Wie die taz heute unter dem Titel Wirtschaft trifft Forschung: Frieden schaffen mit Chemiewaffen berichtet, forscht die Universität Tübingen weiterhin im Auftrag der Bundeswehr, obwohl eine Zivilklausel in der Grundordnung der Universität Tübingen das seit Januar 2010 verbietet.
Die Zivilklausel wurde im Rahmen der studentischen Proteste im Winter 2009/10 erkämpft und ist seither in der Grundordnung der Universität festgeschrieben - dennoch haben seither zahlreiche Veranstaltungen rund um den Campus stattgefunden, die ihr widersprechen.
Die Universität hat bisher überhaupt nicht auf die Klausel reagiert. "Die Zivilklausel interessiert die Uni überhaupt nicht", so Christoph Marischka von der Informationsstelle Militarisierung. Seit April ist nun sogar der „Militärstratege“1 und Organisator der Münchner NATO-Sicherheitskonferenz Wolfgang Ischinger, dessen Auftritte in Tübingen zuvor bereits deutliche Proteste auslösten,2 Honorarprofessor und Lehrkraft am Institut für Politikwissenschaft.
Der Arbeitskreis Universität in ziviler Verantwortung fordert die Universität Tübingen dazu auf, die in der Grundordnung verankerte Selbstverpflichtung zu respektieren, Mechanismen zu etablieren, die eine transparente Überprüfung der Vereinbarkeit von Forschung und Lehre mit den in der Grundordnung festgelegten Zielen erlauben und die Verleihung der Honorarprofessur an Wolfgang Ischinger rückgängig zu machen. Doch die Universität zeigt sich ignorant. Auch zu den neuen Vorwürfen, die heute in der taz gegen die Universität erhoben werden, schweigt sich Rektor Bernd Engler bislang aus.
Der Bereich der Wehrforschung steht im Allgemeinen unter Geheimhaltung. Folgendes aber ist bekannt: "Wehrmedizinische Forschung findet, finanziert durch das Verteidigungsministerium, an den Bundeswehrkrankenhäusern, den Universitäten der Bundeswehr in Hamburg und München sowie an zahlreichen deutschen Hochschulen statt, darunter auch in Tübingen. Hier wird im Auftrag des Verteidigungsministeriums zu Lärmtraumata, zu Organophosphaten und zur Wirkung nuklearer Strahlung auf Körperzellen geforscht. Mittels Internetrecherche konnte bislang nur das Projekt zur Erforschung von Lärmtraumata identifiziert werden, das auch die offensichtlichsten Bezüge zur Einsatzrealität der Bundeswehr aufweist. So sind Lärm- und Knalltraumata unter den häufigsten Formen von Verletzungen von Bundeswehrsoldaten in Afghanistan und auch jenseits des konkreten Kriegseinsatzes leiden viele Soldaten wegen ihres unmittelbaren Umgangs mit Gewehren, Explosionswaffen, Flugzeugen und Hubschraubern unter chronischen Hörschäden. Am zur Universität gehörenden Tübingen Hearing Research Centre auf dem Gelände der Universitätsklinik wird bzw. wurden im Auftrag des Verteidigungsministerium der Haarzellverlust infolge von Schalldruck und mögliche Behandlungsmöglichkeiten untersucht. Als Grundlage der Forschung diente die experimentelle Beschallung und anschließende Untersuchung von Meerschweinchen. Ob diese Tierversuche selbst in Tübingen stattfanden und weiter stattfinden, ist jedoch bislang nicht eindeutig geklärt."3
Sicher ist, dass die Uni Tübingen Komponenten für "µDrones" (www.ist-microdrones.org), Überwachungsdrohnen für Militär und Polizei, liefert - trotz Zivilklausel. Dazu wurde die Orientierung von Ratten erforscht.4 Diese Forschung fand und findet am Institut für Neurowissenschaft im Labor für Kognitive Neurowissenschaft unter der Leitung von Prof. Dr. Hanspeter A. Mallot statt. Daneben ist Mallot - man höre und staune - am von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Graduiertenkolleg "Bioethik" beteiligt. Dieses ist beim Tübinger Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW) angesiedelt, welches u.a. in die Kritik geriet, da es im Auftrag der Bundesregierung "ethische Begleitforschung" zur Einführung sog. "Nackscanner" an deutschen Flughäfen betreibt - und letztlich Optimierungsvorschläge unterbreitet, die diese Einführung erleichtern. Das IZEW hat sich im Übrigen in die Diskussion um die Zivilklausel an der Universität Tübingen eingeschaltet und organisiert im kommenden Wintersemester eine Ringvorlesung hierzu mit, bei der Bundeswehrangehörige sprechen sollen, Militärkritiker jedoch ausgeladen wurden.
