Texte vom AIB zum Thema Ausstieg

Die zwei Texte sind momentan wichtig für antifaschistische Strukturen in mehreren Städten und werden aus diesen Grund hier dokumentiert.

 

Text zum Umgang mit Aussteigern aus dem AIB #74:

Aussteiger, Rückzieher, Aufhörer, Austreter ...

Zum komplizierten Umgang von AntifaschistInnen mit »AussteigerInnen« - Im AussteigerInnen-Business sind vor allem der Verfassungsschutz oder ihm nahe stehende Projekte involviert. Manchmal auch JournalistInnen auf der Jagd nach einer guten Story und hin und wieder antifaschistische Projekte. Der Unterschied zwischen diesen Gruppen liegt darin, ab wann ein »Ausstieg« als glaubwürdig angesehen wird.

Während für den Verfassungschutz und die Presse das primäre Kriterium meist die Loslösung von der Neonazi-Szene ist, bestehen AntifaschistInnen auf eine konsequente ideologische Umorientierung. So nahm das AIB Ende 1997 den »Ausstieg« des ehemaligen FAP-Funktionärs Norbert Weidner aus Bonn zum Anlass, um der Frage nachzugehen, wie AntifaschistInnen mit der wachsenden Zahl von AussteigerInnen umgehen sollten und welche Kriterien hierfür anzusetzen sind. Nach nunmehr zehn Jahren ist Norbert Weidner Pressesprecher der »Deutschen Burschenschaft« und das Thema »AussteigerInnen« immer noch aktuell.

Es gibt viele Gründe für Neonazis ihre Szene zu verlassen: Privater Ärger mit den »Kameraden«, Resignation, eine drohende Verurteilung vor Gericht, ein neuer Lebensabschnitt, andere Interessen, ein(e) neue(r) Lebensgefährte/Lebensgefährtin, Existenzangst, Heirat, eigene Kinder und etliches mehr. Viele verlassen still und unauffällig die politische Bühne und verschwinden ins Privatleben. Andere sprechen öffentlich von einem »Ausstieg«, da sie sich davon Vorteile vor Gericht versprechen oder von AntifaschistInnen ungestört ihren Geschäften und Interessen nachgehen wollen. Von einem »Ausstieg« kann hier kaum gesprochen werden, maximal von einem Austritt, von Rückzug oder einem Aufhören.

Aussteigen ist nicht Aufhören

(Ehemalige) Neonazis haben sich irgendwann als Individuen aufgrund ihrer eigenen, freiwilligen und bewußten Entscheidung dazu entschlossen, eine rassistische, antisemitische und neonazistische Politik zu betreiben. Genau das ist die Legitimationsgrundlage von AntifaschistInnen sie politisch wie auch persönlich dafür »haftbar« zu machen. Selbstverständlich sind Menschen veränderbar - ein »Gütesiegel« durch einen Ausstieg mit dieser Entscheidung konsequent gebrochen zu haben sollte jedoch von AntifaschistInnen nicht leichtfertig vergeben werden. Aus Sicht vieler AntifaschistInnen scheint es eine Art Selbstverständlichkeit zu sein, dass jemand früher oder später mit einer menschenverachtenden Weltsicht brechen will. Doch eben genau dieser nachvollziehbare Bruch muss als das notwendige Kriterium im Vordergrund stehen, um einen Ausstieg zu einem Ausstieg zu machen. Für andere Formen des Rückzuges aus der Neonazi-Szene sind andere Begrifflichkeiten zu verwenden (Abtauchen, Austritt, Rückzug, Aufhören).

