Wer den Staat repräsentiert, muss damit rechnen, beleidigt und angegriffen zu werden. Das war schon immer so. Aber noch nie waren die Sorgen der Bürger in Uniform den anderen Deutschen so egal. Von Marc Felix Serrao
Vierunddreißig verletzte Polizisten. Ist das viel? Wenig? Erschreckend? Normal? Auf jeden Fall ist es nicht weiter der Rede wert.
34: Die Zahl stammt von den soeben wieder mal aufgeführten "revolutionären" Demonstrationen zum Tag der Arbeit in Hamburg. Das sind diese Aufmärsche, bei denen die Antifa, der sogenannte Schwarze Block und das, was in Deutschland vom Kommunismus übrig geblieben ist, unser kapitalistisches "Schweinesystem" bekämpfen, indem sie mau bezahlte Männer und Frauen in Uniform mit Steinen, Flaschen und Böllern bewerfen. Wer in diesem Jahr nichts davon mitbekommen hat, muss kein schlechtes Gewissen haben. Im Norden gab es ein paar routinierte Rundfunk- und Zeitungsberichte. Im Rest des Landes war die Zahl nicht weiter der Rede wert. Es gab keinen Fernsehbrennpunkt und keine Debatte über linke Gewalt. "Bilanz 1. Mai in Deutschland: Insgesamt friedlich", titelte die alternative taz und brachte die Stimmung auf den Punkt.
Das lag vor allem an Berlin. Politiker und Kommentatoren waren froh, dass es dort ruhig geblieben ist. Der Grund dafür ist allerdings keine plötzliche Friedfertigkeit der autonomen Szene, sondern die alle politischen Lager vereinende Liebe der Deutschen zu Bier und Bratwurst: Zum Kreuzberger "Myfest", vor 13 Jahren als Straßenkarneval gestartet und seither zu einer Art Ersatzballermann mutiert, kommen inzwischen Zehntausende Touristen und verstopfen feiernd das Herz der bunten Republik. Selbst wenn man dort am 1. Mai randalieren wollte, es wäre zu eng dafür.
Und die Böller- und Steinwürfe gegen Beamte in Hamburg? Och ja. Hätte schlimmer sein können. Kein Problem.
"Nein! Genau das ist das Problem", sagt Oliver Malchow. Der Kriminaloberrat ist Bundesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei (GdP). Er findet den allgemeinen Gleichmut verheerend. Zum einen, weil es nicht sein könne, "dass wir den Einsatz von Tausenden Beamten aus dem ganzen Bundesgebiet mit schwerer Sicherheitsausrüstung als Normalfall akzeptieren". Zum anderen, weil die Randale vom 1. Mai nicht das eigentliche Problem sei. Die Hinnahme von Dutzenden verletzten Beamten sei Ausdruck eines viel tiefer sitzenden Problems: "Die Menschen distanzieren sich vom Staat und seinen Repräsentanten."
Typischer Satz eines Gewerkschafters, oder? Meine armen Leute, keiner hilft uns. Allerdings ist Malchow nicht der Einzige, der so spricht. Nürnbergs Oberbürgermeister Ulrich Maly (SPD) hat sich als Präsident des Deutschen Städtetags erst vor wenigen Monaten ähnlich geäußert: "Der Respekt gegenüber Autoritätspersonen ist geringer geworden. Das spüren Polizisten, Feuerwehrleute, aber auch Politiker."
An der Basis grummelt es schon länger. Es ist etwa ein Jahr her, da ging die Brand-Mail einer griechisch-stämmigen Polizistin aus Bochum durchs Netz. "Man wird täglich auf der Straße beleidigt", schrieb die Beamtin Tania Kambouri. Im Einsatz sei "ein Gespräch in einem ruhigen Tonfall oft unmöglich". Was folgte, war eine Abrechnung mit der Vorstellung eines fluffigen multikulturellen Miteinanders. Vor allem Männern mit Migrationshintergrund fehle es oft an einem auch nur in Ansätzen europäischen Rechtsverständnis. Da werde beleidigt, getobt und geprügelt. "Wo sind wir mittlerweile gelandet?", fragte die Polizistin. "Ist es schon so weit gekommen, dass die deutsche Polizei beziehungsweise der Staat sich (negativ) anpassen muss und wir unsere demokratischen Vorstellungen in gewissen Lebens-/Einsatzsituationen einschränken oder aufgeben müssen?"
