Unsichtbares Komitee zu den Anschlägen der letzten Zeit

Ausgegebenen Anlass und um der Verwirrung innerhalb der radikalen Linken entgegen zu wirken, dokumentieren wir hier einen Text, der dem Unsichtbaren Komitee zugerechnet wird und anlässlich der Anschläge in Paris erschien. Veröffentlicht wurde der Beitrag auf dem lesenswerten Blog Lundi Matin, auf dem wöchentlich ein gutes halbes dutzend Texte, Recherchen, Reportagen, Interviews und Kommentare des gesamten radikalen Spektrum raus kommt.

 

Wo sich hierzulande zwischen falscher Solidarität und sozialdemokratischer Empörung, eine radikale Sprachlosigkeit breit macht, gibt es anderswo eine Summe an theoretischen und praktischen Denkanstößen um der gegenwärtigen Misere entgegen zu wirken.

 

Viel zu oft fällt auch, eine vermeintlich radikale Linke, auf die Konlifktualität zwischen dem Empire und dem islamistischen Fundamentalismus, mit einer kulturalistischen Analyse herein. Denn nix hilft beiden mehr, als jedwede andere Kategorie außen vor zulassen. Von Mali bis Afghanistan gibt es einen offenen Drohnenkrieg ohne jedwede demokratische Legitimation – aber darauf kommt es im Empire eh nicht mehr an – ersaufen Schätzungsweise fünf bis zehntausend Menschen im Mittelmeer - allein in diesem Jahr - gleichzeitig gibt es einen europaweiten Rechtsruck der noch mehr Menschen den Hass von Rassismen und Sexismen spüren lässt. Das bei all dem nicht noch mehr moslemisch sozialisierte Menschen ihre Rettung in einer islamistischen Ideologie suchen, ist fast schon verwunderlich.

 

Damit wir nicht falsch verstanden werden, weder wir, noch die Verfasser*innen des Textes, sehen in den Massakern in Paris oder sonst wo, etwas emanzipatorisches, aber sie sind weder verwunderlich noch unerklärlich, sondern vielmehr ein Produkt der gegenwärtigen Misere.

 

Wir brauchen mehr Orte und Konflikte mit denen wir aus dem Jetzt desertieren können, mehr Menschen die nicht mehr an dieser Welt partizipieren, um wieder in eine Dialektik der Auseinandersetzung und des Angriff zu kommen. Nächstes Jahr treffen sich einige Clowns im Juli in Hamburg, um ein weiteres mal das Spektakel zu bedienen. Wir haben gehört, dass die Tendenz der größten Ablehnung auch kommt, und eine Achse des Pöbels bildet...

 

-einige immer währende agenten der imaginären partei-

 

Der wahre Krieg

 

Vermittler und Verwalter, die keinem ihrer Bürger mehr ernsthaft „Sicherheit“ verkaufen können, werden von den jüngsten Massakern in Paris dazu gezwungen, ihre Rhetorik anzupassen. „Wir befinden uns im Krieg“, wiederholen sie unaufhörlich, in der leisen Begeisterung, wie sie sich angesichts eines neuen Spielzeugs einstellt. Das ist eine Rhetorik, mit der sie, wie es einst bei Arnauld & Nicole hieß, zwar einen Vorstoß unternehmen, aber von der sie nicht wirklich Gebrauch machen.

 

Denn wenn „wir“ uns im Krieg befänden, wäre es dann nicht selbstverständlich, dass Einheiten des Gegners unsere Städte angreifen? Was wäre dann normaler als blutige asymmetrische Kriegsführung? Sieht nicht so „der Krieg“ seit 1939 und vielleicht schon seit 1914 aus? Und wie einem Gegner Barbarei vorwerfen, der bloß die zeitgemäße Kriegskunst prakitiziert? Eine Kriegskunst, nach der der Befehl möglich ist, mithilfe einer Drohne einen Militärführer mitsamt seiner Familie niederzumetzeln, sobald sich die Gelegenheit dazu bietet.

 

Wenn es sich bei den Bomben in Milk Bar oder im Casino de la Corniche (Attentate der FLN 1956 & 1957; Anm. d. Übers.) in Algerien nur um „Vorkommnisse“ und nicht um einen „Krieg“ gehandelt hätte, worauf hätten dann die „Polizei-Operationen“ mit ihren Massakern, Bomben, Deportationen, Lagern, Folterungen geantwortet?

 

Nachdem der arme Francois Hollande auf dem Tiefpunkt seiner Popularität angekommen war, beschloss er, erst in Mali, dann in den Irak einzumarschieren. Und man könnte wetten, dass ihm da irgendein Militärberater sorgenvoll ins Ohr geflüstert hat:“ Aber, lieber Präsident, sind Sie sich darüber im klaren, dass ein solcher Einsatz das Risiko von Attentaten auf unserem Staatsgebiet enorm erhöht?“, und dass unser zum obersten Herrscher beförderter Generalbevollmächtigter in einem hohlen, lakonischen Ton erwidert hat:“Ja.“ Denn der Antiterrorismus hat schon immer eine wunderbare Wirkung bei Staatsmännern gehabt, die allgemeinen Misskredit geraten sind. Auf lange Sicht war es für sie besser, nach ihren Feinden statt nach ihren Erfolgen beurteilt zu werden.

