Über die englischen Ausschreitungen und andere Qualen // Wie ein Sommer mit Tausend Augusten?
„Die sommerlichen Ausschreitungen 1981 waren der Vorgeschmack der Zukunft für uns. Eines Tages, früher oder später, wird das Vereinigte Königreich explodieren. Mit einer solchen Behauptung konfrontiert, tendieren die meisten Leute in den Pubs, in den Strassen, in den Supermärkten oder bei der Arbeit dazu, den Kopf zu schütteln. Die alte phlegmatische Beschwichtigung, dass „es hier nicht geschehen kann“, ist letztendlich weg – hoffentlich für immer“ [1]. Dieser offene Optimismus, welcher das Resultat der Ausschreitungen war, die Grossbritannien Anfang der 1980er Jahre erschütterten, war abwesend nach den Unruhen im August. Dieses Mal waren es Ambivalenz, Ratlosigkeit und kritische Distanz, welche auf die Ausschreitungen folgten, statt Enthusiasmus und Hoffnung. Betäubung war das vorherrschende Gefühl in Aktivistenmilieus und militanten Kreisen, um nicht von der Reaktion von „der Linken“ zu sprechen, was auch immer so genannt werden kann in diesem Land. Wenn man viele Berichte liest, bekommt man den Eindruck, dass die Ausschreitungen jetzt eher als „notwendiges Übel“ betrachtet werden, denn als Vorgeschmack der Zukunft.
Der chaotische und krampfhafte Charakter der Unruhen im August, ihre grosse Distanz zu dem, was ein proletarischer Kampf genannt werden könnte, die Unmöglichkeit für sie, Teil einer ersehnten Bewegung für die Selbstermächtigung der Arbeiterklasse zu sein, löste eine gewisse Nostalgie für die frühen 1980er Jahre aus. Viele beeilten sich, die sommerlichen Ausschreitungen auf so etwas wie eine soziale Stuhlentleerung zu reduzieren, verglichen mit den Ausschreitungen in den 1980er Jahren, welche über Wut und Frust hinausgingen, einen gemeinschaftlichen Geist und eine politische Aspiration bekräftigten. Dieses Mal fielen die Aufständischen zurück, denn sie werden dahingehend wahrgenommen, dass sie nicht anstrebten, was sie im Idealfall durch Selbstorganisation und Klassensolidarität hätten tun können, nämlich die ersten Steine für den Wiederaufbau einer starken, autonomen proletarischen Bewegung zu legen. Es ist letztendlich eine Frage des Bewusstseins des proletarischen Subjekts, die stets gegebene revolutionäre Praxis auf die beste Art und Weise zu verwirklichen, was diese Aussage von Marlowe zeigt: „Wut ist notwendig, um die Revolte gegen das System zu wollen, doch diese Mischung aus Wut und Opportunismus hatte keine Perspektive. Für mich zeigt sie die absolute Notwendigkeit eines Ausdrucks der Klasse, welcher einen Kontext für die Entwicklung des Bewusstseins und einen Fokus auf kollektive Aktion bieten kann. Fehlt dies, können Explosionen der Wut gefährlich selbstzerstörerisch sein“ [2]. Die jüngsten Mängel des Subjekts werden als Resultat der zeitgenössischen Symptome sozialer Pathologien wie Individualismus und Konsumdenken gesehen.
Von einem empirischen/normativen Standpunkt aus betrachtet, erscheinen die sommerlichen Ausschreitungen in vielerlei Hinsicht ähnlich wie viele andere historische urbane Ausschreitungen. Wie viele andere Wellen von Ausschreitungen vor ihnen wurden sie von aufrührerischem Verhalten der Polizei provoziert und waren durch die schockierte Antwort der Leute charakterisiert; wie andere Ausschreitungen verbreiteten sie sich schnell und erfassten etliche Individuen und Tätigkeiten, welche kaum Bezug zum anfänglichen Protest hatten, von welchem sie entstanden; wie andere Ausschreitungen versuchten sie nicht, über spezifische Forderungen zu verhandeln; wie bei anderen Ausschreitungen waren gewalttätige Praktiken gegen den Staat und Privateigentum Teil davon. Das Problem eines solchen normativen Ansatzes ist es, dass er als Ausgangspunkt „Ausschreitungen“ im Sinne einer abstrakten Kategorie setzt, deren konkrete Manifestationen immer eine quantitativ variable Mischung von Praktiken sind, welche als typisch konstitutiv davon betrachtet werden. Als solche werden Ausschreitungen, statt als konkretes Moment des Klassenkampfes erfasst zu werden, als eine Reihe von Praktiken im abstrakten innerhalb ihrer eigenen relativen Autonomie ausgesondert. Ihre Position innerhalb der Totalität, von welcher sie abgelöst werden, wird dann als Verhältnis des Kontextes wieder hergestellt, aus welchem sie entstanden, das als wesentlich exogen zu Ausschreitungen an und für sich begriffen wird. Ausschreitungen werden von ihrer Objektivität getrennt, nur um wieder mit ihr vereinigt zu werden, jedoch nur in ihrer Getrenntheit. Die Geschichte ist ausgemerzt worden, was in der Wirklichkeit existiert, erscheint als Konkretisierung (Verwirklichung) des ewig Abstrakten. Konkrete Praktiken werden lediglich als gelegentliche Manifestationen der Praxis als Abstraktion betrachtet. Und Praxis als solche, als Objekt, bekommt einen Sinn im Verhältnis zu ihrer genauso abstrakten Ergänzung, Klassenkampf als letzten Endes geschichtslose Antithese zweier Klassen (ein Duell), eine ewige Gegenwart, ein Kontinuum ohne Brüche, nur mit Aufs und Abs, Erfolgen und Misserfolgen (die Geschichte stellt einfach die Hintergrundfarbe dieser Antithese bereit). Deshalb werden die besonderen Bestimmungen konkreter Praktiken als beiläufig und unwesentlich verpasst. Die Frage des Kommunismus wird dann zu einem Problem der „Rückkehr des Unterdrückten“, das sich bemüht, seinen Weg zum (Klassen-)Bewusstsein zu finden.
Indem wir den Standpunkt einnehmen, dass Klassenkampf im wahrsten Sinne des Wortes Geschichte ist, meinen wir, dass die Klassen in einem asymmetrischen Verhältnis miteinander verbunden sind, welches ein sich entwickelnder Widerspruch ist, ein prozessierender Widerspruch, im Kern einer tatsächlich – gleichmässig prozessierenden – strukturierten Totalität (die kapitalistische Gesellschaft) wie sie konstituiert ist – in Form von Brüchen und Diskontinuitäten (vergangene Revolutionen und die Konterrevolutionen, welche auf sie folgten) – und als solcher in jeder historischen Periode reproduziert wird. Die Tatsache, dass die Reproduktion des Ausbeutungsverhältnisses widersprüchlich ist (Arbeit wird immer benötigt und ist immer überschüssig/Tendenz der fallenden Profitrate), stellt Kommunismus als wirkliche Bewegung dar, welche den Widerspruch durch die das Kapital und sich selbst aufhebende revolutionäre Tätigkeit des Proletariats auflöst. Von diesem Standpunkt aus betrachtet, waren die Unruhen im August ein historisch besonderer Moment, welcher zu jener Totalität gehört, welche den Klassenwiderspruch wie er heute existiert (der restrukturierte Kapitalismus und seine Krise) als Kern hat. Noch mehr, sie gehören zum gegenwärtigen Moment – was an anderer Stelle die „Ära der Aufstände“ [3] genannt wurde – innerhalb der Entfaltung der Krise des restrukturierten Kapitalismus, zur Art und Weise, wie dieser gegenwärtige Moment in den Besonderheiten des britischen Kapitalismus erscheint und in den Begriffen, welche die Unruhen definierten, nämlich in der Zusammensetzung der involvierten Personen, der Vielfalt ihrer Praktiken (und der Vorherrschaft einiger Praktiken gegenüber anderen), ihrer zeitlich-räumlichen Bewegungsbahn, den Formen der Organisation/dem Zusammenkommen der Aufständischen, ihren Zielen und Hoffnungen (oder ihrem Mangel an Hoffnung), ihrem Verhältnis zu ihrer gesellschaftlichen Umgebung und den anderen Episoden des Klassenkampfes in diesem historischen Moment. Die Grenze der Unruhen war den Ausschreitungen an und für sich nicht fremd, sondern ihrem Wesen selbst inhärent, die Kehrseite ihrer Dynamik. Die Unruhen im August verlangen eine Theoretisierung der Probleme, welche sie durch ihren Ausbruch aufwarfen, und ihrem Verhältnis zu anderen Manifestationen des Klassenkampfes heute hinsichtlich der durch den gegenwärtigen Kampfzyklus hervorgebrachten kommunistischen Revolution. Das steht auf dem Spiel!
Die Restrukturierung und die Konstruktion neuer gefährlicher Klassen
Die Unruhen im August waren nicht nur durch die Abwesenheit unmittelbarer Forderungen definiert, sondern auch durch die Tatsache, dass jede Aussicht auf die Verbesserung der Existenzbedingungen fehlte. Die Aufständischen griffen als das, was sie sind, die aktuelle proletarische Situation an, nämlich die Prekarisierung der Arbeitskraft. In der Abwesenheit der Forderungen und in ihrer konkreten Praxis, nämlich Plünderungen, Anzünden von kommerziellen und öffentlichen Gebäuden, Angriffe auf die Polizei und Polizeiposten, ist der Wunsch, ein „gewöhnlicher Proletarier“ zu werden – ein Arbeiter mit einem gerechten Tageslohn für einen gerechten Arbeitstag –, obsolet geworden. Dies war inhärent verbunden mit der besonderen Situation der Aufständischen. Die Genealogie der Situation in der historischen Entwicklung des Klassenwiderspruchs, ihre Stellung in der Reproduktion des Widerspruchs heute, muss in den grösseren widersprüchlichen Dynamiken des restrukturierten Kapitalismus und der Erschütterung aufgrund seiner Krise des Ausbeutungsverhältnisses gesucht werden.
Die Restrukturierung redefinierte das Ausbeutungsverhältnis. Sie hatte zum Ziel, alles zu beseitigen, was zu einem Hindernis für die Fluidität der Selbstvoraussetzung des Kapitals geworden war. Sie kippte alle Hindernisse für die Zirkulation und die Akkumulation um und erschuf eine neue Ära erhöhter Profitraten (grosso modo in den 1990er Jahren und in der ersten Hälfte der 2000er Jahre). Die Finanzialisierung des Kapitalismus als ganzes war die neue Architektur, die neue Gestalt des Mechanismus zur Angleichung der Profitraten. Die Verhandlung des Preises der Arbeitskraft war nun nicht mehr Teil der Akkumulationsdynamik wie in der vorhergehenden Ära (Lohn-Produktivitäts-Deal). Indem es alles niederriss, was zur einer Starrheit der Krise der „Keynesianischen Periode“ geworden war, versuchte das Kapital, sich davon zu befreien, das Niveau der Reproduktion des Proletariats als Arbeitskraft aufrechtzuerhalten, es wurde immer mehr als blosser Aufwand betrachtet – die Lohnfrage ist asystemisch geworden. Im Kern des restrukturierten Kapitalismus befindet sich die Trennung der proletarischen Reproduktion von der Kapitalverwertung – innerhalb einer Dialektik zwischen unmittelbarer Integration (reelle Subsumtion) und Auflösung der Kreisläufe der Reproduktion des Kapitals und des Proletariats [4] – und die Prekarisierung dieser Reproduktion, welche, entgegen dem Hintergrund der steigenden organischen Zusammensetzung gesellschaftlichen Kapitals und der globalen reellen Subsumtion der Gesellschaft unter das Kapital, die Hervorbringung überschüssiger Arbeitskraft zu einem inhärenten Element des Lohnverhältnisses dieser Periode gemacht hat.