Natürlich war die Öffentlichkeit nach der Verbreitung der Mail kurz erschrocken. Und natürlich war das nur möglich, weil eine Frau, die selbst einen Migrationshintergrund hat, die Misere öffentlich gemacht hat; andernfalls wäre das Ganze binnen weniger Stunden als reaktionärer Irrlauf gebrandmarkt worden. Geändert hat sich seither aber, natürlich, nichts.
Es ist, als hätten die Deutschen einen Schalter umgelegt. Früher galten die Menschen in diesem Land als autoritätshörig; diese Zeiten sind vorbei, zum Glück. Heute aber scheint der Anblick einer Uniform bei vielen Bürgern eine allergische Reaktion auszulösen, was genauso übertrieben ist.
Nun mal halblang, könnte man mit der taz sagen. Der gute OB Maly ist seit 1984 Sozialdemokrat und der Gewerkschaftsboss Malchow seit 1983 im Polizeidienst. War es damals nicht mindestens so heftig wie heute? Vor dem AKW Brokdorf? In Frankfurt, wegen der Startbahn West?
Klar, das waren wilde Zeiten. Mit einem Unterschied: Brokdorf, Frankfurt oder das Wendland waren Schauplätze echter politischer Schlachten. Da ging' s um was. Heute geht es um Käse. Beziehungsweise, Stichtag 1. Mai: um pseudolinke Hooligans, die ihren als politischen Protest getarnten Lebensfrust an Polizeibeamten oder der örtlichen Bankfiliale auslassen.
Wenn GdP-Chef Malchow von einer Distanz zwischen Bürgern und Staat spricht, die ihm Angst macht, dann meint er nicht nur die Steinwürfe in Hamburg oder die brennenden Streifenwagen (mit Beamten drin) vor dem EZB-Neubau in Frankfurt im März. Er meint vor allem den Autoritätsverlust bei Verkehrskontrollen. Bei Nachbarschaftsstreits. Firlefanz, eigentlich.
Die jüngsten Zahlen wurden Mitte dieser Woche publik. Laut der Polizeilichen Kriminalstatistik erlitten 2014 täglich mehr als zehn Beamte bei Angriffen gefährliche und schwere Körperverletzungen - und damit, sagt Malchow, seien keine Tritte gegen das Schienbein gemeint. Der Anstieg betrage satte 14 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Insgesamt, so der Gewerkschaftsboss, würden im Jahr fast 60 000 Polizisten Opfer einer Straftat. 162 pro Tag.
Wieder so eine Zahl. Was macht man damit? Sind 162 Straftaten viel? Bei 81 Millionen Bundesbürgern?
Zumindest darf man davon ausgehen, dass Malchow nicht übermäßig dramatisiert. Der sanfte Sozialdemokrat benutzt auch am Telefon Floskeln wie "Bürgerinnen und Bürger". Ein guter Polizist ist bei ihm ein Partner im Alltag: ansprechbar, zugeneigt und hilfsbereit. Wer schon mal das Glück hatte, wegen eines defekten Fahrradlichts von einem Münchner Streifenbeamten rundgemacht zu werden ("Sie halten die Gosch, wenn ich rede!"), weiß, was Malchow nicht meint. Und wer an die Beamten denkt, die im Einsatz hin und wieder deutlich fester zuschlagen als nötig, weiß, warum es wichtig ist, den Polizeiapparat laufend zu durchleuchten und jedes Schimanski-Gehabe zu ächten.
Malchows GdP tritt - anders als die im Beamtenbund organisierte Deutsche Polizeigewerkschaft (DPolG) - für ein betont ziviles und freundliches Polizeibild ein. Als Teil des Deutschen Gewerkschaftsbundes hat sie es aber alles andere als leicht. Zurzeit muss sie mitansehen, dass eine andere DGB-Gewerkschaft, Verdi, als Vorbereitung für den G-7-Gipfel im bayerischen Schloss Elmau einen Kurs im "zivilen Ungehorsam" anbietet. Wer solche Genossen hat, braucht keine Autonomen mehr.
