Zur Lage und zu den Perspektiven in Syrien

Demo-Syrien

„Nahna ma ’anna ikhwân wa lâ aydî kharijiyya, nahna kullna suriyya, islam wa ’alawiyya, durziyya wa masihiyya!“

Wir sind weder [Muslim-]Brüder noch Agenten des Auslands. Wir sind alle Syrer – Muslime und Alawiten, Drusen und Christen, lautet eine der gängigen Parolen auf den zahllosen Demos in Syrien

 

Eine Bilanz

 

Während das Massaker von Houla (erster Bericht der LCC dazu) weltweit in den Massenmedien Thema war, sind die Dutzenden von Toten jeden Tag meistens nicht einmal eine Randnotiz wert.

Die Lokalen Koordinierungskomitees (LCC) berichten von über 2000 Menschen, die seit dem Inkrafttreten des UN Friedensplan am 12. April 2012 durch Regierungstruppen-oder Milizen getötet wurden: „Unter diesen Toten sind 167 Jungen und 49 Mädchen , sowie 129 Frauen.
56 Menschen wurden in dieser Zeit bei Folterungen durch „Sicherheitskräfte“ getötet.
Allein in der Stadt und Region Hama wurden in knapp 2 Monaten 759 Menschen durch das Regine getötet.

 

Seit Beginn des Aufstandes werden die Internet- und- Telefonverbindungen in den belagerten und besetzten Gebieten gekappt, diese Praxis wird nach wie vor ebenso wie die gezielte Tötung von Medienaktivisten fortgesetzt.
In praktisch allen grösseren Städten sind Panzer und andere schwere Waffen stationiert, obwohl der auch vom syrischen Regime gebilligte Kofi-Annan-Plan den Rückzug dieser Waffen aus den Städten und Ortschaften vorsieht.
Als in Aleppo in den vergangenen Wochen erstmalig Massenproteste mit mehreren zehnttausend TeilnehmerInnen stattfand, rückten sogar hier zum ersten mal Panzer ins Stadtzentrum vor.
In Homs und den Vorten von Damaskus sind nach wie vor an verschieden Stellen fixe Scharfschützenstellungen auf Hochhäusern stationiert, die die Zivilbevölkerung unter Feuer nehmen.“ (Erklärung der LCC vom 03. Juni 2012)

 

Unglaublicherweise demonstrieren die Menschen unter diesen mörderischen Bedingungen weiter. Waren in den ersten Monaten des syrischen Aufstandes noch Massenproteste mit weit über hunderttausend DemonstrantInnen in Homs und Hama möglich, müssen die Menschen sich nun meistens denzentral oder im Schutz der Dunkelheit versammeln.
Gut koordiniert sammeln sich in verschiedenen Stadtteilen Tausende zu dezentralen Demonstrationen, Späher beobachten die Bewegungen der „Sicherheitskräfte“ und Regierungsmilizen, versuchen rechtzeitig zu warnen.
Häufig gelingt es, die Demonstrationen rechtzeitig aufzulösen, leider geraten sie aber auch immer wieder unter Beschuss.
Menschen werden festgenommen und verschleppt, manche tauchen nie wieder auf.


Die LCC berichten tagtäglich detailiert, wo und wieviel Demonstrationen stattgefunden haben.
Allein für den gestrigen Mittwoch, der kein „Protestfreitag“ war, an dem die Beteiligung vielfach höher ist, berichten die LCC von über 400 Manifestationen in allen Landesteilen, bei denen mehrere hundert Menschen festgenommen wurden.

 

Video von einer abendlichen Demo in der Region Idlib: http://youtu.be/GPA7P-hhiso

 

Der Kofi Annan Plan wird schon seit Wochen von allen syrischen AktivistInnen als gescheitert erklärt. Ebenso wie bei der Beobachtermission der arabischen Liga hat sich das Regime nur in den ersten ein, zwei Wochen eine gewisse Zurückhaltung auferlegt.
Wo die Fahrzeuge der UN auftauchten, versammelten sich sofort hunderte von Anwohnern, um den Terror des Regimes zu denunzieren. Verliessen die Beobachter den Ort, kam es sofort wieder zum Beschuss unbewaffneter DemonstrantInnen, teilweise sogar noch in Anwesenheit der Beobachter.

 

Das mörderische Vorgehen des Regimes hat das gleiche Muster beibehalten: Wie bei der Beobachtermission der arabischen Liga warten die Sondereinheiten der Armee die ersten Wochen der Anwesenheit der Beobachter ab, liessen es zu, dass Hama vorrübergehend in wesentlichen Teilen von Aufständischen kontrolliert wurde, um dann später um so grausamer Rache zu nehmen.