Die Restrukturierung zersetzte traditionelle Gemeinschaften der Arbeiterklasse und Arten des Zusammenseins (materielle Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft), ein Prozess, welcher in Grossbritannien Hand in Hand mit dem Abbau grosser Teile der Industrieproduktion und dem Zerfall der Hochburgen der Arbeiterklasse ging, welcher damit verbunden war. Die Tendenz ging in Richtung einer Veränderung der Arbeiterklasse von einem kollektiven Subjekt, welches der Bourgeoisie gegenübersteht, hin zu einer Summe von Proletariern, von welcher jeder individuell mit dem Kapital und allen anderen in Verbindung steht, ohne die Vermittlung der praktischen Erfahrung einer gemeinsamen Klassenidentität und ohne Arbeiterorganisationen, welche die Klasse als anerkannten Sozialpartner repräsentiert und akzeptiert, am kollektiven Verhandlungstisch teilzunehmen [5]. Diese Transformation wurde durch eine enorme Veränderung der Lohnarbeit verwirklicht (und verstärkte diese auch), welche in den 1980er Jahren begonnen hat: Veränderung der technischen Zusammensetzung des Kapitals und des Arbeitsprozesses, Verschiebung hin zu Dienstleistungen, Flexibilisierung und Intensivierung der Arbeit, Individualisierung von Anstellungsverträgen, Diskontinuität und Zerstreuung von Berufslaufbahnen und Zunahme von unterbezahlter, prekärer Arbeit vor dem Hintergrund einer Dauerarbeitslosigkeit.
Der Zersetzung der Arbeiterklasse bedeutete nicht ipso facto eine universelle Verarmung der Lohnarbeiter. Die kollektive Verhandlungsmacht vieler Arbeiter wurde durch die Fragmentierung der Dienstleistungen, Privatisierung und Untervergabe untergraben. Doch viele der übrig gebliebenen stabilen Teile der Arbeiterklasse (zu einem grossen Teil jene, welche immer noch gewerkschaftlich organisiert sind) konnten ihr Lohnniveau halten, während für viele Eigenheime auf Grundlage von Hypotheken und Konsumkredite eine Erhöhung des Lebensstandards bedeuteten. Gleichzeitig kamen neue lohnarbeitende Mittelschichten auf, welche einen Anspruch auf einen Teil des durch erhöhte Produktivität produzierten Wohlstands während der aufsteigenden Phase dieses Akkumulationszyklus erheben konnten, indem sie in anspruchsvollen Jobs hart arbeiteten und somit einen guten Zugang zu Krediten hatten. Die Mobilisierung günstiger Arbeitskraft in den neu industrialisierten Zonen in der „sich entwickelnden“ Welt (Globalisierung und globale Arbeitsteilung) erlaubte eine erhöhte Kaufkraft, nicht nur von Führungskräften, Managern und Beratern, sondern auch von Arbeitern, deren Reallöhne stagnierten oder fielen. Die Ideologie, welche die Individualisierung der Arbeiterklasse begleitete, war die Verherrlichung des Privateigentums und individueller Verantwortlichkeit für Erfolg oder Misserfolg: „Jeder kann es schaffen, wenn er nur hart genug arbeitet.“ Zudem sollten individuelle Arbeiter in ihre individuelle Arbeitskraft investieren, statt dass das Kapital (durch den Staat) in die Arbeiterklasse investiert.
Doch am unteren Ende der Leiter verlagert sich die Anstellung von traditionellen Berufen der Arbeiterklasse hin zu unqualifizierten Dienstleistungsanstellungen, die Aushöhlung organisierter Arbeit und die schleichende Auflösung der Wohlfahrt hin zu einem Sprungbrett in eine prekäre Anstellung haben die Verarmung einer beträchtlichen Anzahl von Proletariern verursacht, unter welchen nicht-weisse/nicht-britische Proletarier überproportional vertreten sind. Für sie hat die wirtschaftliche Restrukturierung zu unbeständigen Anstellungen in schlecht bezahlten Jobs geführt, und für viele bedeutete es eine Tendenz hin zu wirtschaftlicher Überflüssigkeit und gesellschaftlicher Marginalisierung. Die Verwaltung der Arbeitslosigkeit (welche nun als direkte Konsequenz einer inhärent präexistierenden „Unanstellbarkeit“ präsentiert wird) durch workfare zielt einerseits darauf ab, die Habenichtse in die peripheren Sektoren des Arbeitsmarkts zu drängen, womit die Grenzen zwischen Lohnarbeit und Stempelgeld verwischt, während die Löhne gleichzeitig nach unten gedrückt werden, und hatte andererseits den Effekt, den Markt für billige Waren neu zu erschaffen und dadurch auch die entsprechenden Jobs, von welchen man grösstenteils erwartete, dass die strukturellen Langzeitarbeitslosen sie anstreben. Die Polarisierung der Klassenstruktur war ein inhärenter Teil der Restrukturierung und der aufsteigenden Phase des restrukturierten Kapitalismus: Umverteilung des Wohlstands nach oben, eine scharfe Divergenz zwischen den Lebensstandards der unteren Schichten des Proletariats und der neu definierten Mittelschichten (ohne von der Bourgeoisie zu sprechen), wie auch zwischen verschiedenen Regionen eines Landes und verschiedenen Zonen einer gleichen Stadt, intensive Segmentierung und Gliederung des Proletariats. Das Einströmen von Frauen und Migranten in den Arbeitsmarkt wirkte beträchtlich an diesem Prozess mit.
Die Zersetzung der Arbeiterklasse und die Verarmung der unteren proletarischen Schichten ging Hand in Hand mit dem Neuentwurf der gesellschaftlichen Karte der Städte und der Bestrafung der Armut, der Entstehung des neuzeitlichen diffusen Ghettos, gleichbedeutend mit der räumlichen Bestimmung der neuen gefährlichen Klassen. Die gesamte gesellschaftliche Wohnstruktur wurde verändert, um zum Wohneigentum anzuregen (Politik der Kaufoption und simultane Reduzierung der Staatsausgaben für Wohnungen) [6]. Dies gab den besser gestellten Arbeitern die Chance, Hauseigentümer zu werden. Gleichzeitig war es ein höchst bedeutendes Werkzeug für die Ghettoisierung der Armen und der Verwandlung etlicher Sozialwohnungssiedlungen in „No-Go“-Zonen. Mit der Beschleunigung der Globalisierung, andauernder Migration, besonders aus ehemaligen Kolonien und Osteuropa, sind immer mehr Habenichtse in grosse Städte gekommen. Die neuen Wellen von Immigranten wurden normalerweise in gerade in jene Nachbarschaften gelenkt, in welchen Möglichkeiten und Ressourcen sich stetig verringerten, denn in diesen Zonen sind die Wohnungen billiger. In diesen Zonen konnten sie auch leichter in den informellen und unternehmerischen Sektoren der Wirtschaft Fuss fassen und von ihren nationalen oder ethnischen Gemeinschaften unterstützt werden. Diese Ghettoisierung, begleitet von einer ganzen Palette von „gesellschaftlichen und gemeinschaftlichen Dienstleistungen“/Mitteln der Überwachung würde entweder dazu führen, die Habenichtse „nützlich“ zu machen, indem sie auf die Schiene unqualifizierter Anstellung gelenkt oder in zerfallenen Quartieren eingepfercht werden [7]. Die Gentrifizierung verstärkte die gesellschaftliche und räumliche Polarisierung der Städte, denn der Boden in vielen Stadtzentren, besonders in London, war zu wertvoll, um ihn den Armen zu überlassen (in London begann die Prozesse der Gentrifizierung mit der Erneuerung des Hafenviertels und dem afro-karibischen Quartier Notting Hill Anfang der 1980er Jahre und breitete sich danach in etlichen anderen Zonen während den 1990er und 2000er Jahren aus). Sie hat diese Zonen schnell verwandelt und lokale Gemeinschaften der Arbeiterklassen weiter zersetzt. Einwohner mit tiefen Einkommen wurden nicht nur verdrängt oder durch happige Mieterhöhungen in zerfallene Gebäude verdrängt, sondern die etlichen Vertreibungen von Läden mit Kundschaft aus der Arbeiterklasse, die Überwachung dieser Zonen, um den Strassenleben Einhalt zu gebieten, kombiniert mit den verringerten Ausgaben für Sozialwohnungen, haben ein Niveau der Klassensäuberung erreicht [8]. In den historisch gesellschaftlich und ethnisch gemischten britischen Städten haben diese Prozesse den charakteristisch zerstreuten und diffusen Charakter britischer Ghettos geformt.
Die Tendenz, welfare mit dem Zwang zu workfare zu ersetzen, und die Exzesse des Polizei-/Überwachungsstaats sind zwei komplementäre Entwicklungen. Die Nützlichkeit des Bestrafungsapparats in der Ära von workfare und Prekarisierung ist einerseits, dass sich widerspenstige Teile der Arbeiterklasse der Disziplin der neuen fragmentierten Dienstleistungslohnarbeit beugen, indem die Kosten für den Ausstieg in die informelle Wirtschaft auf der Strasse erhöht werden, andererseits, dass jene eingepfercht und kontrolliert werden, welche durch die Transformation des Arbeitsmarkts überflüssig geworden sind. Die Einführung und die kontinuierliche Verfeinerung von disziplinären workfare-Programmen, welche auf Arbeitslose, Arme, alleinerziehende Mütter, Behinderte und andere „Staatsgeldbezüger“ angewendet werden, und die Entwicklung eines erweiterten Polizei- und Bestrafungsnetzes quer durch die Stadt sind zwei Komponenten eines einzigen Apparats zur Verwaltung der Armut. Gleichzeitig sollen die traditionellen Geschäfte, Einkaufs- und Unterhaltungsquartiere und die neu gentrifizierten Zonen schick bleiben und nicht von der unerwünschten Präsenz der gefährlichen Klassen verdorben werden. In den letzten Jahrzehnten gab es etliche neue Gesetze, sowie bürokratische und technologische Innovationen: Kriminalitätsbeobachtungsgruppen und freiwillige Gemeinschaftspolizeioffiziere; Partnerschaften zwischen der Polizei und anderen öffentlichen Diensten (Schulen, Spitäler, Sozialarbeiter usw.); beschleunigte juristische Prozesse; Polizeikontrollen auf der Strasse [9]; Videoüberwachungskameras und digitale Kartographien der Straftaten; Vergrösserung und technologische Modernisierung der Gefängnisse; Vermehrung von spezialisierten Gefangenenlagern [10]. Auf ideologischer Ebene wurde ein bestrafender Ansatz gegenüber gesellschaftlichen Verhaltensweisen gefördert und neue gesellschaftliche Typen kamen auf: „barbarische Jugend“, „Randständige“ und „Chaoten“. Am Anfang dieser Entwicklung endete die bestrafende Verwaltung der Armut in einem Ausbruch einer kleinen Welle von Ausschreitungen in sozial benachteiligten Stadtzonen Anfang der 1990er Jahre (wie in Bristol 1992), welche sich in Form von sporadischen, konfliktreichen Zwischenfällen zwischen den gefährlichen Klassen und der Polizei über die Jahre fortsetzte (die bedeutendsten Zwischenfälle waren die ethnischen Ausschreitungen in Bradford und Leeds 2001); genau diese Tendenz wurde durch die Tatsache verstärkt, dass diese Konflikte als Aspekte von „antisozialem Verhalten“ [11] verwaltet wurden.