Die Frage ist, ob das Ideal des deutschen "Good Cops" in der gesellschaftlichen Realität wurzelt oder in einer Wunschwelt. Die Beamten, die am 1. Mai in Hamburg irgendwann den Wasserwerfer auf die Demonstranten gerichtet haben, taten das erst, nachdem sie etwa ein halbes Dutzend Mal darum gebeten hatten, "das Werfen von Böllern auf die Beamten einzustellen".
Dieses Land kann, wie Malchow behauptet, "die beste Polizei aller Zeiten" haben. Aber wenn ein immer größer werdender Teil des Staatsvolks den angebotenen Gesellschaftsvertrag ignoriert oder offen ablehnt, fliegt der irgendwann auseinander. Das Ziel, dass sich Bürger und Staatsrepräsentanten auf Augenhöhe begegnen - ohne autoritäres Getue -, muss von einer klaren Mehrheit für gut und teuer gehalten werden. Sonst geht es nicht.
Er habe, sagt auch Malchow, "die große Sorge", dass sich eine wachsende Zahl seiner Beamten aufgrund der täglichen Gewalt und Ablehnung von den Bürgern distanziert. Auch wenn einer selbst noch keinen Stein an den Kopf bekommen habe - "die Kollegen reden ja".
Einer, der die Lage entspannter sieht, ist Rafael Behr. Der Professor für Soziologie und Kriminologie an der Akademie der Polizei in Hamburg ist einer der größten Kritiker der Polizeigewerkschaften. Er wirft vor allem der DPolG regelmäßig Scharfmacherei vor. Die Gewalt gegen die Uniformträger nehme gar nicht zu, sagt er. Behr, der als junger Mann selbst auf Streife gegangen ist, spricht von einem "Smartphone-Paradox". Früher seien die Sitten auch rau gewesen, davon habe aber niemand Filmchen machen können. Das Einzige, was zugenommen habe, seien leichte Körperverletzungen - "nichts, was erfahrenen Polizisten fremd wäre".
Der Soziologe sieht das Problem nicht bei den respektlosen Bürgern, sondern bei den Polizisten, die mit Respektlosigkeit nicht umgehen können, weil sie es in der Ausbildung nicht gelernt haben: "Da steht das Einsatztraining ganz oben, und die kommunikativen Deeskalationstechniken stehen ganz unten." Und die Trainings in "interkultureller Kompetenz"? Er lacht. "Es gibt gute und gut gemeinte! In einigen Trainings lernt man, beim Betreten einer Moschee die Schuhe auszuziehen. Als ob ein deutscher Polizist das nicht weiß. Für den ist doch nicht der Imam das Problem, sondern die Jungs, die nachts im Mercedes rumbrettern und ihn bei der Kontrolle als Nazi beschimpfen." Darum gehe es: "Wie verhalte ich mich in solchen Situationen kompetent, ohne mich von den Provokationen aus der Ruhe bringen zu lassen?"
Das klingt erst mal gut. Allerdings meint Behr nur die Bürger in Uniform. Die müssten lernen, deeskalierend zu wirken. Und die jungen Bürger im Mercedes - die, von denen auch die Polizistin Tania Kambouri in ihrer Mail geschrieben hat? Haben die keine Pflichten? Etwa die, sich nicht wie erziehungsbefreite Halbstarke aufzuführen?
Oder, zurück zum 1. Mai: Was hindert eigentlich den Deutschen Gewerkschaftsbund, die SPD, die Grünen und vor allem die Linkspartei daran, den Steine werfenden Teil der Linken mit ähnlich scharfen Worten öffentlich anzuprangern? Was hält die Hamburger Bürger davon ab, den Leuten, die jedes Jahr ihren Stadtteil zerlegen, den Stinkefinger zu zeigen?