 

Nach dem jüngsten Massaker von Masraat al-Kubair nun wurden die UN- Beobachter, die sich auf Bitte von MenschenrechtsaktivistInnen in Richtung des Ortes aufgemacht hatten, daran gehindert, in den Ort zu gelangen. Angehörige der syrischen Armee versperrten ihnen das Weiterkommen, ebenso wie bewaffnete Regierungsmilizen. In einem Fall gerieten UN Fahrzeuge sogar unter Feuer. Eine Farce…

 

Optionen

 

Schon 2,3 Monate nach Beginn des syrischen Aufstandes und nachdem innerhalb dieser kurzen Zeit hunderte von friedlichen DemonstrantInnen erschossen worden waren, bildeten sich erste bewaffnete Widerstandsgruppen. Dies waren lokalen Einheiten von Menschen aus der Region, denen sich nach und nach die ersten Deserteure aus den Reihen der regulären syrischen Armee anschlossen.

 

Sie übernahmen die temporäre Kontrolle über ihre Stadtviertel, verübten Sabotageaktionen, gingen gegen die Regierungsmilizen vor und übernahmen den bewaffneten Schutz von Demonstrationen. Teilweise gelang es ihnen vorübergehend , wesentliche Teile von Grossstädten wie Homs und Hama unter ihre Kontrolle zu bringen.

 

Es gibt natürlich und notwendigerweise stellenweise eine Zusammenarbeit mit den unbewaffneten Komitees und Aktivisten, ohne dass sich aber im klassischen Sinne, wie z.B. in den antikoloninialen Kämpfen ein politischer und ein militärischer Flügel bilden würde. Dazu sind die Protagonisten zu heteorogen in ihrer ethnischen, religiösen und politischen Verortung.


Trotz aller Differenzen gibt es bis heute aber klare gemeinsame Basics aller Gruppen, die sich in den LCC organisiert haben. Ein wesentliches ist das Bekenntnis gegen jegliche ethnische und religiöse Spaltung. Nicht unwesentlich zu dieser Klarheit dürfte auch das massive Engagement von linken und kurdischen Aktivisten in den LCC beitragen.

 

Die Bedeutung der immer wieder ins Zentrum der Berichterstattung der westlichen Medien gerückte „Freien syrische Armee“ ist schwer einzuschätzen. Bis heute ist völlig unklar, wieviele der desertieren Soldaten sich ihr angeschlossen haben und wieviele überhaupt dem in der Türkei ansässigen Oberkommmando folgen. Auch gab und gibt es massive Kommunikationsprobleme zwischen den versprengten Einheiten, die grösstenteils als klassische Guerillia operieren müssen.

 

Ebenso unklar ist der Umfang und die Bedeutung der „eingesickerten“ ausländischen Kämpfer.
Zwar tauchen auch in den arabischen Medien immer wieder Berichte auf, dass sowohl auf der Seite des Regimes als auch der Seite der Opposition „Fundamentalisten “ kämpfen würden, bisher wurden diese aber ebensowenig massenhaft gesichtet, wie die tausende von libyschen Kämpfern, die angeblich gegen das Assad Regime kämpfen würden. Eben jenes konnte trotz aller entsprechender Propaganda bisher keine Massen von gefangenen genommenden „Jihadisten“ präsentieren.

Zweifelsfrei erwiesen ist bisher nur die Anwesenheit von iranischen „Freiwilligen“ in Syrien. Nachdem die Aufständischen schon mehrmals festgesetzte Irreguläre“ mit iranischen Pässen präsentiert hatten, räumte vor wenigen Tagen ein hoher Offizier der iranischen „Revolutionsgarden“ die Teilnahme auf Seiten des syrischen Regimes ein.
Dank dieser Intervention „seien die Massaker in Syrien gestoppt worden“ (sic!)

 

Auch völlig im Dunkeln bleiben die Urheber der zahlreichen Bombenanschläge in den syrischen Städten, bei denen ebenfalls Hunderte starben.
Anfänglich machte das Regime die Moslembrüder dafür verantwortlich (es sei ein Bekennervideo aufgetaucht) , was diese sofort empört dementierten. Für die letzten Anschläge meldete in einem Internetvideo die bis vor kurzem unbekannte Al-Nursa-Front die Verantwortung an, welche sich dann aber wiederum in einer anderen Erklärung von den Anschlägen distanzierte.


