei ging kurze Zeit darauf wie eine römische Legion vor und räumte den Platz, den anliegenden Strand und die Promenade in brutaler Gewalt. Dabei wandte sie unterschiedslos Gewalt gegen jeden an, der nicht zu dem Repressionsapparat gehörte. Selbst einige Badeurlauber, die sich absurder Weise am Strand aufhielten, erwischte die Gewalt. Der riesige Pulk der DemonstrantInnen, der schon längst auf dem Weg in die andere Richtung war, hatte nicht die geringste Möglichkeit auszuweichen. Links ging eine Steilwand hoch und rechts ging es erst zu einem Leuchtturm rauf, und etwas weiter fast 10 Meter eine Mauer hinunter zum nächsten Strand. Irgendwann war unser Ausweichort, der erste Strand, auch nicht mehr sicher und wir befanden uns in diesem einige zehntausende DemonstrantInnen zählende Menschenmasse. Wir befanden uns in diesem Flaschenhals, als die Polizei von ihren Hubschraubern, Booten und von ihrer Infanterie zu einem Frontalangriff überging. Wir wurden vom Wasser, der Luft und der Straße mit einer Unmasse von Tränengasgranaten eingedeckt. Man sah kaum noch seinen Nächsten. Vom Nebel und den tränenden Augen. Das Atem viel einem sehr schwer. Plötzlich fuhren die Panzerwagen der Carabinieri mit hoher Geschwindigkeit in die Demo und die dort Stehenden konnten sich nur mit Mühe vor dem Überfahren werden retten. Gleichzeitig stürmten die Polizisten nach vorne und schlugen alle zusammen die sie erreichen konnten. Zuvor waren alle ängstlich vor den anrückenden Polizisten auf der breiten Straße voran gerückt. Aber das ging bei dieser Masse von Menschen nicht schnell. Jetzt löste sich eine Massenpanik aus. Alles versuchte verzweifelt voran zu kommen, den Polizeiknüppeln zu entfliehen, Menschen schrien durcheinander, stürzten, jede/r den die Polizei erwischte wurde blutig geprügelt. Ein Freund von mir war von dem Tränengas so übel erwischt worden, dass er nichts mehr sehen konnte. Ich nahm ihn bei der Hand und schob ihn nach rechts zu einer Mauer. Dort half ich ihm auf den Steilhang, der zu einem Leuchtturm führte. Hier zog ich ihn durch Gestrüpp und niedrige Bäume aus den Tränengasnebel und den anrückenden Polizeikohorten. Neben uns hockten noch gut fünfzig weitere DemonstrantInnen in dem Gehölz. Mit Entsetzen und Abscheu sahen wir den prügelnden Polizisten zu, wie sie bar jeder Menschlichkeit Wehrlose brutalst zusammen schlugen und misshandelten. Ein eigenes Eingreifen erschien so sinnlos, wie selbstgefährdend. Hinter uns ging ein großer Maschendrahtzaun entlang. Dahinter befand sich der Leuchtturm. Aus irgendeinem Grund hatten es Einige in diese sichere Zone geschafft. Von dort schrie ein Idiot die Polizei an. Diese hatten bis dahin den Leuten im Gehölz noch keine Aufmerksamkeit geschenkt. Jetzt aber sahen einige Uniformierte die Böschung hoch. Wir schrien den Idiot an, ruhig zu bleiben. Als jemand, der für die Polizei unerreichbar sei, würde er uns alle gefährden. Er wurde still und die Polizisten wandten sich wieder der Straße zu. Dort marschierten und prügelten weiter. Nach ca. einer Viertel Stunde rutschten wir im Gehölz runter zur Straße und gingen in die gegensätzliche Richtung. Wir wurden zwar mehrmals aggressiv von Polizisten angehalten, spielten aber die Unbedarften. Was uns angesichts von ein - bis zwei Hundert Verletzten und auf dem Boden liegenden Genossinnen schwer viel. Bei einer besonders krassen Situation mit blutig geprügelten Sanitätern des Genova Sozial Forums machten wir aber dennoch Fotos. Was uns fast das gleiche Schicksal wie diesen einbrachte.

 

Endlich hatten wir es geschafft aus diesem Schlachthaus raus zu kommen. (Einen kleinen Eindruck kann man hier gewinnen: http://www.youtube.com/watch?v=5k-KaQp4cNk&feature=player_embedded#at=58 ). Und wir machten uns Sorgen um die Anderen.