Im Wirbelsturm der Krise: Lumpenproletarisierung des Lohnverhältnisses
Die Konstruktion der gefährlichen Klassen im diffusen britischen Ghetto, deren Reproduktionsmodalität jene des einschliessenden Ausschlusses war (der Übergang von Arbeitskraft zu variablem Kapital, oder, in anderen Worten, von der Tatsache ein Proletarier zur Tatsache ein Arbeiter zu sein, als problematisch hervorgebracht), war ein inhärentes Element der Trennung von Verwertung und proletarischer Reproduktion in der Entwicklung des restrukturierten Kapitalismus, die Kehrseite der gesteigerten Profitabilität und der Erschaffung neuer Mittelschichten aus der sich auflösenden traditionellen Arbeiterklasse. Das Resultat der Restrukturierung war eine akzentuierte gesellschaftliche Polarisierung. Einerseits genossen viele eine bedeutende gesellschaftliche Mobilität, innerhalb dem immer flexibleren und kompetitiveren Arbeitsmarkt, hauptsächlich durch das modernisierte Bildungssystem, und waren fähig, sich an einem relativ guten Einkommen von einem Job im Dienstleistungssektor und an einfachem Zugang zu Kredit zu erfreuen. Andererseits kommt die steigende Anzahl urbaner Armer meistens durch eine Mischung schlecht bezahlter Scheissjobs und informeller Wirtschaft (etliche Handelstätigkeiten, Kleinkriminalität, lokale Gangs), berufliche Fortbildung, Darlehen und das zusammenschrumpfende, aber immer noch existierende Sozialsystem über die Runden. In diesem Kontext erhält die Weiterbildung die Perspektive eines sicheren Überlebens auf der Basis von Lohnarbeit aufrecht, während einige hoffen können, aus der Scheisse herauszukommen, indem sie hart arbeiten, um einen Platz im höheren Bildungssystem zu finden (eine Hoffnung, die sich nach der Einführung der Universitätsgebühren 1998 und deren Erhöhung 2004 [12] immer mehr entfernte). Doch es gibt keinen gesunden, ausgeglichenen Zustand, keine „normale“, voll funktionierende Lage im Kern der kapitalistischen Gesellschaft. Die Widersprüche des restrukturierten Kapitalismus explodierten weltweit 2007. Um die Unruhen im August in ihrer historischen Besonderheit zu verstehen, kommen wir nicht am Wendepunkt vorbei, welcher der Ausbruch der kapitalistischen Krise darstellt. Die Ausschreitungen letzten Sommer waren nicht einfach die Wiederholung auf breiterer Ebene des Musters der Ghettoausschreitungen, welche dieses Land in den 1990er Jahren und Anfang der 2000er Jahren heimsuchten.
Die kapitalistische Krise, welche als Immobilienblase und als Einbruch im Immobiliensektor 2008 begonnen hat, hat sich in eine globale Rezession und eine ernste Staatsschuldenkrise verwandelt, ohne jeglichen Hinweis für einen bevorstehenden Aufschwung am Horizont. Auf strategischer Ebene kämpft die Bourgeoisie – mit all ihren internen Konflikten – für den Erhalt des gegenwärtigen (hoch finanzialisierten) Modus der globalen Akkumulation, indem sie die Kerndynamiken des restrukturierten Kapitalismus selbst mit dem Ziel beschleunigt, die Mehrwertquote zu erhöhen. Die Krise der Überakkumulation, welche in abstrakten Begriffen bedeutet, dass es gleichzeitig zu viele Arbeiter und zu viele Fabriken gibt, ist gleichzeitig eine Krise der proletarischen Reproduktion. Natürlich ist jede kapitalistische Krise eine Krise der Reproduktion der Arbeitskraft, doch die historische Neuheit dieser Krise ist die Tatsache, dass die Lohnforderung schon im der vorhergehenden Periode des Aufschwungs asystemisch geworden war. Die Bemühung, die Ausbeutungsquote zu erhöhen, bezüglich welcher es höchst zweifelhaft ist, ob sie die Produktion eines angemessenen Mehrwerts ohne massive Entwertung von Kapital zurückbringen kann, beschleunigt alle widersprüchlichen Dynamiken des restrukturierten Kapitalismus, die selben Dynamiken, welche die gegenwärtige Krise zum Resultat hatten. Die Unruhen im August brachen innerhalb dieses Wirbelsturms aus: Es war eine konkrete Manifestation in Aktion der Krise der proletarischen Reproduktion, versinnbildlicht in der besonderen Situation der Protagonisten: „Es ist sicher ein Zufall, dass diese besonderen paar Tage gleichzeitig von den Ausschreitungen, der Senkung der US-amerikanischen Bonitätsnote und ernsten Unruhen an der Börse geprägt waren. Doch es ist nicht nebensächlich.“ [13]
Vor dem Hintergrund der Bedingungen der Rezession mit schrumpfendem Arbeitsmarkt, zunehmend überflüssigen Arbeitern, jäher Zunahme der Arbeitslosigkeit, eifriger Prekarisierung der Anstellungsverträge und schleichendem Anstieg der Preise von Bedarfsgütern und (besonders im Zentrum Londons) der Mieten war der Übergang in die Phase der Krise geprägt von einer Intensivierung des Angriffs gegen den Lohn aufgrund des Sparkurses [14]. Für die neue Generation der unteren Schichten des Proletariats bedeutet das eine fast komplette Verneinung von Zukunft im eigentlichen Sinn. Schon ein Jahr vor den Ausschreitungen betrug die offizielle Jugendarbeitslosenquote 20.3%, das ist die höchst gemessene Quote seit die Messungen 1992 begannen [15]. Darüber hinaus hat der starke Anstieg der Studiengebühren und die Abschaffung der Stipendien 2010 [16], zusammen mit weiteren Sparmassnahmen in den sozialen Diensten (Jugendhäuser, Gemeinschaftszentren und lokale Gesundheitsdienstleistungen) und die Wiedereinführung von workfare (z.B. obligatorische Massnahmen zum Erwerb von Arbeitserfahrung – was unbezahlte Arbeit bedeutet – damit man Zuschuss für Stellensuchende bekommt) dazu geführt, dass sich die Jugendlichen von den Vorortsquartieren noch weiter vom offiziellen Arbeitsmarkt entfernen, immer mehr in Richtung der höchst riskanten Aktivitäten des informellen Sektors.
In den Unruhen im August zeigten sich alle Widersprüche des einschliessenden Ausschlusses in Form des Ghettos – in der Besonderheit seiner Entstehung im britischen Kontext, nämlich sein diffuser Charakter –, welche explodierten: der Widerspruch zwischen den Kürzungen der Sozialhilfe und dem Übergang zu workfare und der Notwendigkeit, die überflüssige Arbeitskraft einzupferchen und zu verwalten und die Arbeitslosenquoten zu kontrollieren, zwischen einem höchst flexiblen Arbeitsmarkt mit seinem unbeschränkten Fluss von Arbeitskraft (unter dem Banner des Multikulturalismus und der Chancengleichheit) und der bestrafenden Verwaltung der Armut, zwischen Konsum als Ausweis für das Menschsein und dem Ausschluss vom Konsum, zwischen Aufwertung (Gentrifizierung) und Verfall. Und all diese Widersprüche explodierten genau gegenüber der radikalen Affirmation des einschliessenden Ausschlusses und der Prekarisierung während der Entfaltung der Krise. Damit brachten die Unruhen im August das Ghetto als Ghetto in Krise hervor, ein spezifisches Beispiel für die Krise der proletarischen Reproduktion.
Die Krise der proletarischen Reproduktion ist nicht nur eine Krise der Reproduktion des marginalisierten Proletariats. Es ist eine Krise der Reproduktion des Proletariats als ganzes. Sie bedeutet gleichzeitig Druck und steigende Unsicherheit für die stabileren Arbeiter (wie es sich in sporadischen industriellen Konflikten in den letzten Jahren zeigte) und auch eine Krise für die Mittelschicht. Die Studentenbewegung Ende 2010 und das Wiederaufkommen von Ausschreitungen in der Innenstadt Londons, das sie begleitete, machte die Reproduktionskrise der künftigen Mittelschicht innerhalb der Entwicklung der kapitalistischen Krise deutlich. Die temporäre Affinität zwischen der Studentenbewegung und den Unruhen im August, sowie der Einfall von auf Konfrontationen mit der Polizei und Sachbeschädigung vorbereiteten Studenten in die Gewerkschaftsdemonstration im März 2011 zeigte klar, dass die Jugend als Subjekt der Revolte erscheint, insofern dass die Krise allen voran jene betrifft, welche in den Arbeitsmarkt eintreten, den Modalitäten ihres Eintritts entsprechend [17] (es ist hauptsächlich die Zukunft, welche durch die Krise blockiert wird). Die Präsenz von Schülern aus „den Slums von London“ innerhalb der Studentenbewegung erzeugte, obwohl es eine Randerscheinung war, einen inneren Widerspruch, welcher sich in einigen Fällen in Konfrontationen zwischen Schülern und Studenten oder Aktivisten manifestierte. Sie machte aus dem Inhalt selbst der Bewegung (die Verteidigung des Rechts auf höhere Bildung) eine Unsinnigkeit, in dem Sinn, dass sie auf der Grundlage ihrer Forderung sich über die Universität hinaus ausbreiten wollte (Ausbreitung war notwendig, um den Kampf zu gewinnen), doch diese Ausbreitung selbst (wie sie sich in der Beteiligung von Schülern manifestierte) untergrub die Kernforderung [18]. Diese innere Dichotomie zwischen Studenten und Schülern innerhalb der Studentenbewegung und deren spätere inhaltliche Distanz von den Unruhen im August widerspiegelt den differenzierten Charakter der Krise der proletarischen Reproduktion.
Die Krise des Ghettos, wie sie sich in den Unruhen im August zeigte, fasst die Krise der proletarischen Reproduktion schlechthin zusammen, denn die gefährlichen Klassen repräsentieren schlechthin das, was für das Proletariat im breiten Sinn als Dynamik universell geworden ist: Die weltweite Prekarisierung der Arbeitskraft (die Utopie des Kapitals, sich der Arbeit zu entledigen, welche ein definierendes Element der Reproduktion des Klassenwiderspruchs innerhalb des restrukturierten Kapitalismus und seiner Krise ist). Die gefährlichen Klassen des 21. Jahrhunderts entsprechen nicht dem traditionell definierten Lumpenproletariat [19], welches, als permanente Randzone der Reservearmee der Arbeit, in seiner eigenen Welt lebte und somit von Anfang an das „Äussere“ des zentralen kapitalistischen Verhältnisses repräsentierte. Das neue „Lumpenproletariat“ (die neuen gefährlichen Klassen) dringt in die Normalität des Lohnverhältnisses ein, eben genau, weil das „normale“ Proletariat lumpenproletarisiert wird. Die Krise verursacht eine plötzliche Verarmung von vielen Arbeitern (wie es in der ganzen westlichen Welt der Fall ist), dazu kommt die Belastung der gestiegenen Arbeitslosigkeit/zeitweiliger Arbeitslosigkeit und Schulden (Kredite, welche sie nun nicht mehr zurückzahlen können, was verschlimmert wird durch die Tatsache, dass jene, welche Hypotheken haben, nicht immer Unterstützungsleistungen anfordern können, um die Wohnkosten zu decken) oder der Einschränkung des Zugangs zu Krediten. Sie bringt allerdings erst recht die verstärkte Lumpenproletarisierung des Proletariats selbst hervor – eine Lumpenproletarisierung, welche nicht als aussen liegend im Verhältnis zur Lohnarbeit erscheint, sondern als ihr definierendes Element. Einschluss tendiert immer häufiger durch Ausschluss zu erfolgen, besonders für die Jungen. Es ist eine Dynamik, eine kontinuierlich erneuerte Bewegung. Es geht nicht nur um den Ausschluss vom Arbeitsmarkt, welcher wohl viele betrifft, sondern auch um den Ausschluss von all dem, was als „normale“ Arbeit, „normalen“ Lohn, „normale“ Existenz betrachtet wird [20].