Aktivisten berichteten wiederum wiederholt von Merkwürdigkeiten im Zusammenhang mit den Anschlägen: Extrem gesicherte Gebiete waren mit einem mal für die Attentäter zu erreichen, Kamerateams des stattlichen Fernsehens tauchten unmittelbar nach den Anschlägen auf, und, und, und… (Bericht von Aktvisten aus Al Midan)

 

Wir werden uns dafür hüten, für uns in Anspruch zu nehmen, aus der Ferne die Hintergründe der terroristischen Angriffe beurteilen zu können, es gibt zuviele Unklarheiten und mehrere denkbare Optionen. Die LCC haben sich jedenfalls zu „Al Kaida“ politisch klar positioniert .

 

Ebenfalls unklar ist das derzeitige militärische Kräfteverhältnis.
Nachdem die FSA angekündigt hatte, sich nach den neusten Massakern ebenfalls nicht mehr an den Kofi Annan Friedensplan gebunden zu fühlen, kam es erstmals wieder seit April dieses Jahres zu nicht regional begrenzten offensiven Aktionen gegen die syrischen Streitkräfte.
Ob die Angaben über mehrere Hundert dabei getötete Soldaten zutreffend oder Propaganda sind, bleibt vorerst offen. Das es aber immer öfter zu erfolgreichen Angriffen gegen die Panzer der Streitkräfte kommt, scheint zutreffend zu sein. Ob dies mit auf dem Schwarzmarkt organisierten und ins Land geschmuggelten Waffen geschieht, oder ob mittlerweile die ersten angekündigten Waffenlieferungen aus den Golfstaaten eingetroffen sind, ist ebenfalls unklar. Diese bestreiten bisher, dass sie mit ihren Waffenlieferungen schon angefangen haben.

 

Die gewöhnlich gut unterrichtete Zenith wiederum berichtet heute von dem Einsatz von Fallschirmjägern und Hubschraubern gegen den Aufstand und interpretiert dies als Anzeichen dafür, dass das Regime Teile des Landes nicht mehr mit Bodentruppen kontrollieren könne.

 

So oder so, letztendlich gehört das Assad Regime schon heute der Vergangenheit an: In dieser Form wird es nicht überleben.

 

Ob es einen von den USA ins Spiel gebrachten „Regimechange“ wie in Yemen geben wird, der dann zu einer mit Russland und China ausgehandelten neuen politischen Proporzmachtbalance in Damaskus führen soll.

 

Oder ob es irgendwann einmal begrenzte militärische Interventionen, dann voraussichtlich nur mit UN Mandat und klar begrenztem Auftrag geben wird.

 

Oder ob es einen langen, noch blutigeren Abnutzungsbürgerkrieg geben wird.

 

Was immer vom syrischen Aufstand als emanzipatorischen Gehalt übrig bleiben wird, hängt vom zukünftigen politischen Gewicht der gebildeten Basisorganisatoren ab, an denen sich , wir wiederholen es gerne nochmals: viele linke und kurdische AktivistInnen beteiligen.


Die Botschaften der LCC, die trotz der Brutalität des Regimes, der tagtäglichen Massaker, der Folterungen, sich immer wieder für Pluralität und demokratische Debatte und gegen jegliche ethnische und religiöse Spaltung positionieren, geben uns Anlass zur Hoffnung in diesen finsteren Zeiten.

 

Wir haben ihnen beschämend wenig zu geben.

 

Spendet für adopt a revolution

 

recherchegruppe aufstand für linksunten

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Guter Text!

Welche Rolle genau spiel adopt a revolution? Sind die dem Avaaz-Spektrum (sowohl von der Art der Arbeit, als auch von der Art der Kritikwürdigkeit) zuzuordnen, oder sind die auch in einem emanzipatorisch-linkem Sinne unterstützenswert?

Da ihr ja weiterhin garnicht auf Kritik eingeht oder nur sehr schnoderig, hier mal ein kritischer Text. Wir erwarten leider aber, dass das genauso an euch abprallt, wie hier geleistete Kritik oder artikel in Grasswurzelrevolution, Analyse und Kritik etc.

 

Widersprüche nicht zu beachten und sie nicht zu benennen ist weder Recherche noch journalistisch saubere Arbeit. Warum ändert die Opposition ständig ihre Darstellung des Massakers? Warum betraf es gerade zwei Assad - loyale Familien, unter anderem die eines Politikers der Baath Partei? Wem nutzt das eigentlich? Assad oder der NATO?

 

Diese Fragen könnt ihr z.Z. so wenig beantworten, wie wir. Der Unterschied ist, wir stellen uns diese Fragen, ihr nicht, ihr betreibt "Recherche" mit feststehendem Ergebnis. Ihr macht, als hättet ihr Antworten.

