Säe Hunger, ernte Wut: Warum Bosnien brennt

Ein Demonstrant am 7.2.2014 vor einem Regierungsgebäude in Tuzla, Bosnien-Herzegowina

Fehlgeschlagene Privatisierungen, steigende Arbeitslosigkeit und ein durch und durch ineffizientes und verantwortungsloses politisches System bilden die Basis der Proteste in Bosnien-Herzegowina

Bosnien-Herzegowina taucht endlich aus dem Schatten auf, einmal mehr als ein Land in Flammen. Am 5.Februar sind entlassene Arbeiter der kürzlich privatisierten Fabriken der Industriestadt Tuzla – die drittgrößte Stadt Bosnien-Herzegowinas – auf die Straßen gegangen um für ihre Gesundheitsversorgung, ausstehende Löhne der letzte 50(!) Monate zu protestieren. Außerdem verlangen sie von der Regierung gegen die Jugendarbeitslosigkeit, die 60% beträgt, vorzugehen.

 

Die Proteste, welche von der lokalen Gewerkschaft, der Assoziation der Arbeitslosen organisiert und von der Facebook Seite „50.000 people for a better tomorrow“ verbreitet werden, wurde von Studenten und Arbeitern begleitet. Sie standen vor dem zentralen Gerichtsgebäude des Kantons bevor sie zum Gebäude der Kantonsregierung weiter ziehen wollten, um es zu betreten. Als sie von der Polizei gewalttätig zurück gedrängt wurden, begangen die Protestierenden Eier und Steine gegen das Gebäude zu werfen, während die Riot Polizei – um den Eingang des Gebäudes zu schützen – mit Tränengas und Gummigeschossen reagierte. Die Stadt Tuzla war komplett blockiert und am Ende das Tages waren 27 Personen verhaftet und weitere 23 verletzt.

 

Da die Arbeiter nicht aufgaben, folgten zwei weitere Tage von Ausschreitungen. Innerhalb von sechs Tagen gab es Solidaritätsdemonstrationen in ganz Bosnien-Herzegowina, in beiden semi-autonomen Teilen, die das Land seit dem Ende des Krieges bilden: Republika Srpska, das größtenteils von Serben bewohnte Teil, sowie der Federation von Bosnien-Herzegowina, dem bosnisch-kroatischen Teil. Während die Versammlung in Banja Luka, der Hauptstadt des serbischen Teils einem friedlichen Pfad folgte, wurden die Proteste in Zenica, Mostar und Sarajevo zu einer Urban Guerilla umgewandelt.

 

Nachdem das Regierungsgebäude von Tuzla angezündet wurde, und der Führer des Kantons Sead Čaušević, zurückgetreten ist, wurde am dritten Tag der Unruhen sogar das Regierungsgebäude von Zenica - eine weitere Industriestadt – angezündet und der dortige Ministerpräsident trat ebenfalls zurück.. Am selben Tag wurde in der multi-ethnischen Stadt Mostar das Rathaus und das Kantonsgebäude zusammen mit den Hauptquartieren der beiden größten nationalistischen Parteien – die kroatische HDZ und die bosnische SDA - abgefackelt. In Sarajevo wurden der Präsidentenpalast, welches das Nationalarchiv beherbergt, das Rathaus sowie das Gebäude der Kantonsregierung Ziele der Wut, da sie Symbole der korrupten und inkompetenten politischen Klasse sind, die das Land seit dem Ende des letzten Kriegs ausplündern. In Sarajevo reagierte die Polizei mit Blitzgranaten und Gummigeschossen, außerdem wurde vom Auseinandersetzungen im Skenderija Gebiet (großer Sport- und Shoppingkomplex in Sarajevo, teilweise unbenutzt, nachdem im Winter 2012 Teile des Dachs einstürzten. Anm.d.Ü.) berichtet.

 

Auch wenn sich im Moment die Analysen und Debatten um die gewalttätige Entwicklung der Proteste drehen, lohnt es sich einen Schritt zurück zu machen, an den Punkt, an dem die Proteste begannen. Tuzla, hat einen industriellen Ruf, seit der Zeit Österreich-Ungarns. Die multi-ethnische Stadt – ein Kreuzweg von unterschiedlichsten Menschen – ist als Hochburg der sozialdemokratischen Partei bekannt. Die größten Firmen der Region, die während das sozialistischen Systems nationalisiert waren, durchliefen nach dem Krieg einen Prozess der Privatisierung, der zu ihrem Bankrott und zum Verlust der Arbeitsplätze der meisten Arbeiter, führte.