Ein Ausstieg muss davon gekennzeichnet sein, dass die betroffene Person von sich aus ihre Ideologie als in allen Punkten falsch, menschenverachtend und nicht mehr länger vertretbar erkennt. Die ideologische Grundeinstellung muss als Hauptproblem angesehen werden, nicht deren Ausdruck, Glaubwürdigkeit oder Aktionsform. Es sollte davon ausgegangen werden, dass AussteigerInnen nicht von heute auf morgen ihre gesamten Überzeugungen über Bord werfen können. Ein Ausstieg bedeutet also, einen langen und schwierigen Prozess einer ideologischen Entwicklung durchzumachen, an dessen Ende nur die Konsequenz bleibt, sich selbstverständlich und konsequent gegen seine ehemaligen »Kameraden« zu stellen. Hierzu zählt auch offen Position gegen die extreme Rechte zu beziehen, eine Auseinandersetzung über begangene Taten zu suchen und Wissen über die Neonazi-Szene antifaschistischen Initiativen zur Verfügung zu stellen.

Erst die kompetente Auswertung solcher Informationen und eine ernsthafte Auseinandersetzung über neonazistische Ideologie bietet für AntifaschistInnen eine Grundlage, auf der eine erste Einschätzung über die Glaubwürdigkeit eines Ausstiegs getroffen werden kann. Je länger die Person in der Neonazi-Szene war und je höher sie in der Hierachie tätig war, um so kritischer sollten die Motive der Person für den Ausstieg geprüft werden. Bei Funktionsträgern sollte noch mehr als bei Mitläufern darauf geachtet werden, daß sie sich im Laufe des Ausstiegs-Prozeßes den Weg zurück zu ihren alten Neonazistrukturen und zurück zu den ehemaligen Weggefährten endgültig und nachweisbar verbauen. Dieses Verbauen muss aus eigenem Interesse und selbst gewollt erfolgen. Nicht immer bedeutet das auch, dass alles was ein Aussteiger berichtet, automatisch der breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht werden muss. Wichtig ist es Mittel und Wege zu finden, mit denen ein Aussteiger seine Ernsthaftigkeit unter Beweis stellen kann. Die Bedingungen wie der Prozess eines Ausstieges in Zusammenarbeit mit AntifaschistInnen zu verlaufen hat kann selbstverständlich nicht der (ehemalige) Neonazi-Kader festlegen.

Nötige Grundsätze

Gerade bei einem »Ausstieg« von Neonazis über die linke Szene müssen bestimmte Grundsätze klar und garantiert sein. Hierzu zählen die Transparenz und Glaubwürdigkeit der Ausstiegsgründe, die Notwendigkeit des Begreifens um der vormals vertretenen Ideologie und die nachvollziehbare Veränderung dieser, sowie das Verbauen des Rückwegs, zum Beispiel durch das Offenlegen neonazistischer Strukturen an antifaschistische Projekte, die in der Lage sind entsprechende Angaben einzuschätzen. Auch für die beteiligten Personen gelten hierbei bestimmte Rahmenbedingungen, welche das Antifaschistische Infoblatt bereits 1997 einforderte: »Die Person(en), die einen Aussteiger direkt betreuen, müssen bereit sein, sich dabei kontrollieren zu lassen; sie sollten sich mit einem größeren Zusammenhang koordinieren und kurzschließen und sich dabei auch zugestehen können, daß über einen persönlichen Kontakt zu dem Aussteiger/der Aussteigerin die notwendige Distanz verloren geht. Das gilt insbesondere, wenn der Kontakt den Charakter einer Freundschaft annimmt. Solange ein Aussteiger/eine Aussteigerin nicht öffentlich und unumkehrbar mit seinen/ihren Nazizusammenhängen und mit der entsprechenden Ideologie gebrochen hat, kann es keine Gründe für persönliche Freundschaften geben (...) Wenn Unsicherheit über den richtigen Umgang mit einem Aussteiger/einer Aussteigerin besteht, ist es in jedem Fall besser, sich an Menschen und Zusammenhänge mit Erfahrungen in diesem Bereich zu wenden, als spontan und unüberlegt draufloszumachen«.¹

