Früh morgens am 22. März 2017 machen wir uns mit einem kleinen Teil der Newroz-Delegation mit einem offentlichen Dolmuş (Minibus) von Wan auf den Weg nach Gever. Ob wir die Militärsperre passieren können ist für uns zu diesem Zeitpunkt ein großes Fragezeichen, doch wir wollen es zumindest versuchen. Wir wollen uns ein Bild von der Zerstörung, die während der Ausgangssperre vor genau einem Jahr stattfand, machen.
Wir reisen ohne eine Person die für uns übersetzen kann, es scheint uns sicherer um keine Freunde unnötig in Gefahr zu bringen. Erst vor Ort werden uns zwei Freunde in Empfang nehmen und den Tag über begleiten. Wahrscheinlich ist das auch unsere einzige Chance rein zu kommen. Kurz vor dem großen Militärcheckpoint bekommen wir über Telefon von unserem Freund Gelawej bescheid, dass in ca. 10 min der Checkpoint kommen wird. So genau können wir uns nicht vorstellen was das bedeutet, aber wir versuchen uns darauf vorzubereiten, sind vorsichtig bei allen Gesprächen die wir auch mit den Menschen im Bus führen, schließlich sollte es irgendwie glaubhaft wirken, das wir Tourist*innen sind, die keine Kontakte zu Menschen vor Ort haben. Als wir langsam auf den Checkpoint zu rollen, ist es nicht, wie ich erst erwartet hatte ein kleiner provisorischer Checkpoint, sondern eine regelrechte Militärbasis. Gut ausgerüstet und mitten im Taleingang, wo sich die Straßen vor der iranischen und irakischen Grenze aufteilt in die Städte: Colemêrg (türk: Hakkari) und Gever (türk: Yüksekova). Alle Autos werden von bewaffneten Soldaten angehalten und gecheckt. Sie schauen in unseren Bus, kontrollieren den Kofferraum, dann wollten sie unsere Pässe sehen - nehmen sie mit, doch nach einer Weile bekommen wir sie zurück und können passieren.
Wir können es selbst fast noch gar nicht glauben das wir es wirklich bis nach Gever geschafft haben. Doch als wir es unserem Freund berichten, dass wir gleich ankommen werden, meint er sofort, dass in 5 min ein weiterer Checkpoint auf uns zukommen wird…
Wir fahren das letzte Stück auf der wunderschönen Bergstrecke, komplett zugeschneit und mit einem Fluss der sich neben der Straße durch das Tal windet. Dann kommen wir zum nächsten Militärcheckpoint am Eingang der Stadt Gever, er scheint viel kleiner, die Straße verengt sich zwar und in jedes Auto wird von außen nochmal reingeschaut, aber wir können ohne Passkontrolle weiter fahren. Jetzt sind wir wirklich da!
Eine unglaubliche Aufregung und Nervosität macht sich breit, ich freue mich sehr, denn immer noch glaube ich, letztes Jahr die falsche Entscheidung getroffen zu haben, nicht mit einem kleinen Teil der Newroz-Delegation nach Cizîr gefahren zu sein und zu versuchen die Sperre zu durchbrechen… Deswegen ist meine Freude dieses Jahr wohl umso euphorischer. Das erste was wir im Zentrum sehen, ist super viel Polizei und Militär, mit Panzern, Wasserwerfern und bewaffnet. Dann erblicke ich unseren Freund, der bereits auf uns wartet und uns in Empfang nimmt, um uns durch seine Stadt zu führen und uns die ganze Zerstörung durch das türkische Militär zu zeigen.
Für einen kurzen Moment denke ich, es handelt sich um einen ganz normalen Besuch unter engen Freunden. Es fühlt sich an, als wären mit so einem Wiedersehen keine weiteren Schwierigkeiten und Schikanen verbunden – so als würde ich den Freund in meiner Stadt vom Bahnhof abholen…
Doch bereits bei den ersten Schritten durch die Straßen Gevers verändert sich dieser kurze Moment wieder schlagartig. Alles ist voller Polizeipanzern, Wasserwerfern und bewaffneten Jendarma, so dass wir keine Sekunde zu lang stehen bleiben können, oder überlegen wohin wir gehen. Wichtig ist, dass wir immer in Bewegung belieben, sonst würden wir sofort kontrolliert werden, da wir verdächtig wirken, sowieso sind alle Augen (und Wasserwehrrohre) auf uns gerichtet.
Hierher hat sich niemand verirrt. Entweder die Menschen leben hier und es ist ihr Alltag, oder wie wir, mit einem bestimmten Ziel, wofür wir keine Aufmerksamkeit auf uns ziehen sollten und das nicht auffliegen sollte, weil wir sonst nicht mehr darüber berichten könnten, was wir hier erlebt und gesehen haben.
