An vielen Orten in Deutschland engagieren sich Menschen in Initiativen, um im „Superwahljahr“ zum Wahlboykott aufzurufen. Auch in Stuttgart startete jüngst eine Kampagne unter dem Titel „Haben wir eine Wahl?“. Stattweb hat ein Interview mit Nadja von der Kampagne geführt.
Stattweb:
Ist der Titel eurer Kampagne „Haben wir eine Wahl?“ eine rhetorische
Frage oder seid ihr der Meinung, dass die Menschen am 27. September
eine Wahl haben könnten?
Nadja:
Den Titel „Haben wir eine Wahl?“ haben wir aus verschiedenen Gründen
gewählt: Einerseits wollten wir eine offene Frage stellen, sodass sich
Menschen, die von uns hören oder Flyer in die Hand bekommen, zunächst
selber mal fragen können: Haben wir überhaupt eine Wahl? Denn diese
Frage ist in unserer Gesellschaft ja eigentlich unumstritten – alle
gehen wie selbstverständlich davon aus, dass wir eine tatsächliche
Auswahl hätten bei der Bundestagswahl. Wir wollen zum Nachdenken
anregen: Welche Wahl ist das denn überhaupt? Was kann der oder die
Einzelne mit seinem oder ihrem Kreuz bei der einen oder anderen Partei
tatsächlich verändern?
Verändern
kann mensch mit diesem Kreuz beispielsweise nicht: Das Rechtssystem,
das durch das Grundgesetz und die FDGO festgesetzt ist, genausowenig
die Art und Weise, auf die hierzulande gewirtschaftet wird – denn die
kapitalistische Wirtschaftsweise ist mit dem Recht auf Eigentum
gesichert. Auch steht die Herrschaft über die Menschen nicht zur Wahl,
im Gegenteil: Mit dem Kreuz wird das eigene Untertanen-Dasein ja gerade
legitimiert.
Eine
Wahl in dem Sinne, dass der Wähler überhaupt irgendetwas wählen kann,
gibt es schon: Nämlich zu entscheiden, wer einen beherrscht. Die
Wählenden bekommen von den Herrschenden die Macht zugesprochen, zu
entscheiden, wer in Zukunft die Staatsgeschäfte führen soll, wer den
Staatszweck ausführen darf – der allerdings ganz unabhängig von den
jeweils Gewählten feststeht.
Deutschland
muss es gut gehen, die deutsche Wirtschaft muss wieder schwarze Zahlen
schreiben, die Wirtschaftskrise überwunden, die Arbeitslosigkeit
bekämpft werden – das sind alles Positionen, die von allen Parteien
ganz einstimmig geteilt werden.
Wir
wollen mit unserer Kampagne für eine radikale Kritik sensibilisieren
und wir denken, dass sich die Wahlen als das demokratische Ereignis
schlechthin gut dazu eignen. Wir sind der Auffassung, dass die
Bundestagswahl keine wirkliche Wahl ist, sondern eben nur die
Legitimation einer Herrschaft.
Außerdem
soll unsere Kampagne den Anspruch haben, nicht mit der
„Holzhammer“-Methode vorzugehen, sondern die Bundestagswahlen mit den
Menschen gemeinsam zu diskutieren und mit ihnen die Frage zu erörtern:
Haben wir eine Wahl?
Stattweb: Schließt Wahlboykott für euch auch die Möglichkeit aus, ungültig zu stimmen?
Nadja:
Aber nein, ganz im Gegenteil – die allermeisten der AktivistInnen in
unserem Umfeld ziehen es vor, ungültig zu stimmen, statt einfach nicht
zur Wahl zu gehen. Damit ändert sich am praktischen Ausgang der Wahl
nichts, allerdings erhoffen wir uns damit ein Zeichen setzen zu können
und bewusst ungültige Stimmen als Ausdruck des Widerstandes sichtbar zu
machen.
Stattweb:
Ist es möglich, die Wahl einerseits als politisch eher unwichtig
anzusehen, andererseits jedoch trotzdem für eine Partei zu stimmen, um
die politische Situation wenigstens nicht noch weiter zu verschlimmern?
Nadja:
Möglich ist das schon, das haben wir auch von vielen Leuten als Kritik
an unserer Kampagne geerntet: Was soll ein Aufruf zum Nicht-Wählen, wir
wollen wenigstens Schadensbegrenzung betreiben. Das ist eine Position,
die wir von aktiven Linken, die das Wählen-Gehen nur als Ergänzung,
nicht als ausreichende Aktivität an sich sehen, in gewisser Weise
nachvollziehen können. Unser Kampagne soll auch zeigen: Entscheidend
ist, ob wir aktiv sind oder nicht – ob wir uns gegen Schweinereien, die
uns zugemutet werden - wie Ausbeutung, Unterdrückung, Krieg und
Soziallabbau - zur Wehr setzen oder nicht. Und das macht mensch eben
nicht mit dem regelmäßigen, 4-jährigen Kreuzchen malen, das macht
keinen zum politisch aktiven Menschen!