 

Es gab Racak, Gleiwitz und fiktive Chemielager im Irak. Alles war Vorwand für einen Krieg. Im Gegensatz zu euch, wollen wir es da doch etwas genauer wissen und informieren uns lieber unabhängig von vorgefassten Recherchen aus dem Hause Spiegel, Springer, den Jusos oder der Konrad Adenauer - Stiftung.

Fakt ist, es gab diese Massaker. Sie sind von jedem Linken, jedem Menschen abzulehnen. Ihre Geschichte ist aber leider noch nicht recherchiert und geschrieben!
"Revolutionspatenschaften" für Syrien - fragwürdige Solidarität unterstützt einseitige Meinungsmache

(erschien gekürzt in der jungen Welt v. 17.1. und komplett in der Neuen Rheinischen Zeitung v.

18.01.2012)

Adopt a Revolution” ist eine von syrischen und deutschen AktivistInnen ins Leben gerufene Initiative zur Unterstützung gewaltfreier Oppositionsgruppen in Syrien. Konkret soll über „Revolutionspatenschaften“ den „Lokalen Komitees“ die in vielen Orten Proteste koordinieren, mit Geld, Erfahrungsaustausch und internationaler Öffentlichkeit geholfen werden. Militärische Interventionen werden abgelehnt, stattdessen „soll eine Form der ‚zivilgesellschaftlichen Intervention‘ geschaffen werden, die mit der Stärkung friedlicher politischer AktivistInnen eine militärische Eskalation unwahrscheinlicher macht.“

Solidarität und Austausch mit fortschrittlichen Gruppen anderer Länder sind an sich eine schöne Sache. Leider jedoch ist diese Initiative, die von der Friedenskooperative, von medico international, dem Komitee für Grundrechte und Demokratie, der Bewegungsstiftung und natürlich der taz unterstützt wird, in ihrer Stoßrichtung und Argumentation so einseitig wie die westlichen Medien und macht damit alles andere als „eine militärische Eskalation unwahrscheinlicher.“

(Kein Wunder, dass z.B. der Spiegel in Zusammenhang mit Hetz-Artikeln wie „Der Schlächter will sich reinwaschen“ auf die Initiative verweisen.)

Wenn es z.B. im Appell der Initiative heißt "Die Assad-Diktatur in Syrien wird von gewaltfreien Protesten herausgefordert", so ist das nicht einmal die halbe Wahrheit.

Ähnlich wie in Libyen waren von Anfang an auch bewaffnete Regimegegner am Werk. Natürlich hat der Großteil der friedlichen Demonstranten mit diesen nichts gemein. Aber es vermittelt ein völlig falsches Bild, wenn ausgeblendet wird, dass schon in den ersten Wochen zahlreiche staatliche Einrichtungen angegriffen und Hunderte Polizisten umgebracht wurden. Andreas Buro vom Komitee für Grundrechte und Demokratie hatte in Bezug auf ähnliche Ereignisse in Libyen zu Recht die Frage gestellt: „Wie hätten andere Staaten darauf reagiert?“

Gewalt oppositioneller Gruppen ausgeblendet

Unter "Hintergrund" wird behauptet, die bewaffneten Regimegegner seien durchweg "Deserteure". Auch das beruht auf Propaganda. Alles deutet darauf hin, dass es überwiegend Kämpfer islamistischer Gruppen sind (siehe z.B. Pepe Escobar, The shadow war in Syria, Asia Times, 2.12.2011).
Es gibt auch immer mehr Belege dafür, dass die bewaffneten Gruppen – die man in anderen Ländern Terroristen nennen würde – von anderen Staaten unterstützt und ausgebildet werden. (siehe u.a. die Meldung der türk. Zeitung Milliyet, Frankreich bilde syrischen Rebellen aus, entsprechende , Meldungen der in den USA ansässigen oppositionellen „Reform Party of Syria“ oder auf der Homepage von UK Elite Truppen: British Special Forces Training Syrian Rebels, sowie Angaben der britischen Zeitung Daily Star über den Einsatz von MI6 und CIA und  PressTV 'US training Syrian rebels in Turkey'')

Zudem gibt es glaubwürdige Hinweise, dass bereits bis zu 600 libysche Mudschahedin über die Türkei ins Land kamen. Auch irakische Salafisten, sunnitische Hardliner, die i.A. mit Al Qaeda assoziiert werden, rufen in Internetforen dazu auf, sich zu bewaffnen und den sunnitischen Brüdern in Syrien zu Hilfe zu kommen. (Iraq's sectarian divide threatens to split country as anger at Maliki grows, Guardian, 20.12.2011 )