 

Irgendwie haben es die vom IS begangenen Anschläge vermocht, extreme Anfälle von Verwirrung auszulösen, und bei vielen geriet auch die Heuchelei in die Krise. Denn da auf allen Feldern der westlichen Gesellschaften die Heuchelei regiert, können sie sich nur einem Mehr derselben Droge, mit noch mehr Heuchelei wehren – und das muss am Ende zu einer Überdosis führen. Es beruhte ja nicht auf einem Mangel an Information, dass ein beliebter Karikaturist auf die Attentate mit dieser Sprechblase reagiert hat: „Die Leute, die heute gestorben sind, sind ausgegangen, um zu leben, zu trinken, zu singen. Sie wussten nicht, dass man ihnen den Krieg erklärt hat“ Im Zeitalter der sozialen Netzwerke muss einer schon völlig vernebelt sein, wollte er behaupten, er wüsste nicht, dass die französische Armee auf einem guten halben Dutzend auswärtiger Schauplätze agiert und dass einige Interventionen, insbesondere in Mali, Syrien, im Irak oder auch in Afghanistan, einige Bombardierte ziemlich heiß gemacht haben. Zu schweigen von der Militarisierung der öffentlichen Ordnung und von den Demonstranten, die an Blendgranaten oder Hartgummigeschossen gestorben sind.

 

Und was bliebe von der Bequemlichtkeit dieses Karikaturisten, wenn ihm auffiele, dass im Grunde jede Regierung einen fortgestzten Krieg führt, um die eigene Bevölkerung zu kontrollieren? Was bliebe von seiner betonten Lässigkeit, wenn einsähe, dass seinem „Champagner“, seinem „Spaß“ und seinen „küssen“ der gesellschaftliche, kulturelle, ethische Ort fehlt - mit anderen Worten, dass seine „Freiheit“ bloß die der Sieger ist? […]

 

Das Schlimmste, was man einer Sache oder einem Menschen, die angegriffen werden, antun kann, ist sie nur deshalb zu verteidigen, weil sie angegriffen werden. Das ist eine beliebte christliche Untugend. Weder gilt es, „Frankreich“ - was soll das überhaupt sein? - noch Paris, noch die angesagten Orte, noch den Fußball, noch den Rock zu verteidigen, bloß weil ein Anschlag auf sie verübt worden ist. […] Die Sorte emotionaler Staatsstreich, die im letzten Januar aus „Charlie Hebdo“ ganz Frankreich gemacht hat, wird diesmal nicht funktionieren. Die Identifikation mit einer bestimmten Form großstädtischer Lebens lässt sich nicht aufdrängen. Dieses bewusst vernetzte Kleinbürgertum, den Fun, die Anmache, die hippe Branche, den Hedonismus der coolen Dreißigjährigen wird niemand für „unsere Lebensweise“, „unsere Werte“ und auch nicht für „unsere Kultur“ halten. Das ist ein bestimmter Lebensstil, wie es heute in diesem Land noch viele andere gibt, und ruft nicht nur Sympathie hervor. Wer die Attentate dazu benutzen will, die Vorherrschaft dieser Lebensform abzusichern, wird nur Hass gegen sie schüren.

 

Wir stehen zwei Fundamentalismen gegenüber, dem ökonomischen Fundamentalismus der Staaten – in der gesamten politischen Spähre, egal ob rechts, ob links, ob rechtsradikal, ob linksradikal, gibt es auschließlich Anhänger der Wirtschaft, des Kalküls, der Arbeit, der Berechnung, der Buchhaltung und der sozialen Maßnahmen – und dem ideologischen Fundamentalismus der Verfechter des Kalifats. Weder der eine noch der andere ist im mindesten bereit, seine Glaubensartikel zur Diskussion zu stellen, obwohl beider Religionen gleichermaßen abgestorben sind und nur noch weitervegetieren, weil sie willentlich, mit sinnlosen Massakern, endlosen Krisen und hartnäckiger Therapie am Leben gehalten werden. Ausgesprochen fanatisch wirkt es, dass die Krise des Neoliberalismus mit seiner Entfesselung beantwortet wird. Auch wenn wenige bereit sind, für die Wirtschaft zu sterben, hat doch im Westen niemand je Skrupel gehabt, in ihrem Namen töten oder sterben zu lassen. […]

 

Der wahre Krieg, der es für uns im Westen wert sein sollte, sein Leben zu riskieren, ist der Schluss zu machen mit der Ökonomie. Aber es ist ein Krieg, der nicht zu spektakulären Blutbädern führen wird, so antiökonomisch sie auch sein mögen. Es ist wesentlich indirekter Krieg. Durch den gelebten Kommunismus wird die Ökonomie zurückgedrängt, was kühne Akte nicht ausschließt. Der Aufbau eines umsichtigen Kommunismus ist mehr denn je die einzige Möglichkeit, den historischen Alptraum zu unterbrechen, aus dem wir zu erwachen versuchen.“

 

Übersetzt von Stefan Ripplinger: Konkret Januar/16 (in der selben Ausgabe ist auch ein weiterer lesenswerter Text, den Stefan Ripplinger geschrieben hat)

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"Das bei all dem nicht noch mehr moslemisch sozialisierte Menschen ihre Rettung in einer islamistischen Ideologie suchen, ist fast schon verwunderlich."

Das kann doch nicht euer Ernst sein!?
Habt ihr vielleicht auch ein paar verständnisvolle Worte für die Pegida Demonstranten und Trump-Wähler die bei all dem kapitalistischen Elend ihre Rettung in einer nationalistisch-autoritären Ideologie suchen?