 

Wie wir später erfuhren, waren sie mit dem Strom der Fliehenden mitgerissen worden. Einer berichtete, dass er nichts mehr gesehen und nur nach vorne bewegt hätte. Er hätte jemand hinten an seinem Rucksack gespürt und gedacht ich sei es gewesen. Erst später hätte er bemerkt, dass sich ein Fremder seiner Hilfe benutzt hatte. Den anrückenden Prügelpolizisten schaffte er es zu entgehen, in dem er neun Meter ein Regenrohr zum Strand herunter kletterte und dort auf ein Dach sprang.

 

So begann die Suche der Anderen in dieser von staatlichen Gewaltexzessen gezeichneten Stadt.

 

Wir bekamen zwar nach ca. einer Stunde über handys Kontakt. Aber in dieser von Straßenblockaden reglementierten und Prügelpolizisten patrouillierten Stadt sich zu treffen war sehr schwer. Bei dem Versuch uns zu treffen, kamen wir an einer Sanitätsstation vorbei. Vor deren Türen lagen zig Verletzte oder hockten am Boden. Schnell verbundene blutende Kopfwunden, geschiente Arme oder gebrochene Rippen. Dutzende leicht und schwer Verletzte warteten vor der überfüllten Station auf Hilfe. So viel übel Verletzte und Zugerichtete hatte ich noch nie in meinem Leben gesehen. Endlich trafen wir uns. Außer Schock, gereizten Augen und gebrochenem Stolz hatten wir keinerlei Verletzungen zu verzeichnen.

 

Wir entschlossen nach Bogliasco zu fahren. Genova erschien uns als Hexenkessel, in dem für uns nur noch eine willkürliche Verhaftung und Misshandlung in Frage käme. Das diese Nacht in Genova als die „Chilenische Nacht“ in die Geschichtsschreibung der italienische Linken eingehen sollte, wussten wir nicht. Wir konnten weder die Ereignisse in der Scuola Diaz, die Folterung in Bolzanetto, noch die Torturen und Misshandlungen auf den Polizeistationen und in Marassi erahnen. Aber das war es was Genova ausmachte. Die unmittelbare Gefahr für deine eigene persönliche Unversehrtheit war überall zu spüren. Es gab Null Garantie und Sicherheit für eine/n G8-Gegner/in. Es war die Abwesenheit jeder Menschlichkeit und demokratischer Rechte. Es war das faschistische Szenario von Forza Italia, Allianza Nazionale und Lega Nord, maskiert in einer angeblichen Demokratie. Präsentiert für und im Namen der Regierungen der Staaten der „freien Welt“. Dies war überall zu spüren. Und so fanden wir uns abends in Bogliasco wieder und das war aus der heutigen Perspektive gut so.

 

Wir verbrachten einen „ruhigen“ Abend und kehrten am nächsten Tag nach Deutschland zurück. Kontrolliert wurden wir nicht an der Grenze. Erst am Abend des 22. Juli 2001 erreichten uns im heimischen Ruhrpott die weiteren Nachrichten aus Genova. Darunter der „Blitz“ auf die Scuola Diaz und die Gewaltorgie an den GenossInnen.

 

In den nächsten Tagen konnten wir nur Abkotzen über die opportunistischen deutschen JournalistInnen, die sich als Verlängerer staatlicher Repressionspolitik erwiesen. Erst Tage und Wochen später, waren in Deutschland kritische Stimmen aus den Medien zu den Abläufen in Genova zu hören. Das die Bundesdeutschen Repressionsorgane nur allzu gern ihren italienischen KollegInnen zur Hand gingen, verwunderte uns nicht. Die demokratische Fassade polizeilicher Organe in Deutschland ist eine sehr dünne.

 

 

Milano, Ruhrpott Herbst 2001

 

Die Wellen in den Medien schlugen auch in der BRD hoch. Die Zeitungen waren voll. Voll Lügen und Verdrehungen. So genannte Sicherheitsspezialisten kamen allerorten zu Wort. Und es war klar. Die Gefahr für Freiheit und Demokratie kam nicht aus den staatlichen Strukturen, Medien und zivilgesellschaftlichen Organen heraus, sondern aus jenen marginalen Resten linker Strukturen in Europa. Und unter diesen würde ein internationalisierter Black Bloc, die neue RAF darstellen. Ursache und Wirkung wurden vertauscht. G8 und Ausbeutung, Kapitalismus und neoliberale Politik, verschwanden hinter Bildern brennender Autos und militanter Demonstranten. Todesschüsse, Panzereinsätze, Gewaltorgien, Folter, Misshandlungen alles Nebensache und notwendig zum Schutze der „Demokratie“.