Der russische Außenminister Sergej Lavrov kritisierte daher auch die Doppelmoral des Westens und bezeichnete die Haltung derer als unmoralisch, „die sich weigern, Druck auf den bewaffneten Teil der Opposition auszuüben und uns gleichzeitig anklagen, die Arbeit des UN Sicherheitsrates zu blockieren.“ Dabei hätten oppositionelle Kräfte in Homs sogar Krankenhäuser und Schulen attackiert. "Es ist klar, dass die Absicht ist, eine humanitäre Krise zu provozieren um einem Vorwand für die Forderung nach externer Einmischung in den Konflikt zu erhalten.“ (Russia accuses West of 'immoral' stance on Syria, BBC, 13.12.2011) Und der Westen wolle die UNO wieder für einen Regime Change zu missbrauchen.

Nach Ansicht des syrischen Oppositionellen Kadri Jamil von der „Volksfront für Veränderung und Befreiung“, findet in Syrien ein Krieg niedriger Intensität ähnlich wie in den 1980er Jahren in Zentralamerika statt. „Contras“ hätten den Auftrag, das Land zu destabilisieren ... Einige Medien seien durch ihre einseitige Berichterstattung in diese Kriegsführung einbezogen. (Karin Leukefeld, Syrische »Contras« –Aufständische von NATO-Experten ausgebildet, jW 12.12.2011)

Einseitige Propaganda

Es ist generell problematisch, die Darstellungen oppositioneller Gruppen unhinterfragt zu übernehmen. Oft haben sich, wenn nachgeforscht wurde, deren Berichte als Fake herausgestellt. „Nach meinen persönlichen Erfahrungen in Damaskus, Daraa, Homs und Hama sind mindestens die Hälfte der Meldungen über Syrien schlicht falsch - fast wie vor dem Irakkrieg", so Jürgen Todenhöfer in Der syrische Knoten, FAZ, 12.12.2011.

Auch der renommierte private US-Nachrichtendienst Stratfor warnte im Dezember: „Die meisten schwerwiegenden Vorwürfe der [syrischen] Opposition haben sich letztlich als stark übertrieben oder schlicht unwahr erwiesen ... mehr die Schwäche der Opposition offenbarend als den Grad der Instabilität des syrischen Regimes.“

Doch fast alle Berichte hierzulande, alle Vorwürfe, wie auch die Reports der UNO beruhen auf den Angaben einiger oppositioneller Gruppierungen und dem katarischen Staatssender al Jazeera. Der jüngste Bericht des UN-Menschenrechtsrats, in dem die Menschenrechtskommissarin Navi Pillay die oft zitierte Zahl der getöteten Oppositionellen auf 5000 schätzt, beruht auf gut „200 Opfern, Augenzeugen und Deserteuren“, die im Ausland befragt wurden – also offenbar ausschließlich Angehörige der Opposition, deren Glaubwürdigkeit nicht überprüft werden kann. So etwas hat mit seriöser Recherche absolut nichts mehr zu tun, damit wird nur der Propaganda einer Seite von der UNO Seriosität verpasst. (siehe auch Syria ambassador says UN estimate of 5000 dead "not objective", Taiwan News, 13.12.2011)

Stratfor riet die letzten Monate über immer wieder zu höchster Vorsicht gegenüber der im Westen gängigen Darstellung der Ereignisse. Wie in jedem Konflikt gibt es auch hier zwei Seiten und zwei Wahrnehmungen. Berichte oppositioneller Menschenrechtsgruppen müssten mit derselben Skepsis betrachtet werden wie die des Regimes. Die Opposition sei auf ausländische Unterstützung angewiesen und habe gute Gründe, entsprechende „Fakten“ zu präsentieren, die dieses Anliegen fördern. [http://www.stratfor.com/analysis/20110928-syrian-opposition-perception-and-reality]

Schließlich darf man auch nicht übersehen, dass die Opposition, wie u.a. die großen Pro-Assad-Demonstrationen zeigen, keineswegs die Mehrheit im ganzen Land hinter sich hat. Die Zustimmung für Assad ist wohl in den letzten Monaten stark gesunken. Eine Umfrage, im Auftrag der vom katarischen Herrscherpaar geleiteten "Qatar Foundation", ergab aber noch Ende Dezember eine Mehrheit von 55% gegen einen Abtritt Assads.