Die Tatsache, dass die Krise des Ghettos der Inbegriff der Krise der proletarischen Reproduktion schlechthin ist, bedeutet nicht, dass das Proletariat ghettoisiert wird. Die Hervorbringung der Revolution ist nicht eine Frage absoluter Verelendung. Die Krise der proletarischen Reproduktion ist differenziert, was bedeutet, dass es eine Krise der Reproduktion von jedem Teil des Proletariats ist, abhängig von den Modalitäten seiner Reproduktion, und gleichzeitig eine Krise der Gliederung innerhalb des Proletariats. Letztere ist sehr wichtig, denn diese Gliederung ist ein höchst notwendiges Element der Reproduktion des restrukturierten Kapitalismus. Die Karriereleiter ist nicht nur blockiert, sondern jeder wird nach unten gedrückt. Daraus resultiert, dass jeder Teil versucht, Barrikaden zu errichten, um seine Stellung zu beschützen und seinen Fall zu verhindern. Das gilt umso stärker, je näher an der Spitze. Die Krise der Gliederung des Proletariats verschärft alle inneren Widersprüche und Konflikte. Das Lohnverhältnis ist freilich zunehmend lumpenproletarisiert, doch in diesem Kontext wird die Tatsache, ein Lohnarbeiter zu bleiben und als solcher zu überleben immer mehr zu einer dringenden Angelegenheit. In diesem Kontext wurden die Praktiken der Aufständischen im August gleichzeitig, da sie inhärent von ihrer besonderen Situation abhängen, – eben genau wegen der Stellung dieser besonderen Situation innerhalb der Reproduktion des Klassenwiderspruchs – als innere Distanz, als Diskrepanz innerhalb dem notwendigerweise vorherrschenden Anteil von Klassenkämpfen heute hervorgebracht, nämlich der Lohnforderung (Handeln als Klasse).
Die Gemeinschaft ist erledigt
Der grosse Unterschied zwischen letztem August und den Ausschreitungen in den 1980er Jahren war, dass letztere eine „affirmative“ Dimension hatten – sie konnten der explosive Ausdruck einer Bewegung zur Beendigung rassistischer Diskriminierung, der Gesetze zu „verdächtigen Personen“, Personenkontrollen sein – d.h. eine Bewegung für eine gewisse Integration. Im Jahr 2011 war dies nicht der Fall; es gab keine schwarzen Gemeinschaften, welche für Integration kämpften. Die Ausschreitungen in den 1980er Jahren konnten im Rahmen des Anfangs der Restrukturierung und der Niederlage der Klasse betrachtet werden, Thatcher, welche die Drucker oder Minenarbeiter angreift und besiegt, doch diese Niederlage wurde damals vielleicht nicht als unvermeidlich betrachtet. Im Gegensatz dazu waren 2011 jegliche integrativen Forderungen umso mehr illegitim. Heutzutage kann man nicht (auch nicht mit Gewalt) „fordern“, als „gewöhnlicher Proletarier“ behandelt zu werden, denn das wurde von der Krise des restrukturierten Kapitalismus weggefegt [21]. Zusammen mit diesem Horizont wurde die Affirmation der Gemeinschaft der Arbeiterklasse als Epizentrum der proletarischen Neuformierung obsolet und als obsolet erkannt.
Die Gemeinschaft der Arbeiterklasse war nie ein Aufruf zur Einheit, sondern die tatsächliche räumlich-zeitliche Wirklichkeit der proletarischen Reproduktion ausserhalb des Arbeitsplatzes (doch eng mit ihm verbunden, mit der Fabrik als Prototypen), durchdrungen von Solidaritätsverhältnissen und gemeinsamen Klasseninteressen. Die Geschichte dieser Gemeinschaft in Grossbritannien geht zurück auf die mächtigen lokalen Gemeinschaften der Arbeiterklasse, welche sich normalerweise im Umfeld der Industriezonen ausbreiteten. Die Gemeinschaft der Arbeiterklasse war nie die Offenbarung einer Essenz, sondern die Konkretisierung einer besonderen historischen Existenz des Klassenverhältnisses, als die Klasse für sich als übermässiges Wachstum der Klasse an sich hervorgebracht wurde. In diesem Sinn war die Gemeinschaft der Arbeiterklasse in gleichem Masse Trennung und Einheit, ihre Kohäsion war eine besondere Modalität der proletarischen Reproduktion, welche von einer zentralen Figur gewährleistet wurde, vom weissen, männlichen und qualifizierten Arbeiter am Anfang und vom weissen, männlichen Massenarbeiter danach – Klassenbewusstsein war der Horizont der Überwindung der Trennungen (Gender, Ethnie, Sektoren, Qualifikation, Herkunft usw.), der Horizont einer universellen Gleichheit, selbst hervorgebracht als unmöglich innerhalb der Unmöglichkeit einer Revolution als Affirmation der Klasse. Durch die grossen Migrationswellen von den westindischen Inseln in den 1940er und 1950er Jahren und von anderen Gebieten des Commonwealth in den darauf folgenden Jahren entstanden verschiedene lokale ethnische Minderheitsgemeinschaften – wovon auch neue arme Ladenbesitzer Teil waren (siehe die verschiedenen lokalen Läden und Märkte als Orte gemeinschaftlichen Zusammenseins) – basierend auf einer gemeinsamen Kultur, Sprache, gemeinsamen Traditionen und Geschichten, welche ein schützendes soziales Netzwerk im neuen „Heimatland“ zur Verfügung stellten. Solche proletarischen Gemeinschaften blieben bis in die 1980er Jahre bedeutende Reproduktions- und Kampfräume, offensichtlich in der Rolle, welche sie in den schwarzen urbanen Ausschreitungen und im Minenarbeiterstreik spielten.
Lokale Gemeinschaften als Räume von konkreten Alltagsbeziehungen haben sich aufgelöst, zusammen mit der Auflösung der Identität der Arbeiterklasse, aufgrund der Dynamiken der Restrukturierung. Man findet immer weniger das Gefühl der Zugehörigkeit, des Anschlusses, gemeinsame Beziehungen und Klassensolidarität in lokalen Gemeinschaften, auch wenn dieser Prozess in den (von Gentrifizierung durchdrungenen) Ghettos ungleichmässig war. Tatsächlich haben sich weisse und in grossem Ausmass afro-karibische Gemeinschaften der Arbeiterklasse schneller aufgelöst, während Gemeinschaften von anderen ethnischen Minderheiten (z.B. türkische, kurdische oder asiatische) dieser Auflösung eher widerstehen konnten. Ethnische Netzwerke sind ein wichtiger bestimmender Faktor für die Arten des Überlebens der verschiedenen Fraktionen des Proletariats, welche aus dem Ausland kommen – Zugang zu Jobs, Religion, mafiöses Kreditsystem – und das widerspiegelt sich zum Beispiel in der Zusammensetzung der kleinbürgerlichen Elemente oder der lokalen Gangs in etlichen Quartieren. Doch auch in diesem Fall repräsentieren die lokalen Gemeinschaften nicht tatsächlich einigende Räume proletarischer Reproduktion und Kämpfe, Orte einer affirmativen Selbstidentifikation der Proletarier untereinander. Man kann wahrscheinlich sagen, dass die neue Bedeutung des Kollektivs der sozial benachteiligten Zonen die kollektive Erfahrung von Zerfall und Niedergang ist. Gleichzeitig wurde der Begriff selbst „der Gemeinschaften“ immer mehr in den politischen/ideologischen Diskurs des Staats integriert, um sich auf Verwaltungs-/behördliche Apparate – partizipative Entscheidungsfindung, lokale Stellenvermittlungen und Ausbildungsprogramme, kulturelle Gruppierungen usw. – und Wahlbüros zu beziehen.
Die Unruhen im August waren also kein Fall von gemeinsamer proletarischer Verbundenheit (oder gemeinsamer ethnischer Verbundenheit), welche den Hintergrund eines proletarischen Subjekts im Kampf liefert und, in Form seiner Affirmation, den Inhalt des Kampfs. Man soll uns nicht missverstehen; anscheinend gab es Momente der Solidarität auf einer lokalen/gemeinschaftlichen Ebene während den Ausschreitungen. Dies bestätigt allerdings bloss die Tatsache, dass das Kapital seine Utopie, alle Formen gesellschaftlichen Umgangs in reine Beziehungen zwischen Waren zu verwandeln, nie verwirklichen kann. Was jedoch bedeutend ist, ist die Tatsache, dass die Aufständischen den Sinn und Zweck ihrer Handlungen nicht in der Affirmation ihrer Zugehörigkeit zu einer lokalen Gemeinschaft und somit in der Affirmation ihrer Klassenzugehörigkeit sahen. Es ist bezeichnend, dass sich die Unruhen schnell von einer Zone zur nächsten ausbreiteten, nicht wie während den Ausschreitungen in den 1980er Jahren, wo es darum ging in den Kämpfen, eine besondere Zone gegen die Polizei zu verteidigen, was gleichbedeutend war mit der Verteidigung der lokalen Gemeinschaft, dem „Wir“ als definierendes Element einer affirmativen Bewegung gegen rassistische Diskriminierung und polizeiliche Repression.
Jedes Mal, wenn es einen Versuch gab, die gemeinsame Zugehörigkeit zu einer lokalen Gemeinschaft, während oder nach den Unruhen im August, zu bestätigen, widersprach dies dem Inhalt selbst der Unruhen. Der Begriff der lokalen Gemeinschaften war einerseits Teil der repressiven Sprache des Staates, welche auf das objektive Unbehagen der Mittelklassen und des Kleinbürgertums abzielt, diese fühlten sich vom Staat im Stich gelassen aufgrund der kurz dauernden Unfähigkeit seines repressiven Apparats, Eigentum zu schützen. Andererseits war er Teil der politischen Sprache vieler Aktivisten (Bürgervereinigungen, linke und anarchistische Gruppen), welche darauf abzielte, die krampfhafte Entfaltung der Unruhen abzustumpfen und sie in eine politisch sinnvolle Strategie für gesellschaftliche Veränderung zu verwandeln [22].
Dies war keine Bewegung
In den Unruhen im August gab es nichts in der Situation der Protagonisten, das es wert gewesen wäre, verteidigt zu werden: Nachbarschaft, Ansässigkeit, Gemeinschaft, Ethnie kamen alle als Aspekte der Reproduktion des Kapitals ans Tageslicht, welche diese Proletarier als derzeitige Arme hervorbringt: Ihre Klassenzugehörigkeit wurde zu einem äusseren Zwang, einem immer dringenderen Imperativ der Disziplin, der Unterordnung und der Akzeptanz von Misshandlung ohne im Gegenzug eine Garantie für ein akzeptables Überleben zu haben. Die Sprache der Ausschreitungen war nicht die positive Sprache der „Bewegung“, gesellschaftlicher Veränderung, der Forderungen [23] oder der Politik, sondern die negative Sprache des Vandalismus. Was geschah, war viel Zerstörung, nichts wurde aufgebaut, keine Pläne, keine Strategien. Die Unruhen waren ein „fickt euch alle“ an die „respektable Gesellschaft“. Eben diese Dynamik der Unruhen, inhärent mit der Stellung in der spezifischen Situation ihrer Protagonisten innerhalb der Reproduktion des Klassenwiderspruchs verbunden, war gleichzeitig ihre Grenze, welche sich im Mangel jeglicher Perspektive der Verallgemeinerung [24] offenbarte und jeder ihrer Praktiken innewohnte.