Es gibt viele Erklärungsansätze. Aber die eigentliche Ursache dürfte in der von Malchow beobachteten Trennung liegen: von Bürger und Staat. Die wenigsten Deutschen fühlen sich heute als Staats-Bürger (nein, damit ist nicht das "schwarzrotgeile" Fahnengewedel beim Fußball gemeint). Vor allem Jüngere finden die Organe des Staates, sein Pathos und seine Zeremonien bestenfalls amüsant. Viele Großstadtkinder sind in den Neunziger- und Nullerjahren von Lehrern und Professoren unterrichtet worden, die selbst eine mehr als nur heimliche Distanz zu dem Gebilde hatten, dem sie qua Amtseid eigentlich "dienen".
Zur Staatsskepsis kommt die Heimatlosigkeit. Den Leuten ist es egal, wenn sich rechte Fußballfans oder die Antifa vor ihrer Tür wie Sau aufführen. Weil es meist nicht ihre Tür ist. Der Großstadtmensch von heute zieht im Leben öfter um, als zur Wahl zu gehen. Er sagt höchstens: mein Kiez. Nicht: meine Heimat. Schon das Wort klingt für ihn Nazi. Man muss sich nur mal vorstellen, was los wäre, wenn ein paar Vermummte durch ein, sagen wir, bayerisches Dorf ziehen würden. Die Bauern würden die Gäste schnell auf ihre Weise ruhigstellen. Und sie würden, anders als die Polizei, nicht erst darum bitten, das Böllerwerfen einzustellen. Weil das Dorf ihr Dorf ist.
Der Staat aber ist genau das für immer weniger Menschen. Ihr Staat. Sondern nur der Staat, ein Fremder. Niemand, zu dem man nett sein müsste. Dass dieser Ansehensverlust langfristig das Fundament der modernen, also nicht auf Hierarchie und Gehorsam setzenden Zivilgesellschaft ins Wanken bringen könnte, ist wenigen bewusst. Weil kaum jemand die Uniform, die er vor sich sieht, als etwas erkennt, was auch zu ihm, zu uns allen gehört.
Kommentar
Nur in der Print-Ausgabe und kostenpflichtig auf der Website. Hier dokumentiert wegen der für die SZ doch bemerkenswert ekligen Hetze gegen Links - Zitat: »um pseudolinke Hooligans, die ihren als politischen Protest getarnten Lebensfrust an Polizeibeamten oder der örtlichen Bankfiliale auslassen.«
Marc Felix Serrao
Das wundert mich überhaupt nicht. Serrao ist seit langem als bester Freund der Deutschen Burschenschaft bekannt. Intern wird immer wieder auf ihn verwiesen, falls ein Ansprechpartner bei der Süddeutschen Zeitung für rechte Propaganda benötigt wird.
"Damals ging's noch um was."
Genau: was sind schon ein paar Hundert an den militärisch gesicherten Außengrenzen der Festung Europa ertrinkende Menschen (pro Woche) gegen den Neubau einer Flughafen-Startbahn? Oder die von der Troika forcierte soziale Katastrophe in Südeuropa gegen so ein häßliches Atomkraftwerk direkt vor unserer Haustür bzw. das - mimimi - "Sterben der Wälder"? Zumindest in der BRD waren die 60er, 70er und 80er Jahre so kuschelig, wie sie nie wieder sein werden: Stichwort Sozialstaat, Neoliberalisierung der Gesellschaft etc. pp.
Als Teil des "Staatsvolks" frage ich mich auch, wann und wo ich diesen "Gesellschaftsvertrag" unterschrieben haben soll, von dem der Autor da spricht. Wes Geistes Kind der Autor ist, wird dann aber spätestens im vorletzten Absatz deutlich:
Dialektik der Aufklärung in Reinform: erst den Rechtsstaat predigen, um am Ende dann die mörderische Selbstjustiz des Volksmobs zu feiern. Widerlich.
MFS einsamer Kampf gegen Links
schon 2011 hat er die Göttinger Burschis der Hannovera ausführlich über linke Gewalttäter heulen lassen: https://www.aida-archiv.de/index.php/aktuelles-2/hintergrund/137-allgeme...
seltsam, dass er nach langer Abwesenheit mal wieder in der SZ auftauchen darf...
#MarcFelixSerrao=völkischerBeobacher