Keine falsche Eile

Am Ende eines langen Prozesses steht wohlmöglich ein Ausstieg - ein Freifahrtschein, um in antifaschistischen Strukturen mit mischen zu können ist für den Aussteiger damit noch nicht automatisch erreicht. Wenn sich ein Aussteiger von einem Moment zum nächsten als geläuterter Antifaschist präsentiert, ist in jedem Fall Mißtrauen angebracht. Hier sollte in jedem Fall doppellt genau nach der Glaubwürdigkeit des Ausstieges und der offengelegten Legende geschaut werden. Für einen Sinneswandel vom Faschisten zum Antifaschisten ist ein wesentlich längerer Zeitraum und ein erhebliches Maß an Selbstreflektion als Maßstab anzulegen. Bei einer Anfrage nach einer direkten Aufnahme in antifaschistische Zusammenhänge ist allergrößte Sorgfalt geboten. Bedacht werden sollte hierbei auch, daß ein scheinbar einfacherer und problemloser Wechsel in kürzester Zeit von »ganz Rechts« nach »ganz Links« eine fatale Auswirkung auf die politische Glaubwürdigkeit der antifaschistischen Bewegungen haben könnte. Außerdem bieten solche Übertritte natürlich auch den konservativen und rechten Vertretern der Totalitarismustheorie und der sogenannten »Hufeisentheorie«² neue Argumente.

¹ Siehe AIB # 41, November / Dezember 1997. Familie gründen, Techno hören – und das wars? Einige Eckpunkte zum Umgang mit Neonazi-Aussteigern.
² Der stark vereinfachte Deutungsansatz des Hufeisenschemas besteht darin, die politische Landschaft nicht als gerade links und rechts immer weiter auseinanderlaufenden Linien, sondern als offenen Kreis (Hufeisen) zu sehen. Durch diese Darstellung soll zum Ausdruck gebracht werden, dass sich die beiden Ränder (»Extreme«) näher seien, als es der jeweilige Rand zur (gesellschaftlichen) Mitte sei.

Quelle: http://www.nadir.org/nadir/periodika/aib/archiv/74/30.php

 


 


Aufhören, Aussteigen, Abtauchen – zum Umgang mit Ex-Nazis
http://bkpnk089.blogsport.de/2010/03/05/aufhoeren-aussteigen-abtauchen-z...

 



Perspektivenwechsel beim Ausstieg aus der Neonaziszene?

Schon seit einiger Zeit setzen sich antifaschistische Strukturen mit Aussteiger_innen aus der Neonaziszene auseinander. Neu erscheint allerdings der Umstand, dass Personen nach einem – wodurch auch immer herbeigeführten – Bruch mit dieser Szene, ihren weiteren politischen Werdegang zunehmend in meist antifaschistischen Strukturen sehen. Dies löst innerhalb bestehender antifaschistischer Zusammenhänge nicht nur Diskussionen, Unverständnis oder Ablehnung aus. Die einer solchen Entwicklung immanenten Widersprüche nehmen zum Teil so viel Raum ein, dass organisierte linke Strukturen Handlungsfähigkeit in anderen Bereichen ihrer Arbeit einbüßen. Das sogenannte »Umsteiger-Phänomen« ist in Berlin, aber nicht nur dort, in den letzten Monaten häufiger in den Mittelpunkt gerückt. Grundlage unserer Perspektive sind die erarbeiteten Grundsätze im Umgang mit Aussteiger_innen. Wir sind uns bewusst, dass diese nur Orientierungspunkte darstellen können. Unserer Ansicht nach hat vieles davon auch innerhalb der aktuellen Diskussion weiterhin Berechtigung und ist in einigen Zusammenhängen scheinbar in Vergessenheit geraten. Um den zum Teil problematisch verlaufenden Umgang mit sogenannten »Umsteiger_innen« in einen solidarischen Austausch zu bringen, haben wir uns entschlossen, einen ersten Diskussions-Beitrag zu leisten.