 

Alles frei dem Motto „Wir brauchen keine Opposition, wir sind ja schon Demokraten.“

 

In Bochum, wie auch anderen Ruhrgebietsstädten, wurde zu Genova plakatiert. Man informierte auf der Bochumer Kortumstraße PassantInnen über die Vorgänge in Genova.

 

Ich hatte aus der Distanz die großen Demonstrationen in Milano mitbekommen. Mich interessierte die gesellschaftliche Auseinandersetzung in Italien. Und so nahm ich mir zwei Wochen später Urlaub und fuhr für eine Woche nach Mailand. Dort versuchte ich an allen Veranstaltungen zu Genova teilzunehmen, deckte mich mit allen möglichen Informationsmaterial ein und diskutierte viel mit meinen GenossInnen aus den Sozialzentren. Die Jugendlichen aus dem CSOA BULK malten zu diesem Zeitpunkt ein großes Graffiti für Carlo Giuliani an der via Bramante, schräg gegenüber ihrem Zentrum. Meine Fotos von der Entstehung hänge ich hier an.

 

Am 26. August spielte die italienische Band Mau Mau aus Torino im Bochumer Stadtpark. Wir malten zu dieser Gelegenheit ein Transparent und ich hielt eine kurze Rede. Später verwandten wir das Transparent noch auf einem Konzert mit der Band von Fermin Muguruza am 20. September im Bahnhof Langendreer. Leider ging es dann auf der ersten Jahresdemo im Juli 2002 in Genova verloren.

 

Unsere Gruppe produzierte mehrere tausend Aufkleber zu Genova und Carlo Giuliani. Wir bekamen daraufhin oft den Vorwurf zu hören, dass wir einen Martyrerkult schaffen würden. So kritisierte mich ein junger Punk für die Aufkleber auf einem Konzert, ohne zu wissen, dass sie von mir stammten. Bis heute kann ich nur an dem festhalten was ich ihm damals sagte:


Es waren 300000 Menschen in Genova, um gegen den G8-Gipfel zu demonstrieren. Jede und jeden hätten dort diese oder andere Schüsse der Polizei töten können. Das es Carlo traf war ein Zufall.


Mit den Aufklebern erinnere ich an einen von uns, der stellvertretend für alle, von Polizisten ermordet wurde. Er war wie ich auf der gleichen Demo gegen die gleichen Verbrecher des G8. Er war einer von uns – uno di noi.


Es ist mein persönliches Erinnern, mein Bezeugen von Respekt an Carlo Giuliani. Meine Würdigung seiner Person. Ein Erinnern, dass das Verbrechen seiner Ermordung und dessen Umstände nicht der Vergessenheit anheim fallen lassen will. Auch ihm (dem Punk) hätte ich ein Transparent, ein Aufkleber, ein Nachruf gewidmet. Hätte nicht zugelassen, dass man ihn vergisst.


Angesichts der Tausenden die täglich ermordet werden durch Hunger und Armut, durch europäische Grenzkontrollen und Staatsgewalt, würde es mir nicht anstehen, auch nur eine/n zu vergessen. Und Carlo zu gedenken, heißt nicht die Anderen zu vergessen. Ihm zu gedenken heißt nicht, das man hierarchisiert in der Würdigung.


Das Bild von Carlo habe ich verwendet, um Carlo sichtbar zu machen. Er war eine Person, ein Individuum mit Gesicht. Keine Nummer in einer staatlichen Statistik. Falls andere einen pseudoreligiösen Kult um ihn machen, so spricht das nicht für sie und meine Kritik ist ihnen gewiss. Ebenso denjenigen, die seinen Tod instrumentalisieren.


Ich erinnere an Carlo Giuliani so, wie ich es tue. Und das ist gut so.