Doch unsere zwei Freunde wissen genau wie sie sich mit uns zu bewegen haben. Alle Bewegungen und Wege scheinen gut abgesprochen, obwohl es keine Verständigung darüber benötigt. Das scheint sich hier bereits gut eingespielt zu haben.
Auf der Haupteinkaufsstraße bewegen sich sehr viele Menschen, Die Bevölkerung von Gever scheint nicht wie wir eingeschüchtert zu sein, mir kommt der Gedanke auf, was sie wohl alles schon erlebt haben müssen, dass das hier zur Normalität zu gehören scheint…
Als wir an einer Brücke angelangt sind, erfahren wir, dass sich hier bis vor dem Angriff kein Militär oder Polizei auf die „kurdische Seite“ der Stadt traute. Sie bewegten sich wenn, dann nur auf der so genannten „türkischen Seite, wo sich die Hauptverkehrsstraße zum Iran befindet und, wie wir später erfahren handelt es sich hierbei auch um die Seidenstraße, die bis nach Indien führte.
Relativ schnell entscheiden wir uns für das erste Interview mit den zwei Freunden in ein größeres, leeres Café zu gehen. Einer von beiden setzt sich wohl sehr bewusst mit dem Blick zur Tür und dzu den Fenster um immer ein Auge auf die Straße zu haben, doch es geschieht alles in einer ruhigen Selbstverständlichkeit und Angst ist keine spürbar. Sie berichten uns sehr viel und eindrücklich über die letzten 1 ½ Jahre und die Auswirkungen der Zerstörung, die das Militär und der türkische Staat, in Gever, während und nach der Ausgangssperre vom 13. März bis 31. Mai 2016 hinterlassen hatte. Die Stadt wurde damals von 20‘000 Soldaten umstellt und angegriffen. Heute sind 80‘000 Soldaten rund um Gever stationiert.
Fast alle Familien waren nach den 15-20 Tagen heftiger Kämpfe zwischen der städtischen Jugendverteidigung YPS und dem türkischen Militär (die unumstritten mit islamistischen Daeş-Kämpfern zusammenarbeiteten) gezwungen, Gever zu verlassen. Da der Zerstörungswahn nicht endete und Wohnungen und Häuser aus nächster Nähe mit Artillerie und Granaten beschossen wurden, oder mit chemischen Substanzen niedergebrannt wurden, war kein Verbleiben möglich. Das ganze Ausmaß der Zerstörung konnte erst nach der Lockerung der Ausgangssperre im Juni festgestellt werden. Bis heute gibt es eine nächtliche Ausgangssperre von 23:00 bis 6:00 in Gever.
Auch wenn es trotz offiziellen Zahlen 16‘000 zerstörte Häuser betrifft, die teil oder komplett zerstört wurden, wird das Ausmaß erst so richtig deutlich, wenn du es vor dir siehst, wie ganze Viertel ausgelöscht (dem Erdboden gleich gemacht wurden) oder jedes zweite Haus solch starke Schäden /Verbrennungen aufweist, dass sie nicht mehr bewohnbar sind.
Beeindruckend ist, wie direkt die Freunde über ihre politische Einstellung sprechen und was für einen starken Widerstandsgeist sie vertreten, leben und besitzen. Das erste Mal während unserem dichten Programm der Newroz-Delegation wird automatisch auf kurmancî gesprochen, es scheint hier die erste Sprache zu sein, um bewusst vom Türkischen weg zu kommen.
Ihre Haltung ist klar, dem türkischen Staat geht es um die Auslöschung ihrer Geschichte und ihres Lebens. Doch sie wissen sich zu verteidigen. Kein einziges Mal macht sich Niedergeschlagenheit, Hilflosigkeit oder Perspektivlosigkeit bemerkbar. Auf die Frage was Newroz dieses Jahr bringen soll, sind sie sich einig: einerseits Rache, und andererseits ein freies Leben.
Nach ner Weile kommt Unruhe auf, anscheinend befinden wir uns schon zu lange an einem Ort, wir sollten uns wieder in Bewegung setzen… Es kamen 4 Bullen in‘s Café und setzten sich oben hin, das ist der Zeitpunkt für uns zu gehen. Da wir auch auf der Straße nicht auffallen sollten, werden wir direkt vor dem Café von zwei Autos abgeholt, die uns direkt zum Eingang des HDP-Büros führen, so dass wir fast unbemerkt in den Eingang huschen können. Denn all zu gerne nutzt das Militär solche Besuche, wie unseren, um die HDP-Räumlichkeiten zu stürmen und zu durchsuchen.