Allerdings
finde ich die Position, „Schadensbegrenzung“ mit dem Wählen-Gehen
betreiben zu wollen, auch in gewisser Weise widersprüchlich: So schlimm
kann man den Schaden, der an einem angerichtet wird, dann ja doch nicht
finden, wenn man sich selber mit seiner Stimme dazu bekennt. Als
WählerIn macht mensch sich selbst zur Manövriermasse, zum Material
einer Veranstaltung, die dem/der WählerIn Schaden zufügt. Die
Herrschenden haben – einmal gewählt – alle Mittel in der Hand, zu
kürzen und zu streichen wo sie wollen, denn sie haben – so die
demokratische Logik – ja „die Mehrheit“ hinter sich – ein
Totschlagargument gegen jede Kritik.
Je
weniger Menschen wählen, desto geringer ist die Legitimation der
bürgerlichen Herrschaft über den Menschen. Deswegen bemühen sich die
Demokraten ja auch ständig, die Wahlbeteiligung zu erhöhen, oft hört
man beispielsweise die Aussage „Es ist nicht so wichtig, wen du wählst,
sondern dass du überhaupt wählen gehst“ – und zwar aus dem Grund, um
die bürgerliche Herrschaft an sich zu legitimieren.
Stattweb: Gilt die Aufforderung eines Wahlboykotts auf allen Ebenen, auch denen der Wahl zum Stadt- oder Gemeinderat?
Nadja:
Der Unterschied zwischen einer Stadt und der Nation liegt in der
Totalität der Nation: Ich sei als „Deutsche“ geboren und habe kaum
Chancen, mich zur „Türkin“ oder „Griechin“ zu machen, weil ich eben
„deutsche Blutslinien“ hätte – so jedenfalls die
nationalistisch-bürgerliche Ideologie. Eine Stadt hingegen ist nur die
Anballung von zusammen lebenden Menschen. Ich kann heute Stuttgarterin
sein und morgen nach München ziehen, dazu muss ich nicht mal „deutsch“
sein.
Der
kategorische Unterschied zwischen einer konstruierten Nation und einer
gewachsenen Stadt jedoch führt im Kapitalismus nicht unbedingt zu einem
Unterschied der Zwecke, für die diese Kollektive eingerichtet wurden:
Auch jede Stadt möchte „gute Standortpolitik“ betreiben, Firmen
anlocken, Arbeitsplätze schaffen und wirtschaftliches Wachstum
ermöglichen, um in Konkurrenz zu den anderen „Standorten“ innerhalb
Deutschlands gut abzuschneiden – genauso wie es der nationale Standort,
Deutschland, tun muss.
Innerhalb
unserer Gruppen gibt es betreffs der Kommunalwahlen auch
unterschiedliche Positionen, manche wollen auf dieser – vergleichsweise
doch ziemlich unbedeutenden Ebene – tatsächliche Schadensbegrenzung
betreiben, andere wollen auch hier ihre Stimme nicht abtreten.
Wir
bewerten die Kommunalwahlen jedoch als relativ unbedeutendes Ereignis
im Vergleich zu den großen demokratischen Bundestagswahlen, weswegen
wir dazu keine Stellung bezogen haben.
Stattweb:
Was wäre gegen einen Rat einzuwenden, in dem die Gewählten zugleich die
Handelnden wären? Die Gewählten wären direkt ihrer Wählergruppe
verantwortlich und jederzeit abwählbar und ersetzbar.
Nadja:
Viele Aktive in unseren politischen Gruppierungen streben eine
Gesellschaft an, die von solchen Räten verwaltet wird – in der die Räte
gewählte Zusammenschlüsse von Delegierten sind, die einem imperativen
Mandat unterliegen und somit tatsächlich die Interessen der Menschen
vertreten. Diese angestrebte Gesellschaft soll dezentral,
herrschaftsfrei und ohne Grenzen oder Nationen organisiert werden und
das Prinzip „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen
Bedürfnissen!“ verwirklichen.
Die
heutigen (regionalen) Parlamente jedoch sind keine
Interessensvertretung der Menschen, sondern verfolgen ihre eigenen
Ziele: Kapitalwachstum erreichen und die eigene Herrschaft ausbauen.
Stattweb:
Reicht ein Aufruf zum Wahlboykott alleine aus? Mit welchen weiteren
Aktionsformen wollt ihr den verflochtenen Block der Herrschenden
ergiebig beunruhigen?