 

Karsten saß in Marassi ein. Ich schrieb ihm. Je länger er und die Anderen einsaßen, je mehr Fälle bekannt wurden, um so klarer wurde es, dass all dies nur der Anfang einer riesigen Repressionswelle war. Um Geld zu organisieren sprach ich die Leute von Cable Street Beat in Gütersloh an. Ziel war es eine Musik-CD zur Finanzierung der Antireppressionsarbeit zu erstellen. Es entstannt die CD „la lotta continua“. Das Label von Mad Butcher und Cable Street Beat Gütersloh organisierten Bands, Produktion, Vertrieb, etc.p.p. Ich schrieb den Text zur Repression und Ulrich Brand den Text zur G8-Politik/Globalisierung.

 

Im September fand das Konzert von Fermin Muguruza statt. Ich sprach ihn auf einen Support an und er stellte einen Song für die CD zur Verfügung.

 

Anfang Oktober lud ich einen Genossen aus dem CSOA BULK ein, um über Genova und seine Folgen zu sprechen. Er referierte auf mehreren Treffen im Ruhrgebiet und im Rheinland.

 

Am deutlichsten ist mir noch das Treffen in Düsseldorf in Erinnerung. Es waren ca. 100 Leute im Hinterhof anwesend. Die Anwesenheit des italienischen Genossen schien für viele eine Nebensächlichkeit. Schnell wurde klar, dass die Veranstaltung, er und überhaupt die ganze italienische Linke nichts als eine Projektionsoberfläche für bundesdeutsche Linke war. Die deutschen Anhänger von Tute Bianche, gegen die deutschen Anhänger von Autonomia di Classe und COBAS, die wieder gegen Black Bloc, usw.. Aber alles bitte ohne den Referenten zu Worte kommen zu lassen und ohne viel Wissen über italienische Verhältnisse und Vorgänge. Das Ganze gipfelte dann in einer Frage an den Referenten, was er als Anhänger der Disobbidienti, zu der Frage sagen würde, ob diese sich noch als revolutionär bezeichnen würden. Er erwiderte, dass die Disobbidienti sich nicht als revolutionär bezeichnen würden. Aber vielleicht sei dies ja schon wieder revolutionär. Das eine solch dialektische Antwort über den Verstand eines Durchschnittslinken in Deutschland geht, war ersichtlich. Unser deutscher „Revolutionär“ war mit der Teilantwort, mit dem „nicht revolutionär“, zufrieden und fühlte sich in seiner Ablehnung zu den Disobbedienti und in seiner Überlegenheit bestätigt.

Italien war nicht nur für Goethe eine große (rassistische) Projektionsfläche. Es ist bis heute ein teutonisches Wunschgebilde.

 

 

Im Juli 2002 kehrten wir noch einmal nach Genova zurück und beteiligten uns an der Demonstration zum Gedenken an Carlo Giuliani.

 

Anfang April 2003 war ich abermals in Milano. Zwei Wochen nachdem Faschisten einen Genossen, Davide „Dax“ Cesare, aus dem Umfeld meiner FreundInnen erstochen hatten. (siehe: http://linksunten.indymedia.org/de/node/35693)

Damals kaufte ich mir in der Buchhandlung Feltrinelli die VHS „Genova per noi“. Eine Dokumentation verschiedener linker Presseorgane und des Genova Social Forum über die Ereignisse 2001.

 

Als ich es schaffte mir den Film in einer ruhigen Minute anzusehen, musste ich weinen. Dieses Filmmaterial aus Genova kannte ich noch nicht. Angesichts der Gewalt der Polizisten gegen die Menschen war ich sprachlos und die Tränen liefen mir über die Wangen. Ich bemerkte erst jetzt wie stark mich die Menschenjagden und die Gewalt der Polizei in Genova getroffen hatten.

 

Das ich mit diesen Emotionen nicht allein war, erzählte mir die Freundin eines Genossen, der mit mir in Genova war. Bei der ersten Veranstaltung zu Genova, wo er war, begann er unvermittelt zu weinen. Auch an ihm war die Gewalt nicht spurlos vorbei gegangen.