Einen sehr guten und ausführlichen Überblick gibt ein Artikel von Aisling Byrne vom "Conflicts Forum" in Beirut: A mistaken case for Syrian regime change, Asia Times, 5.1.2011. Auch Byrne stellt dabei nicht in Abrede, dass es eine „genuine verbreitete Forderung nach Veränderung in Syrien gibt gegen die repressive von den Sicherheitskräften dominierte Infrastruktur, die jeden Aspekt des Lebens der Bevölkerung beherrscht.“ Sie hat den Polizeistaat-Charakter bei Aufenthalten selbst erlebt. Doch ihrer Ansicht nach wurde die ursprüngliche Bewegung längst von Kräften usurpiert, die ganz andere Interessen verfolgen.

Kampf um die Vormacht in der Region

Das Ganze ist auch keine rein syrische Angelegenheit. US-amerikanische Think Tanks bezeichnen Syrien schlicht als den Ort, wo nun, nach dem Rauswurf der US-Truppen aus dem Irak, der Iran "zurückgedrängt wird" (siehe z.B. STRATFOR, Syria, Iran and the Balance of Power in the Middle East). Trocken analysiert STRATFOR in "The Syria Crisis: Assessing Foreign Intervention" auch die Maßnahmen, die die USA und ihre Verbündeten wohl anwenden werden.

Ein Angriff wie gegen Libyen ist im Moment wohl nicht wahrscheinlich, das Schüren eines blutigen Bürgerkrieges ist aber schon in vollem Gange – und dieser wird kaum auf Syrien beschränkt bleiben.

Nötig ist echte Solidarität

Wer in einer solchen Situation solidarisch mit den Syrern sein will, den oppositionellen, wie den vielen gleichfalls fortschrittlichen, die (in der jetzigen Situation) an Assad festhalten, der muss in erster Linie gegen die äußere Einmischung protestieren.
Ohne diese hätten sich vermutlich die Opposition im Land selbst und die Assad-Regierung schon längst verständigt. Schließlich wurden in Syrien mehr Reformen durchgeführt, eingeleitet oder angekündigt als in fast allen anderen arabischen Ländern. In Verhandlungen müßte nun sichergestellt werden, dass diese vollständig umgesetzt und instutionell verankert werden. Dies wird auch von vielen ernsthaften Oppositionsgruppen angestrebt, die auf internationale Ebene durch die gewaltbereiten, auf Umsturz zielende Gruppierungen an den Rand gedrängt werden. (Siehe z.B. Karin Leukefeld, Zwischen den Stühlen - Friedlicher Übergang statt bewaffneter Aufstand. Viele syrische Oppositionelle haben es schwer, sich Gehör zu verschaffen, jW 17.12.2011 )

Ein m.E. guter Appell besorgter Syrier und franz. Unterstützer ist die „Neue Deklaration syrischer und arabischer Bürger sowie Freunde Syriens für den Schutz der syrischen Souveränität“ (unten auf der Seite auch in Englisch). Im Unterschied zum unseligen Appell von “Adopt a Revolution” werden hier Forderungen nach mehr demokratischen Freiheiten mit einer klaren Absage jeglicher Form von Intervention, inkl. Sanktionen sowie der Verurteilung der bewaffneten Anti-Regierungs-Banden verbunden.

Gegen die Bedrohung Syriens und Iran wendet sich der Aufruf: Kriegsvorbereitungen gegen Syrien und Iran stoppen! Embargos beenden! -- Solidarität mit den Völkern Syriens und Irans!

Diese "Revolution" ist längst geplant (siehe Text von German Foreign Policy).

Wann beantwortet ihr die vielfache Anfrage zur Mitarbeit von Politheinzen der Kriegsparteien SPD und Oliv - Grün und vom "Bundesministerium für witschaftliche Zusammenarbeit" in "Adopt a Revolution"?

