Die Ausrufung des Ausnahmezustands durch den französischen Präsidenten François Hollande am Abend des 13. Novembers 2015, (dem Tag der Attentate in Paris) für drei Monate war erst der Anfang einer beispiellosen Ermächtigung des Sicherheitsstaates. Durchsuchungen können nun auch nachts stattfinden, ohne Beschluss eines Ermittlungsrichters – 'Gefahr im Verzug' sozusagen als Normalzustand – Aufenthaltsverbote und Hausarreste für sogenannte 'Gefährder' sind nun möglich, sowie Verbote von Versammlungen und Demonstrationen. Zu den direkten Folgen und einigen Beispielen, wie sich die Ausweitung der Befugnisse für die Sicherheitsbehörden auch massiv gegen linke Strukturen richtete, siehe diesen Artikel: [Frankreich] Ausnahmezustand // Repression // #COP21 - aber auch: Demos und AKtionen [d]
Einen Monat später ist der Ausnahmezustand um drei weitere Monate verlängert worden, also bis Ende Februar 2016. Bislang beruhte er nur auf einem Gesetz, die Regierung will ihn nun auch in der französischen Verfassung verankern, das Kabinett hat das Vorhaben bereits beschlossen.
Wenn dies durchkommt bedeutet das, dass das Parlament in Zukunft der Verhängung eines Ausnahmezustandes nicht mehr zustimmen müsste – im November fand die Zustimmung in der Nationalversammlung allerdings problemlos statt. Am 15. Dezember meldete das Innenministerium neue Zahlen für den Zeitraum ab dem 13. November:
- 2700 Durchsuchungen ohne richterlichen Beschluß
- 360 Hausarreste
- 340 Vorladungen bzw. Gewahrsamnahmen (wovon 287 kurzfristig festgenommen genommen worden sind)
- 431 beschlagnahmte Waffen, wovon 41 Kriegswaffen gewesen seien
All dies ist zu betrachten vor dem Hintergrund, dass bisher nur zwei richterliche Voruntersuchungen/Ermittlungsverfahren eröffnet worden sind. Das Verfassungsgericht hat letzten Dienstag festgestellt, dass die Hausarreste verfassungskonform [f] gewesen seien.
Eine richterliche Bestätigung, die das Projekt der Regierung, den Ausnahmezustand in den Verfassungsrang zu heben, noch unterstützt. Auch die Tagesschau meldet am 23. Dezember:
„Dies [die Ausnahmezustandsgesetzgebung] sei in den vergangenen Wochen nicht nur wie eigentlich vorgesehen im Zusammenhang mit der Terrorismusbekämpfung eingesetzt worden, sondern auch rund um den Pariser Klimagipfel. Damals seien Umweltschützer unter Hausarrest gestellt worden. Ihre Klage gegen diese Maßnahme sei gescheitert.“
Frankreich will Ausnahmezustand in Verfassung verankern [d]
Auch Amnesty international [en] erhebt schwere Vorwürfe.
Die Tageszeitung Liberation [f] zitiert einen Präfekten, dass die Möglichkeit von Durchsuchungen von den Behörden nun gerne weit ausgelegt und ausgenutzt würden.
„Der Ausnahmezustand erlaubt es uns, bei den Dealern vorbeizuschauen, die man seit langem auf dem Kieker hat“
- so ein Polizist [f] einer Drogenbekämpfungseinheit.
Es ging aber nicht nur gegen Dealer*innen, auch im Rahmen des UN-Klimagipfels COP21 wurde die Gelegenheit genutzt, Razzien bei Umweltaktivist*innen und Linken durchzuführen.
Außerdem berichten viele von Durchsuchungen betroffene Muslime, dass sie keinesfalls einem radikalen Islam anhängen, sondern sich von den Attentaten distanzieren. Viele Zeitungen berichteten vom Fall einer Durchsuchung am 2. Dezember in Strasbourg bei einem 80Jährigen, dessen Wohnung nach der Razzia unbewohnbar war – die Behörden hatten zuvor zwei Angehörige gefilzt, die Soda-Flaschen transportiert hatten, was für Drogen gehalten worden war.
Auch gegen einige Besetzungen/Squats von MigrantInnen sind in den letzten Wochen einige Razzien durchgeführt worden, so fand zum Beispiel in Paris im Foyer Adoma Marc [f] eine brutale Räumung statt, von der viele Sans-Papiers betroffen waren, einige sind im Abschiebegefängnis von Vincennes gelandet.