Hier sprechen wir einerseits mit dem HDP Co-Abgeordneten von Gever, als auch mit zwei Frauen die sich gerade in dem Jin-Raum der HDP (Frauenraum) aufhalten. Die eine ist Journalistin bei DIHA (seit dem Verbot DIHABER). Sie berichten uns nochmal eindrücklich wie die Angriffe des türkischen Staates gezielt und vor allem auf die Frauen ausgerichtet waren. So wurden z.B. nach der Zerstörung die Häuser von den Soldaten betreten und gezielt verwüstet. Dafür nutzten sie hauptsächlich Frauenunterwäsche und Kinderspielzeug (gezielt jene von Mädchen). Oder sie hinterließen Sexistische Parolen an den Wänden die gezielt an die Frauen gerichtet waren wie z.B.: “Der Staat ist überall, Junge Frauen wir sind hier um euch zu prostituieren!“
Dieses Gespräch mit einigen Beispielen hinterließ bereits ein Bild von dem grauenvollen, sexistischen, faschistischen Vorgehen des Militärs und des türkischen Staates. Aber klar und unvergesslich wurde es, als wir uns wieder in die Autos setzten um durch die drei am stärksten betroffenen Stadtteile: Cumhuriyet, Güngör und Orman zu fahren. Damit wir uns selbst ein Bild des Ausmaßes der Zerstörung machen können. Spätestens jetzt wird klar, warum Rache als Teil der zu erkämpfenden Freiheit gehört. Es zerschlägt einem die Stimme – hätten wir nicht gelernt bei traumatischen Erlebnissen darüber zu sprechen und zu berichten… Das ist, was wir nun mit dem Erlebten tun, Die Bilder, Erlebnisse und Geschichten nach Europa zu bringen damit sie gehört werden. Niemand von uns hat je zuvor in ihrem Leben sowas zu Gesicht bekommen! Es ist erschlagend, aber auch bewegend, was sie uns alles zeigen und es gibt kein Ende…
Zunächst fahren wir durch Orman, praktisch alle 5 Meter bleiben wir stehen um aus dem Auto auszusteigen und Fotos von den verbrannten und zerstörten Häusern zu machen. Praktisch jedes zweite Haus trägt massive Spuren vom Krieg (zerbombte Mauern, Löcher in den Wänden, ausgebrannte Räume, eingestürzte Dächer, Einschusslöcher in Fassaden und Tore) es scheint als kamen alle Zerstörungswaffen zum Einsatz und dies mehr als zu genüge. Die Häuser sind mehr als unbewohnbar, teilweise auch komplett eingestürzt. Zu dieser Zeit liegt über allem eine weiße Schneedecke, es ist als wäre die Zerstörung ein wenig eingehüllt, nach einem Jahr. Doch Gelawej zeigt uns auch Bilder die er direkt nach der Öffnung der Ausgangssperre Anfang Juni 2016 gemacht hatte.
Den Bewohner*innen wurde es durch die Zwangsverwaltung verboten, ihre Häuser wieder aufzubauen und ihre Wohnungen zu reparieren. Das Ausmaß der Verdrängung und Auslöschungspolitik des türkischen Staates ist hier nicht mehr zu übersehen. Es sollte niemand verschont bleiben. Auch nach den Gefechten wurden gezielt weitere Häuser zerstört und verwüstet. Die Menschen sollten nicht zurück kommen. Dennoch sind viele der Bewohner*innen in diesem Jahr wieder nach Gever zurück gekehrt. Sie gehören hier her, das ist ihr Zuhause - wie absurd dieser Begriff wirkt, zeigt sich bei jedem weiteren kaputten Haus das wir besichtigen, denn ein Zuhause hat hier praktisch niemand mehr - dennoch wurde im vergangen Jahr einige der nicht komplett zerstörten Häuser repariert. Die Menschen haben sich gegenseitig mit Baumaterialien versorgt, fehlende Fenster und Türen wie Mauern wurden wieder eingebaut, so dass zumindest einige Wohnungen wieder bewohnbar sind. Aber auch vor fast komplett zerstörten Häusern, sahen wir frisch gewaschene Wäsche aufgehängt…
Der Plan des türkischen Zwangsverwalters ist es, diesen Frühling mit dem Bau sogenannter TOKIs zu beginnen, das sind Ersatzwohnungen der staatlichen Baugesellschaft, diese Wohnungen sollen den Familien dann für teures Geld verkauft werden und sie werden weit außerhalb der Stadt liegen.