Bewährungsbehörden, Gerichte und Arbeitsvermittlungsstellen wurden als Symbole der bestrafenden Verwaltung der Armut angegriffen. Teure Autos, Restaurants und kommerzielles Eigentum wurden zerstört, weil sie einen unzugänglichen Wohlstand repräsentieren. Die Fenster von Immobilienagenturen wurden zerstört, weil sie unbezahlbare Mieten in Zonen der Gentrifizierung repräsentieren. Pfandleihanstalten wurden zerstört als „jene Schweine, welche zwanzig Pfund verlangen, um einen Wohnungszuschusscheck einzulösen“. Die unbestreitbare Grenze dieser Art zerstörerischer Tätigkeit war die Tatsache, dass sie keineswegs eine Tätigkeit tatsächlicher Negation sein kann, d.h. die Beseitigung der gesellschaftlichen Verhältnisse, welche in Wirklichkeit aufrechterhalten, was angegriffen wurde.
Durch das Erschiessen von Mark Duggan und die Angriffe gegen die Polizisten, welche darauf folgten, wurde die Polizei als letztes Wort der Selbstvoraussetzung des Kapitals ans Tageslicht gebracht, sie ist für die Protagonisten der Unruhen der Garant ihrer spezifischen Reproduktionsmodalität (einschliessender Ausschluss), ein Feind an sich, insofern, dass das Moment der Repression innerhalb der Reproduktion des Klassenwiderspruchs immer zentraler wird (die Rolle der Polizei selbst, die nicht gesetzestreue Reproduktion des Proletariats zu verhindern). Genau wegen diesem spezifischen Verhältnis der gefährlichen Klassen mit der Polizei tendierte die Fokussierung auf die Polizei als Feind an sich dazu, das Moment der Repression innerhalb der Selbstvoraussetzung des Kapitals mit dem Ausbeutungsverhältnis selbst zu ersetzen. Das macht etwas zu einem Ausgangspunkt, das nur ein Resultat ist. Indem die Polizei als Feind an sich enthüllt wird, wird die Tatsache vernebelt, dass sie nur die Bourgeoisie in Kampfstellung ist.
Plündern war zweifellos die vorherrschende Praxis und der ungeheurlichste Skandal während den Unruhen. Das Ausmass der Plünderungen mit etwa 2500 geplünderten Läden macht die Unruhen im August zu etwas besonderem. In all seinen Manifestationen – Aneignung von teuren Gütern (z.B. Unterhaltungselektronik und Schmuck) hauptsächlich zum Weiterverkauf; Plünderung von Kleiderläden, Supermärkten und anderen Läden der Haupteinkaufstrasse zum „persönlichen“ Gebrauch; Stürmung von Buchhaltern und Pfandleihanstalten für Geld; oder Aneignung von Billiggütern wie Zigaretten, Wasser und Alkohol, um es unter Gleichen in der Strasse zu teilen – war das Plündern eine praktische Infragestellung der Begriffe des einschliessenden Auschlusses. In keinem Fall wurden Schaufenster als blosse symbolische Handlung zerstört. Die Leute wollten nicht einfach „eine Botschaft vermitteln“, sondern sich das Zeug nehmen, das sie brauchten, oder Geld, um sich Zeug zu kaufen. Vor dem Hintergrund der Abwesenheit von Forderungen beanspruchten die Aufständischen jenen Lebensunterhalt, von welchem sie ausgeschlossen sind, und eigneten sich ihn wieder an und das war ihr Hauptziel. Die Aneignung von Gütern oder Geld war eine flüchtige praktische Kritik der Warenform, denn diese Proletarier nahmen sich offensiv, was sie brauchen, von dessen Erwerb sie jedoch objektiv ausgeschlossen sind, und in dieser Hinsicht war der Akt des Plünderns genauso wichtig wie die Beute [25].
Durch die Aneignung von Gütern stellten die Aufständischen vorübergehend die Warenform in Frage, doch nur auf der Ebene des Tausches, denn diese war der Bereich ihrer Revolte. Ihre Praktiken konnten definitionsgemäss die Warenform nicht an der Stelle ihres Ursprungs in Frage stellen, der Sphäre der Produktion. Es konnte nur mit der Affirmation des Tausches selbst enden, indem die angeeigneten Güter weiterverkauft wurden, oder mit der Aneignung von Geld, der Wertform schlechthin. Indem man Plünderungen so versteht, räumt man auf mit einem frustrierenden moralischen Diskurs, der nach den Ausschreitungen unter Aktivisten aufkam, welche immer versuchen, Proletarier mit Klassenbewusstsein zu begiessen, ein Diskurs, der letztendlich auf der gleichen Seite steht wie der repressive Monolog des Staates. Relativ viele protestierten gegen das, was als individuelle Verhaltensweise wahrgenommen wurde, ein Symptom der sogenannten Entartungen der Klasse durch Konsumdenken, sagten, dass „sie kein Recht haben, das zu tun, so protestiert man nicht“. Wie jemand so schön sagte: Natürlich hatten sie kein Recht das zu tun und aus diesem Grund war es auch kein Protest [26]. Diese moralische Kritik in Bestform würde die Aneignung von Billiggütern entschuldigen (Zeug, das die Leute „wirklich brauchen“), doch Aneignung von Zeug, das als luxuriös betrachtet wird, oder von Geld selbst verurteilen, was suggeriert, dass gesellschaftlich marginalisierte Proletarier nur nach Gütern trachten sollten, die ihrer Randstellung entsprechen. Plündern als praktische Kritik der Warenform auf der Ebene des Tausches ist nicht gleichbedeutend mit der Überwindung der Warenform. Um Plünderungen zu Verkaufszwecken zu überwinden, braucht es eine tiefgehende Infragestellung der Existenz des Tausches in einem verallgemeinerten Kampf für die Kommunisierung. Solange Tausch die einzige Möglichkeit darstellt, sich selbst zu reproduzieren, kann nichts anderes als individueller Konsum und Weiterverkauf als Hauptziel der Aneignung von Gütern erwartet werden. Dies ist weder erfreulich, noch bedauerlich, es ist einfach so.
Die „Gang“ bot in all ihrer Fluidität und Kurzlebigkeit die elementare Organisationsform während den Unruhen, nicht nur im Sinne der Teilnahme von Gangs im eigentlichen Sinne, sondern hauptsächlich als informelle Gruppierungen in der Strasse, welche ihre Ursache in den Beziehungen zwischen Arbeits- und Schulkollegen haben, meistens auf der Grundlage nachbarschaftlicher Nähe oder zufällig formiert auf der Strasse, um besondere Aktionen auszuführen und sich kurz darauf aufzulösen. Doch man sollte nicht vergessen, dass Kleinkriminalität und Gangaktivität eine bedeutende Rolle für viele Jugendliche im Ghetto spielen, um über die Runden zu kommen. Die Beteiligung von tatsächlichen Jugendgangs in den Ausschreitungen, obwohl sie marginal war [27], stellte die Funktion der Gang als Geschäftsorganisation in Frage, denn die Verbreitung von Kriminalität in Form von Angriffen gegen Privateigentum war eine Infragestellung der Gangaktivität als organisiertes Verbrechen. Weil der Hauptzweck einer Gang ist, durch Drogenverkauf Geld zu verdienen, sind Ausschreitungen das letzte, das sie wollen. Man kann während Ausschreitungen keine Drogen verkaufen, denn es stehen überall Polizisten. Für die jüngeren Mitglieder, welche durch Drogenverkauf einige Zehner pro Tag verdienen, war die Teilnahme an den Plünderungen ziemlich attraktiv, während für die Anführer der Aufstand und die allgegenwärtige Polizeipräsenz die wirklich attraktive Aktivität verhinderte, den Drogenhandel. Die vorübergehende Infragestellung der Funktion der Gangs als Geschäftsorganisationen widerspiegelte sich in der Tatsache, dass sie während vier Nächten im August die gewöhnlichen Feindseligkeiten aussetzten, um sich auf gemeinsame Aktionen zu konzentrieren. Strikte territoriale Teilungen, welche junge Leute daran hindert, in „feindliche Zonen“ – manchmal durch die Postleitzahl definiert – zu gelangen, wurden vorübergehend vergessen. Doch obwohl die Beteiligung von Gangmitgliedern in den Unruhen eine Dichotomie kreierte zwischen der Gang als Zugehörigkeitsgruppe (alltägliche Beziehungen der Unterstützung, der Polizei und „dem System“ feindlich gesinnte Mikroidentitäten – obwohl stark durch Mackertum, aggressiver Männlichkeit und häufig völliger Idiotie vermittelt) und der Gang als Geschäftsorganisation, wurde letztere natürlich wieder bestätigt durch die Affirmation des Tausches als Grenze des Plünderns (scheinbar wurden Kanäle der Gangs für den Weiterverkauf von geplünderten Gütern genutzt) und mit dem Abklingen der Unruhen verwandelte sich eine wahrgenommene kollektive Kraft wieder in „business as usual“, ohne irgendwelche andauernde Verbundenheit zu hinterlassen.
Das „Wir“ der Ausschreitungen im August war ein flüchtiges und unbeständiges „Wir“, in den Aktionen von den beteiligten Proletariern kreiert, anfänglich definiert durch den Akt des Erschiessens von Mark Duggan durch die Polizei als Höhepunkt einer andauernden Erfahrung von militärischem Urbanismus, welches sich danach auflöste, sobald die Schockwellen der Unruhen abklangen. Es gab keine organisatorische Kontinuität und keine Aussicht auf den Aufbau einer Bewegung. Indem sie ihre Klassenzugehörigkeit als äusseren Zwang, als Horizont des Kapitals deutlich machten, gerieten die Protagonisten der Unruhen in Konflikt mit der Gesellschaft selbst, welche reell durch das Kapital subsumiert worden ist und nur noch die kapitalistische Gesellschaft ist. Dies war der antisoziale Charakter der Unruhen. Sie beteiligten sich an einer krampfhaften Aktivität mit einem Fristende und Pläne und Strategien, Fragen der Expansion, das Knüpfen von Kontakten oder die Einbeziehung „des Volks“ waren – in der radikalen Abwesenheit von Politik – überhaupt kein Thema. Wer auch immer bereit war, teilzunehmen, wurde Teil eines vorübergehend konstituierten „Wir“ gegen „Sie“, die Polizei, der Staat, die Regierung, die Reichen, die Ladenbesitzer, die Gesellschaft. In den Unruhen im August war die Frage der Verallgemeinerung des Kampfes nur im negativen Sinn ein Thema, als Mangel jeglicher Perspektive der Verallgemeinerung. Die Frage der Verallgemeinerung des Kampfes wird nicht in Bezug auf einen Wiederaufbau der proletarischen Gemeinschaft gestellt, sondern in Bezug auf die Vervielfachung von Diskrepanzen innerhalb eines Handelns als Klasse, welches zur Grenze des Klassenkampfes geworden ist.