Marktwirtschaft für Syrien
30.05.2012
DAMASKUS/BERLIN
(Eigener Bericht) - Berlin startet Vorbereitungen für den Umbau Syriens zu einer liberalen Marktwirtschaft. Ende letzter Woche hat unter deutschem Vorsitz eine multinationale "Working Group" die Arbeit aufgenommen; sie soll unmittelbar nach dem Sturz des Assad-Regimes ökonomische Sofortmaßnahmen in die Wege leiten, darunter die Koordinierung von Hilfsprojekten, aber auch die Durchführung von Wirtschaftsreformen. Gemeinsam mit den Vereinigten Arabischen Emiraten richtet die Bundesregierung dazu nun ein "Sekretariat" ein. Es wird von einem Deutschen mit Afghanistan-Erfahrung geführt. Die Entstaatlichung der syrischen Wirtschaft hatte Berlin schon in Kooperation mit dem Assad-Regime gefördert; die beginnende Liberalisierung trieb jedoch Teile der Bevölkerung in den Bankrott, was zum Aufstand gegen das Regime beitrug. Erste Entwürfe für eine neue syrische Wirtschaftsordnung liegen Berlin mittlerweile vor. Verfasser ist ein Aktivist des Syrian National Council (SNC), der von zahlreichen Oppositionellen scharf kritisiert wird, weil die Muslimbruderschaft in ihm eine starke Stellung innehat. Führende SNC-Positionen halten syrische Exilpolitiker aus Washington, die eine westliche Intervention à la Kosovo verlangen und als Vorbild für die syrische Opposition die UÇK benennen.
Selbstermächtigt
Unter deutschem Ko-Vorsitz ist Ende letzter Woche in Abu Dhabi erstmals eine multinationale "Arbeitsgruppe" zusammengekommen, die ökonomische Sofortmaßnahmen für die Zeit nach dem Sturz des Assad-Regimes in die Wege leiten soll. Eingesetzt wurde die Arbeitsgruppe ("Working Group on Economic Recovery and Development of the Friends of the Syrian People") am 1. April in Istanbul von der "Gruppe der Freunde des syrischen Volkes" ("Group of Friends of the Syrian People"). Bei dieser handelt es sich um ein Bündnis westlicher und prowestlicher Staaten, die sich im syrischen Bürgerkrieg auf die Seite der Opposition geschlagen haben und vorwiegend mit dem Syrian National Council (SNC) kooperieren, einer Exilorganisation. Über eine Legitimation durch den UN-Sicherheitsrat verfügt die "Gruppe der Freunde des syrischen Volkes" nicht. Dasselbe gilt für ihre "Arbeitsgruppe" zum ökonomischen Wiederaufbau Syriens, die als "zentrales Forum" für die notwendigen Wirtschaftsmaßnahmen dienen soll - selbstermächtigt.[1]
Deutschland federführend
Wie der deutsche Diplomat Clemens von Goetze erklärt, der gemeinsam mit einem Kollegen aus den Vereinigten Arabischen Emiraten die Zusammenkunft Ende letzter Woche leitete, geht es der "Working Group" nicht nur um unmittelbare Nothilfe nach dem Sturz des Regimes. Vielmehr sei jetzt "eine gute Zeit, um eine langfristige Perspektive für das Land zu öffnen".[2] Als Modell gilt dabei der Marshall-Plan, mit dem die Vereinigten Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa die materielle Grundlage für den Aufbau des westlichen Bündnisses legten. Die "Working Group" hat mehrere Untergruppen eingerichtet, die sich jeweils speziellen Themen widmen sollen. In der internationalen Arbeitsteilung, auf die sich die Mitgliedstaaten nun offiziell geeinigt haben, ist Deutschland federführend mit "Wirtschaftspolitik und Reform" befasst. Dabei gehe es explizit um "langfristige Strategien" [3], die dem Übergang Syriens "von einer zentral geleiteten Wirtschaft in eine Marktwirtschaft" dienen sollten, heißt es in Berichten. Die "Working Group" richtet dazu ein Sekretariat ein, für das Deutschland und die Vereinigten Arabischen Emirate jeweils 600.000 Euro zur Verfügung stellen wollen. Als Leiter ist der Deutsche Gunnar Wälzholz vorgesehen. Wälzholz leitete zuletzt die Filiale der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) in Afghanistan.
Zuckerbrot und Peitsche
Wie ein Teilnehmer der letztwöchigen Zusammenkunft bestätigte, geht es bei den Maßnahmen, die nun unter deutscher Führung auf den Weg gebracht werden sollen, allerdings auch um kurzfristige Ziele. So sollen Wirtschaftsprojekte diejenigen Kräfte in Syrien anziehen, "die sich an der Revolte noch nicht in vollem Umfang beteiligen oder noch zögern, sie zu unterstützen".[4] Damit bilden sie eine Art Gegenstück zu den Wirtschaftssanktionen, die - allerdings nicht per Anreiz, sondern durch Druck - ebenfalls regimetreue Unternehmer zum Überlaufen bewegen sollen. Entsprechend erklärt die "Working Group", die Sanktionen könnten aufgehoben werden, "sobald ihre Ziele erreicht sind" - also nach Assads Sturz, den ein Seitenwechsel interessierter Wirtschaftskreise begünstigen würde.[5]