Als wir zu dem zweiten, sehr stark unter Beschuss gefallenen Stadtteil Güngör kommen, erfahren wir, dass dieser Stadtteil noch vor einem Jahr stärker besiedelt war als Orman. Doch nun fahren wir an fast planen schneebedeckten Feldern vorbei. Nur vereinzelt steht noch ein Haus, sonst ragen überall Eisenstangen von Betonhäuserresten und Steinberge aus dem Schnee. Uns wird erzählt: „Überall hier standen Häuser“… „ja hier und hier auch... - überall!“ Doch davon ist wirklich nicht mehr viel übrig. Dann sehen wir zwei Bullen auf der Straße, zwischen den zerbombten Häuserfeldern. Wir entscheiden unsere Kameras einzupacken, und unauffällig weiter zu fahren, wir haben genug Dokumentationsmaterial einfangen können, doch die Leere in uns bleibt. Nur mit Wut gegen die Verursacher kann sie gefüllt werden, und die ist nach all den Eindrücken nicht zu verschweigen.
Trotzdem bleibt die fragende Ungewissheit die uns verfolgt, werden unsere Bilder und Dokumentationen ausreichen um zu vermitteln, was hier in Gever passiert?
Ist es möglich das was wir an diesem Tag gesehen und gehört haben so weiter zu geben, wie es auf uns gewirkt hat? Und kann dieses Ausmaß an Zerstörungswut – diese Vernichtungspolitik – die hinter Erdoğan und dem türkischen Staat steht überhaupt begreifbar gemacht werden?
Wir sind erschlagen und dennoch guter Dinge, denn unsere Freunde strahlen so viel Energie und Kampfwille aus, dass wir ihnen vertrauen wenn sie sagen: „Wir werden Siegen!“ So werden wir zum Abschied auch in ein widerständiges Çayevi (Teehaus), mit niedriger Decke gebracht, um den Holzofen in der Mitte hatten sich viele Männer versammelt, die sich beim Tee ihre Geschichten erzählen und die uns sehr herzlich willkommen heißen. Alle wissen, das ist ein Raum des Widerstandes – das wissen sogar die Bullen, gleichzeitig wissen diese aber auch, sie müssten mit mindestens 100 Beamten kommen um diesen Ort zu betreten…
Auf dem Weg zurück, raus aus der Stadt, wird uns die Brücke gezeigt, über die die Menschen zu Fuß fliehen mussten, als sie die Ausgangssperre verlassen wollten. Es gab wohl aber auch noch den Schmuggelweg, den das Militär nicht mit ihren Panzern befahren konnten. Die Straße durch das Tal nach Gever war bis 80km außerhalb zur Militärsperrzone erklärt und komplett abgeriegelt worden. Wir können diese Bedrückung der Belagerung noch spüren, weil genau in diesem Moment, wo uns davon erzählt wird, zwei Militärpanzer entgegen donnern.
Eigentlich gingen wir davon aus, dass das reinkommen nach Gever schwierig werden könnte, doch für uns gestaltete sich eher der Weg raus als problematisch.
Beim ersten kleinen Checkpoint gibt es keine weiteren Probleme, doch dafür beim größeren einige: Erst werden unsere Pässe abgenommen, dann teilweise unsere Rucksäcke durchsucht, bis uns mitgeteilt wird, wir müssen runter auf den militärischen Sicherheitsbereich fahren. Dort kommt dann ein ca. 20 jähriger Soldat zum Auto und auf deutsch fragt, ob wir alle deutsch seien und wann wir genau in die Türkei eingereist seien und was wir hier machen. Mit viel Stolz gibt er uns zu verstehen, dass er aus auch Deutschland kommt – aus Lindau am Bodensee – der Drittgrößte Waffenexporteur in Deutschland. (Die Rüstungsindustrie ist im Raum Bodensee mit zahlreichen Firmen vertreten. Rund 7000 Beschäftigte arbeiten in diesem Bereich, meist bei den größten Firmen ZF Friedrichshafen, Tognum, Liebherr Aerospace, EADS und Diehl Defence).
Irgendwann bekommen wir die Pässe zurück und uns wird ernsthaft gesagt: „Willkommen in der Türkei“. Es stellte sich heraus, dass der eine Soldat, dem wir „übergeben“ wurden von denen davor nicht richtig informiert wurde, dass wir nicht auf dem Weg nach Gever rein, sondern beim Weg raus festgehalten wurden. Dabei regten sie sich mehr über ihre Kollegen auf die uns ja irgendwie rein gelassen haben müssen, als jene, die die Information mit unserer Fahrtrichtung verwechselten...Wir konnten weiter fahren. Die Bild- und Tonspuren haben wir ohne Kontrolle aus Gever raus bekommen. Sie sollen jetzt veröffentlicht und verbreitet werden. Um nicht länger zu schweigen, oder zuzusehen, denn das können wir spätestens seit den Erlebnissen dieses Tages nicht mehr!!!
BERXWEDAN JIYANÊ!!!
Widerstand heißt Leben!!!
danke
Danke für den Bericht und Solidarität an alle die kämpfen und unterstützen!