 

Heute, 10 Jahre nach den Ereignissen in Genova 2001, sollen es meine Interviews mit den Eltern von Carlo Giuliani, Francesco aus Milano und Karsten aus Bochum sein, die helfen die Erinnerung an Carlo Giuliani und Genova 2001 wach zu halten.

p { margin-bottom: 0.21cm; }a:link { }

Proyecto Memoria/Genova 2001 - Interview mit Haidi und Giuliano Giuliani

http://linksunten.indymedia.org/de/node/43428

Proyecto Memoria/Genova 2001 - Interview mit Francesco / Corsari Milano

http://linksunten.indymedia.org/de/node/43500

Proyecto Memoria/Genova 2001 - Interview mit Karsten/Bochum

http://linksunten.indymedia.org/de/node/43652

 

 

 

 

 

Ich hoffe, es ist mir gelungen diesem Anliegen gerecht zu werden.

 

 

Einer von   Azzoncao, ein Polit - Cafe

p { margin-bottom: 0.21cm; }a:link { }

alt - http://www.nadir.org/nadir/initiativ/azzoncao
neu - http://lunte.indymedia.org/azzoncao

 


 

 

Disobbedienti

http://de.wikipedia.org/wiki/Disobbedienti

 

 

CD „la lotta continua“

http://commerce.madbutcher.de/product_info.php?info=p5641_COMPILATION-LA-LOTTA-CONTINUA-CD.html&XTCsid=124682e8480022bb51261468208e9845

 

 

Weiterer Repressionsbericht zu Genova:

http://www.links-netz.de/K_texte/K_brand_genua.html

 

 

 


 

 

 

Göteborg:

 

 

Gipfel von Göteborg 2001

http://de.wikipedia.org/wiki/Gipfel_von_G%C3%B6teborg_2001

 

Urteil nach Volkes Stimme in Göteborg

http://www.heise.de/tp/artikel/9/9262/1.html

 

Amnesty International Landesbericht Schweden für das Jahr 2001

http://www.amnesty.de/umleitung/2002/deu03/107?lang=de&mimetype=text/html&destination=node%2F3006%3Fpage%3D1

 

Schwedische Dokumentation:

 Terrorists.The kids they sentenced

http://www.youtube.com/watch?v=SezyUk_UGqU

http://www.youtube.com/watch?v=bJ6TIY9nMGA&feature=related

http://www.youtube.com/watch?v=VNLe-VWDivA&feature=related

http://www.youtube.com/watch?v=KM2rbGziDF4&feature=related

http://www.youtube.com/watch?v=_TyJs7HYahg&feature=related

http://www.youtube.com/watch?v=nw8rUimzVHE&feature=related

http://www.youtube.com/watch?v=WbPg1iTIPCE&feature=related

http://www.youtube.com/watch?v=hvafNYb-KPE&feature=related

http://www.youtube.com/watch?v=7-R22_SUNWk&feature=related

 

 

 

 

---------------------------

 

Adresse:

Azzoncao, ein Polit-Cafè

c/o Bahnhof Langendreer

Wallbaumweg 108

44894 Bochum

Zeige Kommentare: ausgeklappt | moderiert

Hey Genossin/Genosse.

Vielen Dank für Deinen sehr persönlichen Bericht. Schön zu lesen/hören dass du weiterhin politisch aktiv bist.

Auch ich war in Genua 2001 mit GenossInnen aus Gö. Einer von uns landete für zwei Tage im Knast und ist mittlerweile auch wieder politisch unterwegs, hatte aber ne längere Auszeit, weil ihn die erlebte Gewalt sehr mitnahm. Andere Freunde mit denen ich unterwegs war sind seit dem nie wieder bei größeren (militanten) Demos oder Aktionen dabei gewesen (von sowas wie CSD mal abgesehen). Ich fühlte mich beim Lesen deines Berichtes sehr an meine eigenen damaligen Erfahrungen und Erlebnisse erinnert. Und auch heute wieder das gleiche wie damals nach Genua (was du ja in Bezug auf deutsche Medien auch ansprichst): alle gemäßigten Linken sollen sich nach G20 in HH vom bösen schwarzen Block distanzieren, wie unklar krass und brutal die Cops am ersten Tag auf die "Welcome to Hell"-Demo losgegangen sind interessiert gar nicht  (allein die Szenen wo Leute auf die Mauer steigen um zu fliehen, Wunder dass es da keine Schwerverletzten gab). Das Gerichte entschieden haben, daß zumindest einige Camps rechtlich ok waren interessierte die Bullen nicht die Bohne. Gaaaarrrrgh ich schreib mich grad in Rage, ich hör lieber auf.

Danke nochmals für den Bericht und

Keep on fighting

ein Genosse