 

Nach der Privatisierung der Waschmittelfirma DITA 2007, zahlte der Haupteigentümer – bereits hochverschuldet mit Bankkrediten – keinerlei Renten- und Gesundheitsbeiträge an die Arbeiter. Aufgrund seiner Unfähigkeit vor Gericht zu erscheinen konnte er, sogar als er verklagt wurde, nicht belangt werden. Nach der Schließung im Dezember 2012 beschlossen die Arbeiter von DITA – einem Giganten, der 1400 Arbeitsplätze stellte – nicht zu streiken und statt dessen Mahnwachen vor der Fabrik durchzuführen. Heute, nach über einem Jahr der Proteste und Hungerstreiks, hört die Welt endlich von ihren Klagen.

 

Die Arbeiter von Tuzla sind nur ein Symptom des ökonomischen Zusammenbruchs eines Landes, dessen Verwaltungs- und politisches System – von außen aufgedrängt - nie funktioniert hat. Ihre Proteste bringen die Frage der politischen Ökonomie wieder auf den Tisch, während die Politiker die ökonomischen Probleme mit dem spielen der ethnischen Karte verschleiern wollen. Mit einer Arbeitslosenrate von 28%, umfassender Korruption und eines ineffizienten Rechtssystems, haben die Arbeiter von Tuzla gezeigt, das Prekarität als Folge neoliberaler Privatisierungen ihrer Firmen, alle Bereiche der Gesellschaft betreffen.

 

Bosnien-Herzegowina ist zurück im Rampenlicht, diesmal aber nicht als vergessene Peripherie von Europa, sondern als Symbol für den tödlichen Mix von „effizienter Überführung“ (treffender: gescheiterte Privatisierungen) und EU/US gesteuerter Politik (treffender: ineffizientes und verantwortungsloses Verwaltungssystem). Dieser führt zu einem nicht zu unterdrückenden gegen die gesamte politische Klasse, welche – wie die Menschen in Bosnien-Herzegowina bereits letztes Jahr gezeigt haben – niemanden außer den ethnischen Eliten repräsentiert.

 

Dieses Mal kann die ethnische Karte nicht mehr gespielt werden, weil außer den Arbeitern von DITA, Kojuh, Resod-Gumig, Polihem und Poliochem (alles kürzlich privatisierte Firmen in Tuzla, die nun pleite sind) auch Studenten, denen das Recht am European Erasmus+ Programm teilzunehmen verweigert wurde, weil die Politiker unfähig waren eine Lösung zwischen den verschiedenen Bildungsministerien zu finden, auf die Straße gehen. Außerdem noch die LGBTQ Community, die während des letzten International Queer Festival in Sarajevo brutal von religiösen Extremisten angegriffen wurde und alle deren Rechte im Namen der erfolgreichen Eingliederung in die EU – die nur ihre politische Klasse durchfüttert und legitimiert – unterdrückt werden.

 

Jetzt tritt Bosnien-Herzegowina Europa wirklich bei – aber von einer ganz anderen Perspektive als sich europäische Bürokraten das gedacht haben: die Plätze brennen wie die in Griechenland, Spanien und in der Türkei.

 

Mehr Infos und aktuelle Updates zur Situation in Bosnien-Herzegowina:

 

Occupy Sarajevo: taking parliament hostage in Bosnia (Occupy Sarajevo Sommer 2013, interessant ist, dass bereits dort antinationale Parolen auftauchten)

Protests Across Bosnia Are A “Collective Nervous Breakdown”  

Protests in Bosnia and Herzegovina: LIVE BLOGS AND UPDATES 

 

 

Originalartikel: von Chiara Milan für ROAR Mag: Sow hunger, reap anger: why Bosnia is burning

Übersetzt von: der Dachs

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Man kann nur hoffen, dass ein Verantwortungsbewußtsein in großem maße vorhanden ist. Denn in Bosnien und Herzegovina sind noch immer sehr viele Waffen im Umlauf...

 

Interessant wäre auch, etwas näheres zu erfahren und ein wenig tiefere Hintergründe kennenzulernen. In der Ukraine hat das wie ich finde gut funktioniert, nach einiger Zeit gab es Berichte von "vor Ort". Wenn aus Bosnien selber nicht so viel kommt, vielleicht hilfen uns da die Gefährt_innen in Slovenien weiter, dass hat bei dem "uprising" letztes Jahr ja gut funktioniert.