Der lange Weg zum Ausstieg

Als Ausgestiegene bezeichnen wir Personen, die nach einem intensiven Prozess der Reflexion von sich aus ihre Ideologie als in allen Punkten falsch, menschenverachtend und nicht mehr länger vertretbar erkennen. Weitere Formen eines Bruchs mit der Neonaziszene, die aber keine ideologische oder persönliche Auseinandersetzung beinhalten, finden sich in Begrifflichkeiten wie Abtauchen, Austritt, Rückzug, Aufhören. (Vgl. AIB #74) Das in diesem Text behandelte Phänomen des »Umstiegs« finden wir bei Personen, die, gleich einem Ausgestiegenen, Informationen über »ihre« ehemaligen neonazistischen Strukturen zur Verfügung stellen sowie in einem transparent gestalteten Prozess ihre Veränderung und Auseinandersetzung glaubwürdig und nachvollziehbar darlegen und sich tatsächlich jeglichen Weg zurück verbauen. Insbesondere zeichnet es sich dadurch aus, dass sie meist mit nur kurzem zeitlichen Abstand, überwiegend in antifaschistischen Zusammenhängen aktiv werden wollen.

Gerade diesen Umstand halten wir aber aus mehreren Gründen für problematisch. Das Abbrechen jeglichen Kontakts zu AnhängerInnen der Neonaziszene, die Umgestaltung des Alltags und der Aufbau eines neuen sozialen Umfelds sind erste praktische Schritte des Ausstiegs. Diese machen aber, trotz allen damit verbundenen und häufig schwierigen Begleitumständen, eingebettet in den zeitlichen Rahmen des gesamten Ausstiegsprozesses, nur den kleineren Teil aus. Wenn wir bei dem gesamten Prozess von Jahren ausgehen, sprechen wir hier immer noch von mindestens vielen Monaten. Wird mit der Entscheidung zum Bruch oder begleitend zum Ausstiegsprozess der Wunsch geäußert, in antifaschistischen Zusammenhängen aktiv zu werden, muss also sehr genau hingeschaut werden. Wir sind uns bewusst, dass es natürlich keine einheitliche zeitliche Abfolge gibt, die individuelle Entscheidungen oder persönliche Veränderungen bestimmt. Im Falle eines »Umstiegs« würde dies jedoch voraussetzen, innerhalb kurzer Zeit nicht nur komplett mit der davor gelebten neonazistischen Ideologie zu brechen, sondern diese Entwicklung individuell soweit vorangebracht zu haben, dass eine Auseinandersetzung und letztlich aktive Teilhabe an linker und antifaschistischer Politik bereits möglich scheint. Zudem sehen wir im vorzeitigen Einbinden von Ausgestiegenen in linke Strukturen ein Hindernis im individuellen Reflexionsprozess. Gruppen und Personen, die eine Mitarbeit ermöglichen oder einen solchen Wunsch befördern, müssen sich verantwortungsbewusst der individuellen Begleitung widmen und sich darüber hinaus auch damit auseinandersetzen, wenn Dritte den nachvollziehbaren Gedanken äußern, die eigenen Strukturen schützen zu wollen.