Nadja:
Ein Aufruf zum Wahlboykott bzw. unsere Kampagne zu den Wahlen reicht
natürlich nicht aus! Wir benutzen die Bundestagswahl lediglich als
„Aufhänger“, um eine vernünftige Kritik mit emanzipatorischer
Perspektive an den Mann / die Frau zu bringen. Unsere politischen
Strukturen arbeiten permanent gegen Staat und Kapital, mit Aufklärung,
öffentlichkeitswirksamen Aktionen, Veranstaltungen, Diskussionen,
direkten Aktionen und ebensolchen Kampagnen wie der „Haben wir eine
Wahl?“-Kampagne.
Leider
befinden sich aktive linke Menschen wie wir, die eine revolutionäre
Überwindung dieser unmenschlichen Verhältnisse zur Schaffung einer
menschlichen Gesellschaft anstreben, gesellschaftlich gnadenlos in der
Minderheit und Kämpfe von Gewerkschaften und anderen unzufriedenen
linken Vereinigungen wie Attac etc. zielen nur darauf ab, einen
„besseren“ Kapitalismus zu ermöglichen.
Eine
Wandlung hin zu einer befreiten Gesellschaft ist nur gegen Staat und
Kapital zu machen, aber nicht von uns als „Szene“, sondern von der
gesellschaftlichen Klasse, deren Interessen hier ständig an die Wand
gefahren werden. Zu einer Überwindung der herrschenden Verhältnisse
muss sich diese Klasse massenhaft organisieren und Klassenkämpfe
entfalten. Da wir heute bei weitem nicht in einer klassenkämpferischen
oder gar revolutionären Situation stecken, kann sich unsere Arbeit als
aktive Linke momentan nur auf Aufklärung, Mobilisierung,
Bewusstseinsbildung und direkte Aktionen sowie die Entwicklung einer
eigenständigen Praxis mit revolutionärer Perspektive beschränken.
Stattweb: Welche Aktionen und Veranstaltungen plant ihr, um auf euch aufmerksam zu machen?
Nadja:
In unserer Kampagne haben wir großen Wert auf die Vermittlung von
Inhalten und einer anständigen Kritik gesetzt, deswegen stellt den
„Kernbereich“ unserer Kampagne eine drei-teilige Veranstaltungsreihe
dar. Zunächst gibt es einen eigenen Vortrag unter dem Titel „Wählen ist
verkehrt!“ von Dr. Theo Wentzke, bei dem der Akt des Wählens nochmal
genauer beleuchtet und einer Kritik unterzogen werden soll.
Darauffolgend wird Prof. Dr. Freerk Huisken (Uni Bremen) über
Demokratie als gesamtheitliches Herrschaftssystem referieren;
abgeschlossen wird die Reihe von einer Podiumsdiskussion unter dem
Titel „Die LINKE wählen – ein geeignete Alternative?“, bei der nochmal
pro und contra zum LINKE-Wählen erörtert und widersprüchliche
Positionen ausgetauscht werden sollen.
Begleitet
wird unsere Kampagne u.a. von Infotischen, bei denen wir Flyer und
unsere eigens für die Bundestagswahlen ausgearbeitete umfangreiche
Broschüre verteilen wollen. Außerdem gibt es einige kulturelle
Veranstaltungen: Am 19.September gibt es ab 20 Uhr im Ludwigsburger
DemoZ eine Vernissage zum Thema „Kreative Wahlscheine“, am 26.
September eine Soli-Party im Falkenbüro in Stuttgart und am Tag der
Bundestagswahlen selbst, dem 27. September, wollen wir auf dem
Schlossplatz in Stuttgart einen öffentlichen Brunch veranstalten.
Stattweb: Sind auch Aktionen nach der Wahl geplant?
Nadja:
Unsere Kampagne ist explizit auf die Bundestagswahl ausgerichtet und
endet daher auch am 27. September, allerdings arbeiten die politischen
Strukturen, die die „Haben wir eine Wahl?“-Kampagne organisieren, die
Libertäre Initiative Stuttgart und das Libertäre Bündnis Ludwigsburg,
wie bereits gesagt permanent. Denn auch nach der Kampagne gibt es noch
einiges zu tun: Unterdrückung, Krieg und Ausbeutung verschwinden nicht
einfach, das müssen wir schon selber in die Hand nehmen.
www.keinewahlstuttgart.blogsport.de
Das Interview führte Sebastian Friedrich
Quelle: Vorab-Veröffentlichung - erscheint in gedruckter Fassung in der bald erscheinenden Stattzeitung für Südbaden Nr. 75
Link zum Artikel auf Stattweb: http://www.stattweb.de/baseportal/ArchivDetail&db=Archiv&Id=1193