Die Folgen der Liberalisierung
Die Entstaatlichung der syrischen Wirtschaft, die der "Working Group" obliegt, wurde von Berlin schon vor Jahren gefördert - lange Zeit in enger Kooperation mit dem Assad-Regime. Die deutsche Entwicklungsorganisation GTZ (heute: GIZ) startete im Jahr 2006 eigens ein Programm mit dem Titel "Unterstützung der syrischen Wirtschaftsreform". "Die syrische Regierung hat 2000 den Übergang zur sozialen Marktwirtschaft beschlossen", hieß es zur Erklärung; allerdings mangele es "den beteiligten Institutionen (...) an Kenntnissen", weshalb die GTZ sie unterstütze.[6] "Durch die erwarteten Einkommens- und Beschäftigungseffekte" werde die Reform "die Lebenssituation der syrischen Bevölkerung" verbessern, hieß es weiter - eine Ankündigung, die schlicht nicht eintraf. Ganz im Gegenteil: Die Öffnung des syrischen Marktes habe höchst "schädliche Auswirkungen" auf das einheimische Handwerk, bestätigte letztes Jahr die International Crisis Group. Dies treffe zum Beispiel auf Duma zu, einen Vorort von Damaskus, in dem zahlreiche Handwerker lebten; sie stünden aufgrund der Liberalisierung vor dem Ruin und hätten dem Regime deshalb ihre Loyalität aufgekündigt.[7] Tatsächlich gilt Duma heute als Protesthochburg und wurde im Januar kurzzeitig sogar vollständig von Aufständischen kontrolliert.
Visionen
Entsprechend heißt es in der "National Economic Vision", die der Chef des "Economic Bureau" des SNC, Usama al Qadi, vergangene Woche der unter deutscher Führung stehenden "Working Group" in Abu Dhabi vorgestellt hat, die Liberalisierung werde erst "auf lange Sicht" den Lebensstandard heben. Zunächst müsse man zuverlässige Rahmenbedingungen für Auslandsinvestitionen schaffen, die "Produktivität" der syrischen Arbeiter erhöhen, die Ansiedlung von Industriebetrieben forcieren, den Bankensektor reformieren und sich insbesondere im Ausland um neue Geschäfte bemühen. Der "Marshall Syrian Recovery Plan", der möglichst schnell kommen müsse, werde Direktinvestitionen aus dem Westen in größerem Maße anlocken können. Bei der Umsetzung wird künftig das deutsch geleitete "Sekretariat" der "Working Group" behilflich sein, sobald Assad gestürzt und das Regime in Damaskus ausgetauscht ist.
Wie damals im Kosovo
Der SNC, der im Rahmen der "Working Group" auf syrischer Seite eng mit dem Westen kooperiert und dessen Personal sich für künftige Führungstätigkeiten anbietet, ist unter Oppositionellen in Syrien heftig umstritten. Er wird von Mitgliedern der Muslimbruderschaft dominiert, deren starke Stellung im SNC bei vielen säkular orientierten Regimegegnern auf entschlossenen Protest stößt. Außerdem ruft es bei großen Teilen der syrischen Opposition Unmut hervor, dass führende SNC-Mitglieder offen auf eine Militärintervention des Westens setzen. Entschieden gegen westliche Kriegsoperationen hat hingegen etwa das National Coordination Committee (NCC) plädiert, ein Zusammenschluss oppositioneller Organisationen innerhalb Syriens, der vom Westen nicht besonders beachtet wird. Radwan Ziadeh, "Direktor für auswärtige Beziehungen" des SNC und wie SNC-Wirtschaftsfachmann Usama al Qadi für das in Washington beheimatete Syrian Center for Political and Strategic Studies tätig, hat sich seinerseits bereits mehrfach für Operationen à la Kosovo ausgesprochen. "Kosovo zeigt, wie der Westen in Syrien intervenieren kann", erklärte Ziadeh, der bereits im Juli 2011 im Berliner Auswärtigen Amt zu Gast gewesen war, im Februar in der Financial Times.[8] Kurz darauf äußerte er, den Milizen der Free Syrian Army komme dieselbe Rolle wie der kosovarischen UÇK zu.[9] Erst kürzlich hielten sich dann syrische Oppositionelle im Kosovo auf, um dort genaue Erkundigungen über das Vorgehen der UÇK im Jahr 1999 einzuholen (german-foreign-policy.com berichtete [10]). Bleibt man im Bild, dann könnte dem "Massaker von Hula" eine Bedeutung zukommen, wie sie Anfang 1999 das "Massaker von Račak" besaß. Beim "Massaker von Račak" waren allerdings schon bald Hinweise bekannt geworden, dass es fingiert worden war, um einen Kriegsgrund zu schaffen. Zuverlässig entkräftet wurden sie nie; der Militärintervention der NATO stand dies allerdings nicht im Wege.