Ausstieg – Umstieg – Action

Bei den letzten uns bekannten Aussteiger_innen handelte es sich überproportional häufig um Personen aus Gruppen der »Autonomen Nationalisten« (AN). Gerade dieses Spektrum ermöglicht über die Verwendung subkulturell geprägter Erscheinungsformen einen leichteren Einstieg in die Neonaziszene. Viele Jugendliche müssen ihr äußeres Auftreten nicht mehr zwangsläufig ändern, sondern finden eine breite Angebotspalette von Black Metal, Hardcore oder auch Hip Hop, über die sie sich ausdrücken können. Der Umstand, dass es sich hierbei um subkulturelle Erscheinungsformen handelt, die gleichfalls von linken oder nicht-rechten Menschen geprägt ist, beinhaltet jedoch auch die Möglichkeit »fließender« Übergänge und setzt nicht mehr einen kompletten Stilbruch voraus. Das wesentlich entscheidendere Moment besteht allerdings in dem aktionsorientierten Auftreten der AN. Die inhaltliche Bezugnahme findet sich zwar weiterhin im Nationalsozialismus, doch dient als identitätsstiftendes Moment und wichtigstes Instrumentarium einer »gelungenen« Aktion das Auftreten auf der Straße. Dass dieser Aktionismus nun zur Selbstinszenierung einer »kämpferischen Jugend« mutiert, spielt dabei keine Rolle. Entscheidend ist die empfundene Stärke im »NS-Black Block« bei Demonstrationen bzw. der ersehnten oder tatsächlichen körperlichen Auseinandersetzung mit Antifaschist_innen. Wenn diese Gewaltästhetik nun unter anderen Bedingungen, dem Wechsel des Feindbildes und dem Austauschen der Button am Basecap, im Auftreten der antifaschistischen Bewegung wiedergefunden wird, kann nicht von einem Bruch in der Lebenswelt gesprochen werden. Dass diese Möglichkeit überhaupt als Option vorhanden ist, bedarf aber auch einer kritischen Reflexion innerhalb der Linken. Denn gerade diese Problematik ist nicht neu. »Wo […] die Aktion, sprich die Form des Politischen, Vorrang vor deren inhaltlicher Kontextualisierung genießt, nimmt es nicht Wunder, dass der Deutungskontext der »Propaganda der Tat« entweder diffus oder politisch umcodierbar, enteignenbar wird.« (AIB #80) Hierbei geht es nicht darum, unterschiedliche Aktionsformen zu bewerten. Wir sind der Meinung, dass es vielfältige Formen der Bekämpfung neonazistischer Strukturen gibt und diese auch ihre Berechtigung besitzen. Wer aber nicht in der Lage ist das eigene Auftreten immer wieder kritisch zu reflektieren und in ritualisierte Muster zur Schau gestellter Militanz verharrt, kann für sich nicht beanspruchen, eine Wirkungsstätte für Aussteiger_innen zu sein.

Die Notwendigkeit der Reflexion

Der Ausstiegsprozess muss immer auch mit dem Bemühen die eigenen Taten zu reflektieren einhergehen. Wenn dies vor der Auseinandersetzung über eigenes gewalttätiges Verhalten endet, kann von einem abgeschlossenen Prozess noch lange keine Rede sein. Diese Entwicklung transparent zu machen wäre aber im Falle sogenannter Umsteiger auch Aufgabe derer, die eine Einbindung in linke Strukturen möglich machen wollen. Doch scheitert dies viel zu häufig an der eigenen Unreflektiertheit. Mag in einigen Fällen bei linken Gruppen eine naive Faszination davon ausgehen, in der Position zu sein einem »geläuterten« Neonazi eine neues Umfeld zu bieten, ist der bereits beschriebene Ausstiegsprozess schon im Ansatz gescheitert. Wenn sich persönliche Beziehungen über eine diffuse »Feindschaft gegenüber dem System«, die gemeinsam erlebte Action, sowie das häufig männlich-dominierte und Gewalt beinhaltende Gebaren innerhalb einer Gruppe definieren, kann dies für die Situation der hier beschriebenen »Umsteiger_innen« und den sie begleitenden Zusammenhängen als identitätsstiftendes Moment ausreichen. Einen verantwortungsvollen Umgang mit dieser Thematik innerhalb linker Strukturen stellt es aber nicht dar.