Die Ära der Aufstände
Was ihre Praktiken (ihren Inhalt) anbelangt, waren die Unruhen im August das dritte bedeutende Beispiel einer Serie von Ereignissen in Europa, die zwei anderen sind die Ausschreitungen in den französischen Banlieues 2005 und in Griechenland 2008. Die besondere Entfaltung der Ereignisse in jedem dieser Beispiele war geprägt von der jeweiligen Stellung jedes Staates innerhalb der globalen Zonenunterteilung der kapitalistischen Akkumulation und seiner (klar damit verbundenen) spezifischen Geschichte der Klassenkämpfe, sowie von der Zeitlichkeit des Ausbruchs und der Entwicklung der kapitalistischen Krise: Im Falle von Frankreich wurde die Krise nur antizipiert, während sie Ende 2008 gerade ausgebrochen war. Sowohl in Frankreich als auch in Grossbritannien, wo die Bevölkerung viel ungleicher ist und wo es viel tiefer gehende Klassen- und gesellschaftliche Teilungen gibt, was bedeutet, dass die Krise der proletarischen Reproduktion viel differenzierter ist, war das Ghetto der unbestrittene Protagonist der Ausschreitungen. In Griechenland hingegen war es ein gesellschaftlich viel breiteres Profil von Schülern [28], welche die Ausschreitungen ankurbelten durch ein Zusammenkommen mit einer starken Aktivistenszene (ein Zusammenkommen, das viele Aktivisten dazu brachte, für einige Tage ihren Aktivismus und ihren Alternativismus in Frage zu stellen) und mit anderen jungen prekären Proletariern. Nur auf dieser Grundlage waren die Ausgeschlossenen – vor kurzem angekommene Migranten, welche im Zentrum von Athen leben, Hooligans und Junkies – an den skandalösesten Aspekten der Ereignisse beteiligt, nämlich Plünderungen und Brandstiftungen. In Frankreich waren die Ausschreitungen geographisch in den „Banlieues“ isoliert, denn die gefährlichen Klassen sind räumlich getrennt, als Resultat von vorhergehender Sozialpolitik und Strategien der Bevölkerungskontrolle in diesem Land (Sozialwohnungen und Wohnsiedlungen). Somit wurde eine „Sicherheitsdistanz“ zwischen Aufständischen und dem Rest der Bevölkerung aufrechterhalten. In Griechenland führte die gesellschaftliche Zusammensetzung der Aufständischen und die gesellschaftliche Geographie von Athen und anderer grossen Städte dazu, dass die Stadtzentren zum Hauptgebiet des Zusammentreffens subversiver Aktionen wurden. Grossbritanniens Modell gesellschaftlicher Integration hat zu einem geographisch diffusen Ghetto geführt, welches in der gegenwärtigen Zeitlichkeit in der Entwicklung der Krise das brennbare Material für die Ausschreitungen lieferte, um sich schnell in ganz London zu verbreiten, und auch für das grössere Ausmass an Plünderungen im Vergleich zu Frankreich und Griechenland. Doch trotz all dieser jeweiligen Besonderheiten, oder eher genau wegen diesen Besonderheiten, enthüllten die Protagonisten in allen drei Beispielen die Klassenzugehörigkeit als äusseren Zwang und griffen sie in einem Ausbruch zerstörerischer Aktivität an, welche nichts zu vermitteln oder verteidigen suchte, und dies war verknüpft mit ihrer spezifischen Situation und ihrer Stellung in den Modalitäten der Reproduktion des Proletariats in jedem der jeweiligen Fälle.
Als ein Beispiel in einer Reihe von Ereignissen sind die Unruhen im August also Teil der Ära der Aufstände, der gegenwärtige Moment, welcher die Übergangsphase der Krise definiert. Doch dieser gegenwärtige Moment kann in seiner Besonderheit in der ersten Zone der kapitalistischen Akkumulation nicht verstanden werden, wenn man nicht die Bedeutung der „Indignados-“ oder „Occupy“-Bewegung, wie sie sich hauptsächlich in Spanien, Griechenland und den USA manifestierte, innerhalb desselben berücksichtigt. Letztere waren grundlegend mit dem Niedergang/der Proletarisierung der Mittelschichten (oder kommenden Mittelschichten) verbunden und dadurch durch Interklassismus definiert. Dies drückte sich in ihrem demokratischen Diskurs aus, entweder in der Form des Appells für echte/direkte Demokratie wie in Spanien und Griechenland oder in jener der 99% wie in den USA. Die Diskurse über echte Demokratie in Spanien, direkte Demokratie in Griechenland oder die 99% in den USA waren ein Bestreben, eine gemeinsame Zugehörigkeit (die grosse Mehrheit der Gesellschaft; der Bürger, nicht der Proletarier) gegenüber der Abwesenheit jeglicher Grundlage für die Affirmation einer Klassenzugehörigkeit innerhalb der objektiven Reproduktion des Klassenwiderspruchs zu bestätigen. Er versuchte, die Universalität der Effekte der Krise als universelle Kampfgemeinschaft zu bestätigen. Die Breite dieser Zugehörigkeit hat ihre Ursache im interklassistischen/demokratischen Charakter und verstärkte diesen, während weitgehend das Finanzkapital und seine politischen Funktionäre als entgegengesetzte Klasse dargestellt wurden (Wall Street in den „imperialistischen“ USA oder hauptsächlich ausländisches Kapital im „anti-imperialistischen“ Griechenland).
In Anbetracht der Verallgemeinerung der Krise der proletarischen Reproduktion und der Intensivierung der Dynamiken der Restrukturierung konnten die Protestierenden keinen praktischen Ausweg finden, keinen konkreten Weg zu einem möglichen anderen Leben. Engagiert in einem auf der politischen Ebene geführten Kampf haben sich die „Indignados“ oder „Occupiers“ (echte/direkte) Demokratie auf die Fahnen geschrieben, um ihre Hoffnungen für ein besseres Leben zu repräsentieren, doch in Anbetracht der Abwesenheit jeglichen Inhalts für einen alternativen Weg, zu leben und sich selbst zu reproduzieren, war es eine blosse Form. In diesem Sinne war der demokratische Diskurs der „Indignados/Occupy“-Bewegungen nicht der radikale Demokratismus der 1990er und der frühen 2000er Jahre, der radikale Demokratismus der Bewegung gegen die Globalisierung. Heutzutage gibt es keine Vision für eine alternative Gesellschaft mehr, für einen Kapitalismus mit menschlichem Antlitz. Die Tatsache, dass sie sich auf der Ebene der Politik befanden (ihr Demokratismus), war die absolute Grenze der „Indignados/Occupy“-Bewegungen, eine Grenze, die in Griechenland durch proletarische Gewalt während den Generalstreiks und in den USA durch Aufrufe, alles zu besetzen, und das Eindringen in die Häfen in Frage gestellt wurde, nur um als abruptes Ende der Bewegung in Griechenland [29] und als Alternativismus (unfähig, sich als solcher zu materialisieren) der Kommunen in den USA, in beiden Fällen von der Polizei sanktioniert, wieder bestätigt zu werden.
In diesem Sinne waren die „Indignados/Occupy“-Bewegungen und die Ausschreitungen zwei Aspekte der selben Krise der Reproduktion. Sogar innerhalb des Demokratismus ersterer gab es wenig Spielraum für tatsächlich verhandelbare Forderungen: Die Abstimmung für das neuerliche Rettungspaket in Griechenland war mehr eine „Mobilmachung“ als eine Grundlage für Verhandlungen (niemand glaubte wirklich, dass es zurückgezogen würde), während die Vielfältigkeit der Mikroforderungen der Aktivisten in den USA einzig die Abwesenheit verhandelbarer Punkte reflektierte, welche man weiterverfolgen könnte. Oder es wäre präziser, zu sagen, dass es eben genau die Krise des Kampfes für unmittelbare Forderungen war, welche die echte Demokratie hervorbrachte, und es war der echte Demokratismus der Bewegungen, welche das Suchen nach Forderungen notwendig machte. Der Diskurs über die 99% führte zu einer illusorischen Hoffnung auf eine kommende Einheit als Resultat des universellen Charakters der Krise. Der Expansionsdrang, der Eifer, mehr Leute zu gewinnen, war grundlegend für die Bewegung. Sogar die Polizisten mussten in der Entwicklung der Bewegung in den USA erst als Feinde hervorgebracht werden (vielleicht mit der Ausnahme von Oakland, wo die Erinnerung an den Mord von Oscar Grand noch frisch sind), während sie einige Monate zuvor in London als solche vorausgesetzt waren. Die Ausschreitungen in Grossbritannien wurden hingegen als totale Negation jeglicher positiven Perspektive hervorgebracht, sei es in der Form echter Demokratie oder Kommunen. Die Unruhen im August verkündeten im Vorhinein den Bankrott des Diskurses über die 99% und der Expansion als Vereinheitlichung. Das Eindringen der Ausschreitungen in die Plätze hätte jegliche Illusion der Einheit unter dem Banner der Demokratie zerstört [30]. Andererseits erlangen die Unruhen im August nur im Verhältnis zu den „Indignados/Occupy“-Bewegungen eine historische Bedeutung. Nur in diesem Verhältnis wurde die Klassenzugehörigkeit als äusserer Zwang an den Tag gebracht und angegriffen, innerhalb des gegenwärtigen Klassenkampfes als Totalität.
Die Praktiken der Aufständischen im August wurden als eine innere Distanz, eine Diskrepanz innerhalb der notwendigerweise vorherrschenden Dimension der Klassenkämpfe heutzutage hervorgebracht, nämlich dem Handeln als Klasse. Diese innere Distanz dringt in alle grösseren, gegenwärtigen fordernden Kämpfe ein. Wir könnten sagen, dass die Ausschreitungen in die Bewegung eindringen. Dies war der Fall in Frankreich, Grossbritannien, Italien, Spanien und jüngst in Kanada (es ist wichtig, dass in all diesen Bewegungen die Jugend, Studenten oder junge Arbeitslose, als Subjekt der Revolte hervorgebracht wird, denn wie schon gesagt ist es die Jugend, welche allen voran vor einer blockierten Zukunft steht). Ausschreitungen dringen in die Bewegungen ein aufgrund der Unfähigkeit der Kämpfe für unmittelbare Forderungen, ihre fordernde Dynamik zu erneuern (der Fall der Studentenbewegung in Quebec ist in dieser Hinsicht bezeichnend), und in diesem Sinne sprechen wir über die Ära der Aufstände. Die Begegnung zwischen Ausschreitungen und der Bewegung erreichte aufgrund der Heftigkeit der Krise in Griechenland einen Zustand des Krampfes in der Osmose der Praktiken innerhalb einer interklassistischen Masse, welche in Athen am 12. Februar auftauchte: In einem massiven Ausbruch von Ausschreitungen, welche auf einen zweitägigen Generalstreik mit minimer Beteiligung folgte, „drangen jene, welche schon gefangen sind im Kontinuum Prekarität-Ausschluss, in eine Bewegung ein, welche immer noch dazu tendiert, sich auf „normale“ Anstellung und „normalen“ Lohn zu berufen; und das Eindringen des (Nicht-)Subjekts war erfolgreich, weil der kontinuierliche Angriff des Kapitals auf „normale“ Anstellung und „normalen“ Lohn schon in die Bewegung eingedrungen war“ [31]. Die Osmose brachte die innere Distanz zwischen Praktiken auf einer anderen Ebene hervor, zwischen der Masse, welche sich der Polizei entgegenstellte, und jenen, welche Gebäude anzündeten und plünderten. Aufgrund des Eindringens der Ausschreitungen in allen Gelegenheiten der Bewegung bestätigt die Hervorbringung der Klassenzugehörigkeit als äusserer Zwang die Polizei als das, was dazu tendiert, zu einem zentralen Moment der Reproduktion des Klassenwiderspruchs zu werden.
