In eigener Sache: das Konzept Indymedia

indy

Nicht dass ich eine Lösung wüsste, aber ich möchte einige Gedanken veröffentlichen, die ich mir seit längerem mache und ans Eingemachte, also das Konzept Indymedia gehen.

 

Ich kann mich erinnern, wie die erste Indymedia-Webseite zu den Protesten in Seattle 1999 online ging. Einen Eindruck von den ersten Monaten indymedia.org kann mensch sich unter archive.org machen, z.B. hier: https://web.archive.org/web/20001017220257/http://indymedia.org/

 

Die Möglichkeit, quasi in Echtzeit Informationen weltweit zu verbreiten und dies nicht von einer Gruppe von Spezialist_innen gesteuert, sondern für eine Basis von Aktivist_innen und Medienschaffenden ohne Budget als Infrastruktur war sensationell. Das Web 2.0 wurde durch Indymedia im Grunde genommen vorweggenommen und ein "Mitmachjournalismus" als Teil von Protesten und Gegenkultur etabliert. Mit den Castortransporten 2001 in Deutschland wurde eine deutschsprachige Unterseite gegründet, während in anderen Teilen der Welt ebenso Unterseiten von Indymedia entstanden (siehe z.B. https://web.archive.org/web/20010405002022/http://germany.indymedia.org/). Hier wurden sehr zeitnah Informationen zu Blockaden, Repressionen und hilfreichen Infos während des Castortransportes verbreitet. Der globale Charakter der Bewegung rund um die Globalisierung und der Gipfelstürmer_innen nahm im Laufe der Zeit ab und wenn ich heute indymedia-linksunten lese (de.indymedia.org gibt es ja auch noch aber wird nach meiner Wahrnehmung erheblich weniger genutzt) geht es häufig um sehr regionale Themen und viel Antifaschismus. Das entspricht scheinbar der Realität vieler Nutzer_innen des deutschsprachigen Indymedias 2015. Ich lebe seit längerem nicht mehr in Deutschland und mir kommen viele Informationen ziemlich wenig gesamtgesellschaftlich relevant vor. Also ich meine es gab eine Entwicklung von einer basisdemokratischen Offenheit und Medienmachen für Alle hin zu eher Szenenutzung (mit wenigen Ausnahmen). Dies liegt andererseits aber auch sicher daran, dass Indymedia kein Alleinstellungsmerkmal mehr hat - wer möchte, kann sich heute einfach einen Blog bauen, nutzt Facebook, Twitter oder andere soziale Medien und viele politische und soziale Bewegungen geben anderen Medien als Indymedia die Priorität.

 

Eigendlich ist mein Anlass zu schreiben aber ein anderer, grundlegenderer: Hier in Lateinamerika (mit einigen Ausnahmen) noch radikaler als ich es aus Europa kenne übernimmt Facebook die Rolle von den ehemaligen Indymedia-Seiten. Dies liegt sicher auch an der weniger vorhandenen Paranoia / weniger Bewusstsein aber auch weniger Repression was online Aktivitäten angeht (scheint zumindest so). Auf der anderen Seite liegt es aber auch daran, dass jüngere Aktivist_innen mit Facebook groß werden, mit Ideen wie Indymedia kaum Kontakt haben und sich auch fragen, was der Vorteil sei. Was ich an mir selbst sehe ist dass "Insidern" häufig das Gespür fehlt, wie relevant ihre online-Aktivitäten sind. Ich meine, dass für Leute, die ohnehin regelmäßig bestimmte Seiten nutzen, diese sehr präsent sind, für andere dagegen diese Seiten gar nicht unbedingt bekannt sein müssen. Vor allem wenn es eine hohe Fluktuation gibt, also häufig Leute wechseln, wie es in vielen Kleinstädten der Fall ist. Offline und online ist nicht das gleich und ich denke Indymedia sollte offline besser sichtbar sein.

 

Nur mal eine kleine Bestandsaufnahme der lateinamerikanischen Indymedia-Seiten:

 

argentina: Ist relativ aktuell, wird genutzt
bolivia: offline
brasil: aktuell und genutzt
chiapas: wird nicht mehr genutzt aber ist online
chile: offline
chile sur: scheint kaum moderiert aber ist online
colombia: offline
ecuador: gelegentlich genutzt
mexico: aktuell und stark genutzt
peru: offline
puerto rico: aktuell und genutzt
qollasuyu: seit 2011 nicht aktuell, aber online
rosario: Teil von Argentina Indymedia, aktuell
santiago: offline
tijuana: offline
uruguay: offline
valparaiso: seit 2009 nicht mehr aktuell, aber online
venezuela: relativ aktuell, viele crosspostings

 

Ich meine in Europa gibt es ja auch die Entwicklung zu mehr Blogs und spezifischeren Seiten als Indymedia (ich denke eine Liste der europäischen Indymedias sähe ähnlich aus). Das hat ja auch Vorteile und neuere Technologie kann anders genutzt werden. Aber es reduziert auch den Blick über den Tellerrand, die globale Dimension, die ich im deutschsprachigen Raum ohnehin bei vielen Aktivist_innen vermisse.

Ich denke linksunten.indymedia.org hat schonmal viel Potential genutzt durch den Wechsel auf die Software drupal, also mehr Interaktivität, Mehrsprachigkeit wird besser unterstützt und Vieles mehr, was der Seite eine bessere Perspektive verschafft. Aber mit der Bewegung rund um Globalisierung scheinen auch viele Strukturen wieder verblasst zu sein, die einmal viel Hoffnung auf eine Sicht jenseits von Grenzen und Spezialthemen auf gegenseitige Bezugnahme gab.

 

Ich hoffe hiermit einen Impuls setzen zu können, die Chancen, die nicht nur in einer einzelnen Seite, sondern in einem Netz von unabhängigen, offenen aber global verbundenen Medienzentren stecken, bewusster zu unterstützen, zu nutzen und auszubauen.

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Gibt es eigentlich sowas wie ein Indymedia [de] u [linksunten] Mirror? Also die gesammten Beiträge und Bilder im laufe der Zeit zum sichern?

 

Sollte mal was sein, wäre das eine enorme Geschichtsquelle für die Bewegung? Vielleicht kann ja wer technisch begabt ist mal sowas wie ein Torrent zusammenstellen.

 

Im übrigen gab es mal eine Indymedia Plattform für Bewegungs Dokumentationen, a la Kanal B etc. Leider gibt es sowas auch nicht mehr, wäre wünschenswert dies wieder aufzubauen. Auch so etwas wie das nadir Archiv sollte unbedingt gesichtert werden. Das sind meiner Meinung nach mittlerweile wichtige Zeitdokumente.

das sehe ich auch so, aber es ist auch eine Kostenfrage, Server zu betreiben. Am einfachsten sind (zumindest theoretisch) offline Backups, z.B. als CD, wie das manche Zeitungen machen, z.B. die ak (analyse und kritik).

Was denn für eine Bewegung?