Die im Ausstiegsprozess begriffene Person steht in der Pflicht, einen offenen Umgang mit der eigenen Vergangenheit beim Aufbau sozialer oder politischer Kontakte zu pflegen. Bei denen jedoch, die voreilig in linken Strukturen aktiv werden können, ist es ebenso Aufgabe der involvierten Gruppen bzw. Einzelpersonen, den Prozess gegenüber der Szene transparent zu gestalten und sich nicht in Abwehrreaktionen zu verlieren. Denn gerade dies mehrt Zweifel und Unbehagen. Das politische Umfeld steht in solch einem Fall in der Pflicht, einen nachvollziehbaren Umgang mit dem Bedürfnis des/der Aussteiger_in nach Einbindung in alternative und linke Umfelder und Locations zu finden. Hier führt nichts daran vorbei von Fall zu Fall gründlich und reflektiert abzuwägen, um gemeinsam mit Kritiker_innen nach einer für alle tragbaren Lösung zu suchen. Die Garantie eines Schutzraumes für Menschen, die von Gewalt des/der Aussteiger_in oder Gruppen aus deren Umfeld betroffen waren, ist hierbei genauso zu beachten, wie der geäußerte Wunsch organisierter Antifagruppen, ihre Strukturen für »Umsteiger« nicht zu öffnen. Sollten sich skeptische Genoss_innen aufgrund mangelnder Transparenz dennoch mit Situationen konfrontiert sehen, auf die sie keinen Einfluss mehr haben, da eine Öffnung bereits vollzogen wurde, ist ein reflektierter Umgang nicht mehr wahrscheinlich. Vielmehr besteht dann die Gefahr, dass die Wahrung professioneller Distanz der Austiegsbegleitenden als Standard in der Gestaltung des Ausstiegsprozesses, verloren geht. Dass dieser Umstand zu Auseinandersetzungen führt die regionale Strukturen aufreiben und potentiell Betroffene neonazistischer Gewalt aus einem Entscheidungsprozess ausschließen, ist nicht akzeptabel.

 

Überprüfbarkeit gewährleisten


Mögen sich die Ansprüche an einen Ausstieg auf einem hohen Niveau bewegen und eine individuelle Verantwortung in die Pflicht nehmen, liegt es daran, dass sich die betroffene Person einmal dazu entschieden hat, einem neonazistischen Weltbild zu folgen. »Genau das ist die Legitimationsgrundlage von AntifaschistInnen sie politisch wie auch persönlich dafür »haftbar« zu machen.« (AIB #74) Trotz aller Widersprüche scheint es dennoch nachvollziehbar, dass der Wunsch nach Öffnung linker Räume formuliert wird. Dass ein gewisser sozialer und kultureller Zugang in alternative und linke Lebenswelten für die (Weiter-)Entwicklung emanzipatorischen Denkens notwendig erscheint, liegt nahe. Steht für die Prozessbegleitung aber kein geeignetes Umfeld zur Verfügung, kann ein Einstieg in linke Gruppen nicht stattfinden. Schließlich bestehen für eine Person, die überzeugt ist, linke Politik in der Gesellschaft leisten bzw. unterstützen zu wollen, zahllose Möglichkeiten, dies in anderer Form und in anderen Bereichen zu tun, als zwangsläufig in antifaschistischen Zusammenhängen. Wenn diese Möglichkeiten nicht als Option in Betracht kommen, sollte sich die Zeit genommen werden, die Beweggründe der Ausgestiegenen genau zu beleuchten, diese innerhalb der Szene darzulegen und in einen solidarischen Austausch zu gelangen. Um dies zu gewährleisten halten wir es weiterhin für wichtig, den Umgang mit Ausgestiegenen nicht intuitiv zu beurteilen, sondern an überprüfbaren Kriterien festzuhalten.

Aus: Antifaschistisches Infoblatt (AIB) - #91

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Auch Angehörige der Neonaziszenen nehmen individuelle Entwicklungen. Manche ziehen sich ins ›Private‹ zurück oder wandeln sich zu ›unpolitischen‹ Saufkumpanen. Oft geht dies einher mit der Entfremdung von den ›alten‹ KameradInnen und neonazistischer Politik. Nur wenige von ihnen sind tatsächlich AussteigerInnen. Ein Ausstieg kennzeichnet den vollständigen strukturellen und inhaltlichen Bruch. Daran, ob jemand nun aussteigt oder doch nur Abstand von den KameradInnen nimmt, misst sich auch der Umgang mit ihnen.