Mit der wehrmedizinischen Forschung an der Universität Tübingen würden, so ein Sprecher des Bundesverteidigungsministeriums gegenüber der taz, "wichtige Grundlagen zur Prüfung neuer Medikamente geschaffen, um Menschen zu behandeln, die nach Aufnahme von sogenannten Organophosphaten erkrankt seien". Organophospate sind chemische Botenstoffe, die in Nervenkampfstoffen und Pestiziden vorkommen. Ihre lebensbedrohliche Wirkung beruht dosisabhängig auf einer Lähmung der Atemmuskulatur. Vor ihrer Zulassung werden sie normalerweise Hühnern als einmalige Dosis oder wiederholt verabreicht - diese Tierart sei am ehesten empfänglich für die giftige Wirkung dieser Chemikalien. Die Tiere werden auf Verhaltensabweichungen untersucht und anschließend getötet; Nerven, Gehirn und Rückenmark werden auf Anzeichen von Nervenschäden untersucht. In Tübingen scheint es sich allerdings um eine In-vitro-Studie zu handeln.5
Man weiß aber nicht, was sonst noch alles unter dem Deckmantel der Geheimhaltung im Auftrag der Bundeswehr passiert. Im Dezember 2008 war bekannt geworden, dass die Bundeswehr bereits seit 2004 Tausende Tierversuche durchführen lässt, um Auswirkungen von biologischen und chemischen Waffen zu erforschen. Dabei starben mindestens 3300 Tiere, darunter auch 18 Affen. Insgesamt wurden bei den Tierversuchen der Wehrforscher zwischen 2004 und 2008 mindestens 2.220 Mäuse, 706 Meerschweinchen, 276 Ratten, 84 Kaninchen, 76 Schweine und 18 Makaken-Affen getötet.6
Abgeschirmt von der Öffentlichkeit geht inmitten unserer sich kultiviert nennenden Gesellschaft, wie es Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in der Dialektik der Aufklärung ausgedrückt haben, "verkannt als bloßes Exemplar" tagtäglich Versuchstier nach Versuchstier "durch die Passion des Laboratoriums", ziehen die Experimentatoren "verstümmelten Tierleibern" den "blutigen Schluß" ab, ohne dass dies der Großteil der Menschen überhaupt mitbekommt. So sind sich auch viele Menschen, die in Tübingen leben, überhaupt nicht darüber bewusst, dass solche "scheußlichen physiologischen Laboratorien" sich in ihrer unmittelbaren Umgebung befinden.
In Tübingen werden aber – nach zahlreichen bereits beendeten Versuchen mit Affen – momentan nicht nur gleich an drei Instituten ähnliche Versuche mit Makaken durchgeführt, wie sie bereits in München, Berlin und Bremen in den letzten Jahren aus ethischen Gründen von den Behörden nicht mehr erlaubt wurden – die "Datenbank Tierversuche" findet unter der Stichwortsuche "Tübingen" aktuell 189 wissenschaftliche Publikationen über Studien, zu deren Durchführung an Tieren experimentiert wurde.
Was hinter den verschlossenen Türen Tübinger Institute geschieht, würde, geschähe es beim Menschen, Folter und Mord genannt werden; und ganz offen werden Personen, die für Folter und Mord in weltweitem Maßstab verantwortlich sind, von der Universität Tübingen hofiert. Wir fordern:
Kriegstreiber und Tierquäler raus aus den Unis!
Mehr Informationen zu Tübinger Tierversuchen auf unserer Website in der Kategorie Tierversuche.
- Schwäbisches Tagblatt, 14.5.2011. [zurück]
- vgl. z.B. den Artikel Am Reden gehindert: Studenten störten eine Veranstaltung über Sicherheitspolitik des "Schwäbischen Tagblatts" vom 16.4.2010 und die Leserbriefe Kriegspropaganda sowie Dreist gelogen und Verstrickungen. [zurück]
- IMI: Zivilklausel an der Universität Tübingen. Dokumentation Juli 2011. [zurück]
- Hölscher et al.: Rats are able to navigate in virtual environments, The Journal of Experimental Biology 208, 561-569. [zurück]
- vgl. das Abstract Long-term evaluation of organophosphate toxicity and antidotal therapy in co-cultures of spinal cord and muscle tissue. [zurück]
- So die Angaben des Nachrichtenmagazins Focus am 11.12.2008. [zurück]
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Danke für diese Informationen!