Die Ära der Aufstände ist gleichzeitig die Dynamik und die Grenze des Klassenkampfes in der aktuellen Konjunktur, nämlich die Hervorbringung der Klassenzugehörigkeit als äusserer Zwang in Anbetracht der Unfähigkeit des Klassenkampfes, seine Klassendynamik abzuschliessen und eine erneuerte Position proletarischer Macht hervorzubringen. Es ist nur eine Übergangsphase in der Entwicklung dieses Widerspruchs (der Widerspruch zwischen den Klassen im aktuellen Kampfzyklus), welche nach einer Lösung sucht. Mit dem Fortschreiten der Krise kämpft das Proletariat für seine Reproduktion als Klasse und ist gleichzeitig mit seiner eigenen, als Zwang im Kapital veräusserlichten Reproduktion (Klassenzugehörigkeit) konfrontiert, es kämpft z.B. gleichzeitig für und gegen seine Reproduktion [32]. Die Verallgemeinerung des Kampfes stellt sich heutzutage nicht als Einheit der Klasse (unter der Führung einer zentralen Figur) dar, denn für das Proletariat bedeutet die Tatsache, eine Klasse zu sein und als solche zu handeln, nur, Teil des Kapitals zu sein und sich als solcher zu reproduzieren (zusammen mit der entgegengesetzten Klasse). Es gibt keine Grundlage für eine revolutionäre Affirmation der Klassenzugehörigkeit, keine Arbeiteridentität oder proletarische Gemeinschaft, und es gibt nichts zu befreien, weder Handwerkskunst, noch menschliches Wesen. In einer Umwelt, in welchem überschüssige Bevölkerungen hervorgebracht werden und die den historisch definierten Wert der Arbeitskraft gewaltsam angreift, ist die Verankerung in der Lohnarbeit zusammen mit der Fähigkeit verloren, bessere Lebensstandards zu fordern. Das viel antizipierte Subjekt verliert den Boden unter seinen Füssen. Das kurzlebige „Wir“ der Aufständischen, dieses flüchtige Subjekt zerstörerischer Praktiken, welches augenblicklich erscheint, nur um sich schnell wieder aufzulösen, ist gleichbedeutend mit der Unmöglichkeit einer Beständigkeit des Subjekts (die Unmöglichkeit, sich die Revolution als „Akkumulation“ oder als übermässiges Wachstum von Aufständen vorzustellen). Innerhalb des differenzierten Charakters der Krise der proletarischen Reproduktion, der Krise der Gliederung des Proletariats, kämpft jeder Teil um sein jeweiliges Niveau der Reproduktion zu verteidigen (seine Stellung in der Gesellschaftsleiter), während alle nach unten gedrückt werden. Dies macht die Frage der Verallgemeinerung des Kampfes zu einer Frage der konfliktreichen Begegnung verschiedener Praktiken. Dies wird in allen Fällen an den Tag gebracht, wo Ausschreitungen in Bewegungen eindringen. Es war antizipiert in der schon erwähnten Dichotomie innerhalb der Studentenproteste 2010, welche jener innerhalb der Anti-CPE-Bewegung in Frankreich 2006 stark ähnelte. Es wurde auch in der Tatsache angekündigt, dass sich die Begegnung zwischen Aufständischen und kleinbürgerlichen Armen in den Unruhen im August als konfliktreich herausstellte (wenn Ladenbesitzer – selber häufig in grossem Ausmass ausgebeutet durch der Leibeigenschaft ähnelnde Verbindungen zu diversen ethnischen Mafias – ihre Läden häufig bewaffnet verteidigten), und in der Abwesenheit einer vereinigenden gemeinsamen Zugehörigkeit zu einer lokalen Gemeinschaft [33].
Was vom Eindringen der Ausschreitungen in die Bewegung wie es sich in der ersten Zone der kapitalistischen Zone abspielt abwesend zu sein scheint, ist der Kampf am Arbeitsplatz. In der Bewegung gegen die Rentenreform in Frankreich, an welcher eine grosse Anzahl von Arbeitern beteiligt war, gab es keine grosse Welle von Streiks. Die Verbindung der Bewegung mit dem Arbeitsplatz wurde hauptsächlich in Form von Blockaden (von Raffinerien) ausgedrückt. Ähnliches geschah in den USA, als die Occupy-Bewegung in einem Schritt nach vorne die Häfen an der Westküste blockierte, während die Protagonisten einer einwöchigen Besetzung der Arbeitsplätze im öffentlichen Sektor in Griechenland letzten Herbst darauf achteten, nicht Streikende zu sein (niemand war wirklich darauf vorbereitet, seinen Lohn zu verlieren). Die Situation des Widerspruchs zwischen Klassen in diesem Kampfzyklus auf der Ebene ihrer gegenseitigen Reproduktion ist zum aktuellen Zeitpunkt unfähig, die Schranke zur Produktion zu überschreiten, nämlich jenes Feld zu betreten, welches im Zentrum dieser gegenseitigen Reproduktion ist, denn die Tatsache, in Anbetracht der Prekarisierung (Lumpenproletarisierung) des Lohnverhältnisses, ein Proletarier zu sein, ist heutzutage nicht gleichbedeutend mit jener, ein Arbeiter zu sein, und sogar jene, welche tatsächlich Arbeiter sind, identifizieren sich nicht im geringsten auf positive Art und Weise mit der Bedingung, ein Arbeiter zu sein. Dies hat sich gewissermassen in vereinzelten Fabrikbesetzungen aufgrund von Entlassungen und für höhere Abgangsentschädigungen in Europa in den letzten paar Jahren ausgedrückt, welche als solche eine Flucht vom Arbeitsplatz, von der Arbeiterbedingung (die selbst auch ein Moment der Hervorbringung der Klassenzugehörigkeit als äusserer Zwang ist) darstellen. Aufgrund der Abwesenheit von Kämpfen oder Aktionen, welche die Wertproduktion und ihren Bezug dazu aufs Spiel setzen, sind jene, welche in der Modalität des einschliessenden Auschlusses reproduziert werden, unfähig, die Abhängigkeit ihres Überlebens von Handelstätigkeiten in Frage zu stellen, wie es während den Unruhen im August offensichtlich wurde. Die Praktiken der Blockaden, das Eindringen von „Aussenstehenden“ in Arbeitsplätze werfen zwei wichtige Fragen auf: a) die Tatsache, die Wertproduktion aufs Spiel zu setzen, wird nicht notwendigerweise die Form des Streiks annehmen (was nicht heisst, dass es keine Streiks geben wird, doch die entscheidende Bedeutung der produktiven Arbeit ist nicht mehr zentral für die Figur des produktiven Arbeiters); b) die Praktiken der Blockade antizipieren die praktische Infragestellung der Selbstorganisation innerhalb der konfliktreichen Begegnung zwischen Arbeitern und „Aussenstehenden“, in einem Ausmass, dass dieses Eindringen die Tendenz haben wird, das privilegierte Verhältnis gewisser Arbeiter mit den spezifischen Produktionsmitteln, mit welchen sie arbeiten, in Frage zu stellen.
Die kapitalistische Krise ist eine Flucht nach vorne, eine Beschleunigung aller Dynamiken der Restrukturierung. Es ist eine radikale Bestätigung der Illegitimität der Lohnforderung inmitten der Auflösung der Überlebensgarantien, der Proletarisierung kleinbürgerlicher und Mittelschichten und der Verschärfung der Hervorbringung überschüssiger Bevölkerungen. Der Angriff auf den Preis der Arbeitskraft zeigt sich in den Sparmassnahmen (ähnlich wie in den Strukturanpassungsprogrammen der 1980er Jahre), welche nun überall in der ersten Zone der kapitalistischen Akkumulation durchgesetzt werden (die Aufsichtsorgane dieses Prozesses sind Moody’s und Standard & Poor’s). Da sich dieser Prozess inmitten einer ernsten Staatsschuldenkrise in Europa entwickelt, ist die Durchsetzung von Sparprogrammen im Süden von äusserster Wichtigkeit, nicht nur für die PIIGS (das Sparprogramm ist der Mechanismus der Restrukturierung, welcher sich in der Zwangssprache über den Zugang zu internationalen Finanzmärkten mystifiziert), sondern auch für die Kernstaaten, um die akute Entwertung ihrer Finanzanlagen zu verhindern, welche die Repression dort vertiefen und die Widersprüche an der inneren Front noch explosiver machen würde (jemand nannte das ungleiche Ent-Entwicklung an einer Diskussion in London). Innerhalb des Wirbelsturms des innerkapitalistischen Wettbewerbs, der Vervielfachung von proletarischen Kämpfen und Ausschreitungen wird die Polizei überall als zentrales Moment der Reproduktion des Widerspruchs zwischen Klassen bestätigt, wie es sich im Verbot der Proteste in den USA und Spanien, neuen Gesetzen nach der „Occupy“-Bewegung und Ausschreitungen in Barcelona, im jüngsten Notstandsgesetz in Kanada nachdem Ausschreitungen in die Studentenbewegung eindrangen, der Armeepräsenz auf Italiens Strassen und neuen Sammellagern für illegale Migranten in Griechenland beispielhaft zeigt. In Grossbritannien folgten auf die Ausschreitungen rund 5000 Verhaftungen und eine Gesetzesänderung, welche zu viel härteren Strafen für Teilnehmer an Ausschreitungen führte. Neben der Veröffentlichung von etlichen Studien zu den Ereignissen und den Mängeln der staatlichen Antwort, welche Wege suchen, um solche Unruhen in Zukunft zu verhindern, verkündeten verschiedene Komitees und Gremien, dass es ziemlich wahrscheinlich ist, dass weit verbreitete Ausschreitungen erneut ausbrechen, und arbeiten hart daran, um dem staatlichen Arsenal effizientere Mittel zu liefern, um mit ähnlichen Unruhen umzugehen [34]. Die Form des Ghettos, der intensivierten räumlichen Segregation, welche durch innovative Überwachungsmethoden, Spezialkräfte der Polizei oder gar die Armee gesichert wird, wird als vorherrschende Modalität der Reproduktion für schnell anwachsende proletarische Bevölkerungen antizipiert, eine Tendenz, die in den USA weiter fortgeschritten ist. Die vor kurzem durchgebrachte Kürzung der Ausgaben für Sozialwohnungen und die massive „Aufwertung“ der traditionell armen Quartiere in Ostlondon aufgrund der olympischen Spiele, welche zu einer erneuten sozialen Säuberung führten, deuten in Grossbritannien in diese Richtung. In diesen Tendenzen als auch in den Fällen, wo Technokraten direkt zur Staatsführung berufen werden, um temporär ernsthafte politische Krisen zu lindern, wie es vor kurzem in Italien und Griechenland der Fall war, ist eine Tendenz hin zum Totalitarismus offensichtlich, ein Totalitarismus, welcher allerdings keine Eingliederung der Arbeiterklasse in den Staat anhand nationaler Linien und somit keine Wiederholung der historischen Totalitarismen des Faschismus und des Nationalsozialismus ist (historische Wiederholungen sind sowieso sinnlos).
Die obengenannten Dynamiken, welche die Prekarisierung (die Lumpenproletarisierung des Lohnverhältnisses) verstärken, können natürlich auf keinen Fall die Widersprüche des restrukturierten Kapitalismus auflösen, denn es sind diese Widersprüche selbst, welche in die aktuelle Krise führten und sie sind selber als Lösungen schon in Krise. Das Ghetto ist schon ein Ghetto in Krise und die Unruhen im August sind gleichbedeutend mit dieser Krise in Aktion. Die innere Distanz, welche innerhalb der heutigen Klassenkämpfe auftaucht, verschlimmert die gesellschaftlichen Widersprüche und kreiert einen sich selbst stärkenden Prozess wachsender Konflikte – welcher immer mehr Kategorien betrifft – und die Intensivierung staatlicher Repression. Wie schon gesagt, die Dynamiken des Kampfes in der Ära der Aufstände kann keine stabile Resultate hervorbringen. Die Grenzen dieser Kämpfe ist heutzutage die Tatsache, dass sie Klassenkämpfe sind. Die Überwindung dieser Grenze ist gleichbedeutend mit einem praktischen Angriff gegen das Kapital, welche mit einem Angriff auf die Existenz selbst der Klasse der Proletarier identisch ist.