 

Müssen sich Neonazis vor Gericht verantworten, gehört es für sie fast zum guten Ton, sich als ›Aussteiger‹ oder ›Aussteigerin‹ zu präsentieren. Mit Blick auf positive Sozialprognosen und milde Strafen verweisen sie darauf, ein wenig nachgedacht und seit einiger Zeit an keinen politischen Aktionen mehr teilgenommen zu haben. Erschreckend ist, wie oft sie mit dieser Strategie Erfolg haben. Selbst hohen NPD-FunktionärInnen (die bis heute überaus aktiv sind) gelang es in der Vergangenheit, ihre RichterInnen mit derartigen Märchen zu beeindrucken. Ein Beispiel ist Kevin Schnippkoweit, der am 20. Juli 2008 bei einem Überfall auf ein linkes Jugendcamp am Neuenhainer See (Mittelhessen) ein dreizehnjähriges Mädchen durch Schläge mit einem Klappspaten lebensgefährlich verletzte. In der Verhandlung vor dem Landgericht in Kassel im Januar 2009 mimte er den Aussteiger und erhielt mit 27 Monaten Haft eine recht milde Strafe. Als Schnippkoweit im Sommer 2009 wegen eines weiteren Überfalls auf Linke vor Gericht stand, wurde von Medien – endlich! – seine Aussteigerlegende thematisiert. Das Amtsgericht in Schwalmstadt verurteilt ihn zu einer Gesamtstrafe von drei Jahren Haft.

Die Frage, ab wann jemand als AussteigerIn zu akzeptieren (und zu respektieren) ist, beschäftigt nicht nur Gerichte und Medien, sondern insbesondere auch linke und alternative Szenen. So tauchen auf Konzerten, bei Partys und in angesagten Kneipen immer wieder Menschen auf, die aus Neonazikreisen bekannt sind. Werden diese erkannt und zur Rede gestellt, rechtfertigen sie sich üblicherweise damit, sie seien ›ausgestiegen‹. FürsprecherInnen finden sich meist schnell.

Das Problem ist, dass es keine allgemeingültigen Kriterien und Vorstellungen davon gibt, was ein ›Ausstieg‹ aus der Neonaziszene eigentlich ist. Es ist dringend notwendig, den Begriff aus seiner Missbräuchlichkeit zu holen: Zum Schutz tatsächlicher und potenzieller Betroffener neonazistischer Gewalt, und zum Schutz tatsächlich Ausgestiegener, die sich in mühseligen Prozessen vollständig von der Neonaziszene und menschenverachtenden Weltbildern gelöst und neue Lebensperspektiven geschaffen haben.

 

weiterlesen (leider geht nicht der komplette Text als Kommentar):

http://www.infobuero.org/2009/12/und-tschuess/

 

Die AutorInnen des Artikels haben in den vergangenen Jahren vornehmlich in Hessen mit mehreren AussteigerInnen und Ausgestiegenen aus der Neonaziszene gearbeitet. Der Artikel ist in enger Zusammenarbeit mit ehemaligen Neonazis entstanden, denen unser Dank gilt.

 

Dieser Artikel erschien im Dezember 2009 in der Publikation ›Dunkelfeld. Recherchen in extrem rechten Lebenswelten rund um Rhein-Main‹, [Hrsg.] argumente. netzwerk antirassistischer bildung e.V., Bildungswerk Anna Seghers e.V. aus Wiesbaden, Antifaschistisches Infobüro Rhein-Main. Berlin, 2009

http://www.infobuero.org/2009/12/und-tschuess/