Vorgestern jährte sich die Reichspogromnacht zum 78. Mal. In vielen Städten Deutschland, Österreich und darüber hinaus gab es Gedenkveranstaltungen. Dieses Ereignis wurde Teil unseres kulturellen Gedächtnisses. Weniger bekannt ist jedoch die Vorgeschichte des Pogroms, die auffällige Parallelen zur heutigen Zeit hat. Deswegen ist sie hier nochmal zusammengefasst.
Herschel Grynszpan wurde am 28.März 1921 in Hannover geboren. Seine Eltern waren orthodoxe Juden in Russland. Sie flohen 1911 vor antisemitischen Pogromen nach Deutschland. Nach dem 1.Weltkrieg nahmen sie die polnische Staatsbürgerschaft an. Als die Nazis 1933 an die Macht kamen, war die Familie nur durch ihren Glauben und ihrer Herkunft in Gefahr. Herschel ging 1936 nach Paris zu seinem Onkel. Er bemühte sich erfolglos um Aufenthaltspapiere. Frankreich hatte wie viel andere Staaten auch die Möglichkeiten der Einreise und für Aufenthalt deutlich erschwert. Zu groß sei der Strom vor allem jüdischer Refugees, so die damalige Argumentation. Also musste Grynzspan untertauchen und als Illegaler leben. Er wollte eigentlich nach Palästina, doch unter diesen Umständen konnte er es nicht erreichen.
Seine Familie blieb in Deutschland. Der Druck der Nazis nahm zu. Am 28. Und 29. Oktober begann die sogenannte Polenaktion. Polnische Staatsbürger, die in Deutschland lebten, wurden festgenommen und sollten in das Nachbarland deportiert werden. Doch die polnische Regierung erklärte sich bereits vorher für unzuständig, die Pässe für abgelaufen. So mussten sich 17.000 Menschen in Lagern im Niemandsland zwischen den beiden Staaten niederlassen. Das größte Lager war im Grenzort Zbaszyn, wo 9 000 Menschen ohne Wasser, Heizung oder Infrastruktur hausen mussten. Schlussendlich waren es Freiwillige von jüdischen Hilfsorganisationen sowie EinwohnerInnen des Ortes, die halfen -eine Infrastruktur schafften, polnische Sprachkursen anboten, manche Leute ins Landesinnere brachten etc.
Auch die Familie von Grynszpan war betroffen. Von seiner Schwester Berta bekam Herschel einen Brief, in dem sie ihm von ihrem Schicksal erzählte:
„Donnerstag abend ist ein Sipo zu uns gekommen und sagte, wir müssten zur Polizei und die Pässe mitbringen. So wie wir standen, sind wir alle zusammen mit dem Sipo zur Polizei gegangen. Dort war schon unser ganzes Revier versammelt. (…) Ich habe gebettelt, man soll mich nach Hause lassen wenigstens etwas Zeug zu holen. Bin dann mit einem Sipo gegangen und habe in einem Koffer die nötigsten Kleidungsstücke gepackt. Das ist alles was ich gerettet habe. Wir sind ohne Pfennig Geld.“
Bei Herschel Grynszpan lösten diese Informationen große Bestürzung aus. Er plante eine Protestaktion, die weltweit Aufsehen erregen sollte. Am 7.November 1938 kaufte er sich eine Pistole, ging damit zur deutschen Botschaft und schoss auf den Legationssekretär Ernst von Rath, der 2 Tage später verstarb. Gegenüber der Polizei gab er folgendes Statement ab:
„Ein Jude zu sein, ist kein Verbrechen. Ich bin kein Hund. Ich habe ein Recht zu leben, und das jüdische Volk hat ein Recht, auf dieser Erde zu existieren. Wo immer ich hinkam, ich wurde gejagt wie ein Tier.“
Die Tat habe er im Namen von 12 000 verfolgten Juden begangen.
Die Nazis ignorierten die Botschaft, und drehten die Tatsachen um. Das internationale Judentum habe einen feigen Anschlag auf das deutsche Volk begangen. Das deutsche Volk wurde aufgerufen, den Mord zu sühnen. Die Novemberpogrome begannen. Innerhalb von nur 4 Tagen wurden 400 Menschen umgebracht, 30 000 in Konzentrationslager gebracht, 1 400 Synagogen in Brand gesetzt. In Wirklichkeit waren diese Aktionen von langer Hand vorbereitet. Die ersten Zerstörungen wurden von SA- und SS-Männer in zivil begangen, die so den Eindruck des „Volkszorn“ erwecken sollten. Das Attentat war nur der Auslöser. In diesem Zusammenhang gibt es auch die These, dass das Opfer Ernst von Rath von den behandelnden deutschen Ärzten bewusst nicht gerettet wurde. Tot war er für die Nazis wertvoller; ein besserer Anlass für den Pogrom.
Herschel Grynszpan wurde verhaftet, aber für erste nicht nach Deutschland ausgeliefert. Erst nach der Eroberung Frankreichs wurde er überstellt. Ursprünglich war geplant, ihm als Agenten des fiktiven Weltjudentums einen Schauprozess zu machen. Doch dazu kam es nicht. 1942 kam Herschel zuerst ins KZ Sachsenhausen, dann ins Zuchthaus Magdeburg. Dort wurde er wahrscheinlich umgebracht. Sein Vater sagte Jahre als Betroffener der Polenaktion später im Prozess gegen Adolf Eichmann aus.
Viele Teile der Geschichte hören sich heute wieder bekannt an: Das System geschlossener Grenzen, das Schutzsuchenden den Schutz verweigert; das Behörden-Pingpong für Papiere, das oft genug erfolglos verläuft; die Lager an der Grenze, wo nur Freiwillige helfen und er Staat bewusst wegschaut; die Begründung für Proteste, einfach nur Mensch sein zu wollen, und kein Tier. Ich weiß, Geschichte wiederholt sich nicht – es gibt keinen neuen Hitler, und Syrien o.ä. ist nicht gleich Nazi-Deutschland, aber die Unmenschlichkeit wiederholt sich, und manchmal sogar in ähnlicher Form. Deswegen täten wir gut daran, am 9.November nicht nur den Opfern des Antisemitismus, sondern auch den Opfern des institutionellen Rassismus zu gedenken.
mh
Alle linken Gedenkveranstaltung widmen sich auch dem aktuellen Rassismus. Zumindest alle an denen ich in den letzten Jahren teilgenommen habe. Dies schon in einem Ausmaß bei dem es mir unbehaglich wird, weil die Parallelen eben doch nicht so weitreichend sind und es manchmal den Eindruck macht, als sollte Antisemitismus komplett historisiert werden. Dabei ist Antisemitismus auch heute noch ein massives Problem und nicht nur in sehr rechten Bevölkerungsschichten anzutreffen.