Putsch- Wahlen- Perspektive Aufstand ?

Revolution

Die eigentlichen Entscheidungen wurden noch vor der Präsidentschaftwahl in Ägypten am vergangenen Wochenende getroffen. Das oberste Gericht lässt den ehemaligen Mubarak Premierminister zur Wahl zu, gleichzeitig wird das Parlament aufgelöst, da sich die Moslembrüder die Sitze unter den Nagel gerissen hatten, die eigentlich für "unabhängige" Kandidaten gedacht waren. Die Verfassungsgebende Versammlung, in der die Fundamentalisten nach dem Auszug der Linken und Säkularen unter sich waren, wird ebenfalls aufgelöst.

 
Und um das Ganze abzurunden, zauberte der Militärrat (SCAF) nach der Abstimmung am Wochenende eine Übergangsverfassung aus dem Ärmel, die die Verkündung des Ergebnisses im Kopf-an-Kopf Rennen der Präsidentschaftswahlen zwischen Pest und Cholera (Schafik oder Mursi) übermorgen eigentlich überflüsig macht.
 
Der SCAF scheint sich nach den zermürbenden Kämpfen der letzten 12 Monate so sicher zu fühlen, dass er fast sämtliche Macht an sich gerissen hat.
Der zukünftige Präsident wird zwar kein "Grüssonkel" sein, wie einige Komentatoren meinen, seine Macht ist allerdings sehr stark beschnitten.
Ob und wann die Parlamentsneuwahlen stattfinden werden, ist ebenso offen, wie ob und wann es eine neue Verfassungsgebende Versammlung geben wird.
 
Die Dekonstruktion der mühesam austarierteren Machtbalance zwischen Moslembrüder und dem SCAF durch letzteren ging dann selbst den "besorgten Demokraten" des Westens zu weit.
Die USA drohen damit, umfangreiche millionenschwere Hilfe einzufrieren, gerade sehnsuchtsvoll beschwören die Komentatoren der bürgerlichen Medien die erwarteten Reaktion der "Revolutionäre des Tahrir- Platzes".
 
Diese befinden sich allerdings schon seit mehreren Monaten in einer tiefen politischen Krise. Zu Protesten vor dem obersten Gericht versammelten sich letzten Donnertstag nur einige hundert AktivistInnen, dem Aufruf zahlreicher Gruppen der "Revolutionären Allianz" ( in der sich über 50 linke und säkulare Gruppen zusammengeschlossen haben)  zu abendlichen Protesten auf dem Tahrirplatz folgten nur 2000- 2000 Menschen, schon am späteren Abend umfloss wieder der Verkehr den geschichtsträchtigen Platz.
 
Schon Mitte Februar hatte sich überdeutlich die Krise der linken und säkularen Gruppen gezeigt.
Nach den tagelangen Kämpfen Anfang Februar nach dem Massakers in Port Said riefen die Gruppen in völliger Verkenntnis ihrer eigentlichen politischen Möglichkeiten zu einem Generalstreik auf. Dieser "Generalstreik" geriet zum Fisako, im wesentlichen folgten dem Aufruf nur Teile der StudentInnenschaft und des öffentlichen Sektors, hier vor allem im Gesundheitswesen.
Sonstige Unterstützung war auf wenige regionale Phänomene begrenzt.
 
Ebenso rächt sich die Fokussierung auf die politische Sphäre. Zwar erreichten linke und säkulare Kandidaten in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen positiv gerechnet an die 40 Prozent, eben weil aber der Ausgang der Präsidentschaftswahlen nichts an den realen Lebensbedingungen der Masse der Menschen verändert, sondern höchstens den Rahmen mitdefiniert, indem die sozialen Kämpfe stattfinden werden, kam es bisher zu keinen Eruptionen infolge des "Putsches" der Militärs.
 
Für heute haben nun die Moslembrüder, die im Machtkampf mit den  Militärs vorerst das Nachsehen haben, zu neuen Massenprotesten aufgerufen. Und auch hier zeigt sich die neue politische Dynamik. Hatten bisher fast immer die "Revolutionäre" zuerst zu Protesten auf dem Tahrirplatz aufgerufen" und die Moslembrüder sich dann jeweils, abhängig von taktischen Erwägungen, draufgesattelt, hecheln heute die linken und säkularen Gruppen den Moslembüdern hinterher.
 