In Frankreich haben nun mehrere Hundert Organisationen einen Appell veröffentlicht:
„Raus aus dem Ausnahmezustand!“
Hier eine Übersetzung einiger Teile:
„Als Reaktion auf die schrecklichen Attentate ist von der Regierung der Ausnahmezustand verhängt worden, der dann verschärft und nun um drei Monate verlängert worden ist. Die unterzeichnenden Organisationen hatten damals sofort ihre Sorge gegenüber diesem Ausnahmeregime geäußert. Diese Befürchtungen weiterer Freiheitseinschränkungen sind nun in den letzten Wochen bestätigt worden. Wir werden Zeug*innen einer ernsthaften Verschärfung des Ausnahmezustandes, der sich auch gegen Personen richtet, die keinerlei Verbindung zu Attentaten haben.
Dieser Mißbrauch muss enden! Die Freiheit, sich zu versammeln und gemeinsam zu demonstrieren hat nach den Attentaten gegen Charlie Hebdo und den Supermarkt von Vincennes im Januar 2015 den Sieg über den Terrorismus davon getragen. Diese Freiheit herrscht immer noch vor. Seit dem 13.November jedoch verstärken sich Verbote von öffentlichen Versammlungen. Demonstrieren ist nun kein Menschenrecht mehr und die wenigen Erlaubnisse, die die Präfekturern ausgesprochen haben, wurden meist erst im allerletzten Moment erteilt, so dass die Durchführung/Mobilisierung kaum noch möglich war.
Das Innenministerium rechtfertigt all dies mit der Unmöglichkeit, all diese Versammlungen schützen zu können – obwohl zur gleichen Zeit sportliche Großereignisse und Weihnachtsveranstaltungen im öffentlichen Raum stattfinden können... […]
Die Verbote von Versammlungen und Demonstrationen führen zu einem Anstieg von Vorladungen, Ingewahrsamnahmen, Hausarresten und einer massiven Datensammlung über Aktivist*innen, zum Teil auch zu Verhaftungen. Wer kann ernsthaft daran glauben, dass dies die Behörden entlastet? […]
Es sind keine „Terroristen“, die hier terrorisiert werden, es sind junge Leute und Opfer einer willkürlichen Logik, die Leute auf ihre Herkunft oder Religionszugehörigkeit reduziert. Blamablerweise werden nun auch Forderungen der extremen Rechten, des Front National umgesetzt, indem die Regierung eine Verfassungsänderung durchsetzen will, wonach Franzosen mit doppelter Staatsbürgerschaft nach einer Verurteilung wegen Terrorvorwürfen die Staatsbürgerschaft entzogen werden kann.
All diese Versuche mit demokratischem Deckmäntelchen sind eine äußerst schlechte Antwort auf Terroranschläge.
Frankreich ist verletzt/angegriffen worden, aber es ist weit davon entfernt, die Wunden zu heilen – im Gegenteil: der Ausnahmezustand führt dazu, solche Risiken eher zu verschärfen, unsere Demokratie einzuschränken und unsere Freiheiten zu begrenzen.
Vor diesem Hintergrund fordern wir die öffentliche Hand auf.
- ihre Rolle als Garant von Freiheitsrechten wahrzunehmen
- das volle Demonstrationsrecht wieder herzustellen
- die Durchsuchungen und Hausarreste zu stoppen und im Rahmen rechtlicher Bedingungen zu agieren
- effektive Kontrollmechanismen gegen solche Ausschweifungen einzusetzen
- den Ausnahmezustand aufzuheben
- gegen die geplante verfassungsmäßige Verankerung des Ausnahmezustandes vorzugehen
Auch die Besetzer*innen der ZAD von Notre-Dames-des-Landes haben einen etwas radikaleren Aufruf gegen den Ausnahmezustand veröffentlicht: „Ausnahmezustand? Wir lassen uns nicht mundtot machen!“ [f]
Siehe zur angedrohten Rämung auch hier „Frankreich: Räumungsdrohung für die ZAD – Kurzer Hintergrund für internationale UnterstützerInnen“ [f] und hier „Nantes (Frankreich): Aufruf für einen gewaltigen Aktionstag am Samstag, 16. Januar“ [f]