In der Berichterstattung in den westlichen Medien fast völlig unterschlagen wird übrigens auch ein weiteres Gesetz, das am vergangenden Donnerstag in Kraft trat und es dem Miltär erlaubt gegen "politische Gewalt", Angriffe auf öffentliche Gebäude sowie "Verkehrsblockaden" vorzugehen. Dieses Gesetz zielt nicht nur auf zu erwartende weitere Massenproteste ab, sondern auch auf gewerkschaftliche und soziale Kämpfe an der Basis.
So ist das Blockieren von Verkehrswegen durch "sit ins" oder auch handfester durch das Verbringen von Gegenständen auf die Fahrbahn ein übliches Mitel in diesen Kämpfen. Schon heute vormittag demonstrierten zahlreiche GwerkschaftlerInnen  und ArbeiterInnen in Kairo gegen das Gesetz.
 
Schon so häufig haben sich alle Prognosen über die weitere Entwicklung "des Aufstandes" in Ägypten über Nacht  selbst ad absurdum geführt.
Und weil der Mensch ein Mensch ist und keine soziologische Grösse, ist der Verlauf der nächsten Tage völlig ungewiss. Sollte der Mubarak Günstling Schafik übermorgen zum Wahlsieger ausgerufen werden, könnte es einen emotionalen Áufschrei geben, der in einen neuen Aufstand mündet.
Ebenso ist es aber möglich, dass sich in der ägyptischen Gesellschaft wieder die Resignation  durchsetzt.
Die Wahlbeteiligung im zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen war jedenfalls sehr niedrig, und dies dürfte nicht nur den Boykottaufrufen von vielen Linken und Liberalen geschuldet sein.
 
But as we know: the future is unwritten 
(Anm.: Die Aufschrift auf dem Graffiti lautet übrigens Revolution)
 
recherchegruppe aufstand für linksunten
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An der gestrigen Kundgebung auf dem Tahrirplatz (angekündigt als "million man march") nahmen mehrere zehntausend Menschen teil, die Anhänger der Moslembrüder dominierten deutlich. Sie feierten den von der Parteispitze selbst verkündeten  Sieg ihres Kandidaten.

Als die Nachricht vom angeblichen Tod Mubaraks die Runde machte, wurde ausgelassen gefeiert. Ansonsten gab es vor allem Sprechchöre gegen den SCAF zu hören.

Die Moslembrüder versuchen sich jetzt in Verbalradikalität: Sollte ihr Kandidat nicht offiziell zum Sieger erklärt werden, werde es zu Unruhen kommen.

Sie riefen ihre Anhänger auf, sich ab sofort jeden Abend zu versammeln, um den Sieg von Mursi zu feiern.

 

Unterdessen gibt es bestätigte Informationen über Truppenkonzentrationen in der Nähe von Kairo sowie am Suezkanal. Der Innenminister erklärte in einem statement, man werde alles tun, um die Sicherheit von öffentlichen Gebäuden und Bullenrevieren zu gewährleisten. Dabei arbeite man eng mit dem Militär zusammen.

 

Im Netz schwirren derweil die Gerüchte: Es werde am Donnerstag nicht wie vorgesehen offiziell der Wahlsieger verkündet, die Armee wolle Zeit gewinnen, um die Ergebnisse weiter manipulieren zu können; sollte es zu Unruhen komen, werde wieder der Ausnahmezustand verkündet; die Armee werde nach der Verkündung von Shafiq als Wahlsieger keine weiteren Proteste zulassen.

Ebenso ausführlich wird im Netz diskutiert, wer mit welchem Interesse diese Gerüchte unter die Leute bringt.

 

Unabhängige Juristen, die die Wahl beobachtet haben, sehen übrigens in einer gerade veröffentlichten Erklärung Mursi mit einer knappen Mehrheit als Wahlsieger.

 

Aber wie berichtete Ahdaf Soueif, eine der bekanntesten politischen Autorin Ägyptens kürzlich im Guardian: "Die beliebteste Parole in Ägypten ist derzeit: Nieder mit dem nächsten Präsidenten !"