Von Kämpfen um Forderungen zur Revolution muss es zwingend einen Bruch,
einen qualitativen Sprung geben. Doch dieser Bruch ist nicht ein
Wunder, keine Veränderung, die irgendwann geschieht, auch nicht die
Tatsache, dass die Proletarier realisieren, dass nichts anderes als die
Revolution mehr möglich ist, da alles andere gescheitert ist. Dieser
Bruch wird regelrecht hervorgebracht, wenn die Kämpfe sich entfalten [35].
Er kündigt sich an in der Vervielfachung von Diskrepanzen innerhalb der
Kämpfe. Die Verallgemeinerung des Kampfes kann nur die
Verallgemeinerung von Praktiken sein, welche die Existenz der
Proletarier als Proletarier in Frage stellen. Die kapitalistische Krise
als Krise der gegenseitigen Verwicklung der Klassen wird nur die Kulisse
dieser Verallgemeinerung sein und genau deshalb wird die Krise
krampfartig werden [36]. Die Verallgemeinerung des Kampfes, als ein Zusammenkommen von Konflikten
innerhalb von Kämpfen, wird unmittelbar etliche Aspekte der
Mehrwertproduktion/kapitalistischen Reproduktion unterbrechen und somit
die proletarische Reproduktion selbst aufs Spiel setzen, was
gleichzeitig die Intensivierung und Ausbreitung dessen notwendig macht,
was dann ein offener Aufstand sein wird, oder eher etliche aufständische
Fronten. Das Zusammenkommen proletarischer Praktiken wird
offensichtlich nicht friedlich sein. Wir sollten im Gegenteil einen
gewalttätigen Prozess unter vielen Gesichtspunkten erwarten. Falls die
Verallgemeinerung der Diskrepanzen eine neue Art der „Einheit“ der
Praktiken hervorbringt, wird es nicht die alte Einheit der Klasse sein,
sondern etliche Praktiken werden objektiv verschiedene Lager innerhalb
des kämpfenden Proletariats begründen, welche jedoch unfähig sein werden
(ausser die Revolution wird besiegt), sich in besonderen politischen
Formen zu kristallisieren; sie werden definitionsgemäss unbeständig
sein, denn für das „Lager der Kommunisierung“ gibt es eben genau kein
Ziel. Die Hervorbringung von Diskrepanzen ist gleichbedeutend mit der
Hervorbringung der Klassenzugehörigkeit als äusserer Zwang innerhalb des
Klassenkampfes. Die Dynamik des heutigen Klassenkampfes kann niemals
siegreich sein, weil sie immer wieder mit dem Klassenkampf als
Grenze zusammenstösst, bis hin zum Punkt, wo die Vervielfachung der
Diskrepanzen zur Überwindung der Klassenzugehörigkeit (und somit der
Selbstorganisation als Klasse) wird, als Revolution innerhalb der
Revolution, als Massnahmen der Kommunisierung, eine Revolution, welche
entweder das Leben immer mehr entkapitalisiert (kommunisiert) oder
zerschlagen wird.
[1] Like a summer with a thousand Julys… and other seasons…, Wolfie Smith, Speed, Tucker and June, 1982.
[2] Weiter führt er aus: „Ich weiss nicht, wie das geschehen konnte, und es war frustrierend, nicht mehr explizite politische Äusserungen zu sehen. Es zeigt gewiss, dass Verelendung allein nicht Bewusstsein erzeugt.“ (Marlowe, IP Blog, August 2011) Nichts persönlich gegen Marlowe, er fasst einfach gut zusammen, was in anderen ultralinken oder anarchistischen Berichten von den Ausschreitungen gesagt oder angedeutet wurde. Für eine akademische Version des gleichen Ansatzes, siehe zum Beispiel Feral Capitalism Hits the Streets von David Harvey.
[3] Siehe Woland, The Transitional Phase of the Crisis: The Era of Riots in Blaumachen Nr. 5, Juni 2011.
[4] Siehe On the Periodisation of the Capitalist Class Relation, Screamin’ Alice, Sic Nr. 1, November 2011.
[5] Dieser Prozess der Individualisierung der Arbeiterklasse wurde vom ideologischen Angriff auf die Arbeiteridentität begleitet, was sie als ungewollte Verhaltensidentität hervorgebracht hat, während Wohlstand und Privateigentum glorifiziert werden. Die Arbeiterklasse ist nicht mehr etwas, worauf man stolz sein kann, und wurde zu etwas, das man verachtet.
[6] Der Staat hinderte die Gemeinderäte daran, Sozialwohnungen zu bauen, um den Bestand zu ersetzen, welcher abgestossen wurde. Steigende Nachfrage nach Wohnungen führte zu einem Preisanstieg. Wohnungen wurden immer mehr unbezahlbar für weite Teile der Bevölkerung und viele waren dazu verurteilt, jahrelang auf Sozialwohnungen zu warten. Jene, welche immer noch eine Sozialwohnung bewohnten, tendierten dazu, ärmer zu werden, und lebten in den qualitativ schlechtesten Wohnungen. Über die Jahre hinweg hörten die Lokalregierung auf, die bleibenden Sozialwohnungen in einem guten Zustand zu halten, damit sie zerfallen und dann „verurteilt“ und abgerissen werden. Private erhielten dann Verträge, um neue Gebäude zu bauen, welche einen hohen Anteil an privat vermieteten Wohnungen enthielten. Dieser Prozess läuft weiter und ist Teil einer Politik der „Aufwertung“, welche zum Ziel hat, bestehende Sozialwohnungen mit neuen öffentlichen oder privaten Immobilien zu ersetzen.
[7] Der ganze Prozess des Abbaus der Sozialwohnungen enthält seine eigenen Widersprüche: Einerseits möchte das Kapital/der Staat, dass diese Sozialwohnungen nicht existieren und stattdessen durch private Wohnungen ersetzt werden, andererseits waren sie für die gesellschaftliche Reproduktion und die Kontrolle (überschüssiger) proletarischer Bevölkerungen notwendig.
[8] Nehmen wir zum Beispiel Hackney: Ganze Strassen wurden innerhalb von ein bis zwei Jahren transformiert. Hackney ist die zweitärmste Gemeinde im Land, mit über 11000 Einwohnern, die von staatlichen Zuschüssen leben. Gleichzeitig kostet eine kleine Einzimmerwohnung etwa 300000 £ oder etwa 1000 £ Miete, da Mittelklassfamilien ins Quartier ziehen und teure Cafés und Bio-Take-Aways wie Pilze inmitten von Billigläden aus dem Boden schiessen. Billige karibische Lebensmittelläden sind mit Boutiquen ersetzt worden; Friseure (ein wichtiger Treffpunkt für afro-karibische Gemeinschaften) durch teure, trendige Bars; Kebabläden und Imbissbuden durch schicke Restaurants und moderne Möbelläden; Metzger durch Delikatessenläden und Immobilienagenturen. Plätze haben sich in „Plazas“ verwandelt, welche auf eine Art und Weise gestaltet sind, dass sie Herumhängen und Trinken auf der Strasse verunmöglichen. Für die vertriebenen Ladenbesitzer bedeutet das abrupte, verheerende Proletarisierung. Für ihre Kunden und lokale Netzwerke der Arbeiterklasse bedeutete es weniger Raum, die Unfähigkeit, sich ihr Quartier leisten zu können, und herablassende Blicke von Neuankömmlingen der Mittelklasse.
[9] Willkürliche Polizeikontrollen wurden 1994 unter dem „Akt für kriminelle Justiz und für öffentliche Ordnung“ für Fussballhooligans eingeführt und erlauben es der Polizei, in „bestimmten“ Zonen jeden ohne konkreten Verdacht zu durchsuchen. Zwischen 1998 und 2009 erhöhte sich die Anzahl solcher Kontrollen von 7970 auf 149955, während zwischen 2005 und 2009 650% mehr Schwarze durchsucht wurden, ohne jeglichen Bezug zu Fussball. Es soll auch die schockierende Zahl von 333 Toten in Polizeigewahrsam seit 1998 erwähnt werden (Unabhängige Beschwerdekommission der Polizei) und seit 1990 starben 1433 Leute entweder in Polizeigewahrsam oder nach anderweitigem Kontakt mit der Polizei (950 Tote in Polizeigewahrsam, 317 nach einer polizeilichen Verfolgungsjagd, 112 aufgrund von Strassenunfällen, an welchen Polizeiautos beteiligt waren, und 54 wurden von der Polizei erschossen), ein Viertel davon in London (The Guardian, Zahlen von Inquest).
[10] Ende 2011 erreichte die Zahl der Gefangenen im Vereinigten Königreich 87000. Jedes Jahr werden rund 100000 Leute zu Sozialarbeit verurteilt. Praktische Konsequenzen einer Verurteilung im Vereinigten Königreich: Der Arbeitgeber hat das Recht, Zugang zum Strafregister zu verlangen und Bewerber mit vorhergehenden Verurteilungen abzulehnen, verurteilte Studenten können den Zugang zu medizinischer Versorgung verlieren und sogar von ihrer Schule ausgeschlossen werden. Gleichzeitig haben die Einwanderer von ausserhalb der EU grosse Schwierigkeiten, ihre Visas zu erneuern, während alle Probleme haben, Zugang zu Kredit zu erhalten. Es ist offensichtlich, dass die Kriminalisierung der Armut einen zusätzlichen aktiven Faktor für ihre Selbstreproduktion darstellt, während sie gleichzeitig versucht, eine „Pufferzone“ um sie zu kreieren.
[11] Für weitere Ausführungen zu diesen Ausschreitungen, der Ghettoisierung und der Bestrafung von Armut, siehe Wacquant, The Return of the Repressed, Riots, „Race“ and Dualization in Three Advanced Societies, 1993/2007.
[12] Studenten mussten 1998 1000 £ Schulgeld zahlen und die Gebühren waren abhängig von einer Vermögensprüfung. Später wurden die Vermögensprüfungen abgeschafft und jeder musste Gebühren mit Darlehen vom Staat zahlen. Die Regierung erhöhte 2004 das maximale Niveau von Schulgeldern für Universitäten auf 3000 £ pro Jahr. Die maximalen Gebühren waren 2010 auf 3290 £ angestiegen. Die Schulgelder wurden mit der Reform der höheren Bildung 2010 auf 10000 £ verdreifacht, was den Anlass für die Studentenbewegung gab.
[13] An Open Letter to Those Who Condemn Looting, Teil I & II, Socialism and/or Barbarism, August 2011.
[14] Auf der Ebene des Spektakels ist eine sehr britische Art der Sparnostalgie als Kehrseite des allmächtigen gesellschaftlichen Überwachungs- und Polizeiapparats wiederentdeckt und wiederangeeignet worden. „Ruhig bleiben und weitergehen“ verbreitete sich als Folge des Niedergangs des Booms zu Zeiten Blairs auf Postern und anderen Gegenständen, deren Ästhetik auf die turbulente Blitzära verwiesen, und veranschaulichen den Aufruf für eine stoische Akzeptanz kommender harter Zeiten. Siehe Lash Out and Cover Up von Owen Hatherley, Radical Philosophy 157, 2009.
[15] Die Arbeitslosenraten sind in armen Zonen noch schlimmer; die Jugendarbeitslosigkeit betrug in Tower Hamlets zum Beispiel 27.7%, während es in Tottenham eine Stelle auf 54 Jobsuchende gab. Zudem muss beachtet werden, dass nur jene, welche Zuschüsse für die Arbeitssuche beantragen, als Arbeitslose gezählt werden, nicht jene, welche durch andere Arten von Zuschüssen (z.B. Lohnzuschuss oder Invalidenrenten) leben, oder jene, welche dank Aktivitäten im informellen Sektor überleben.
[16] 80% der 650000 Studenten höherer Schulen, welche den Zuschuss für den Lebensunterhalt bekamen, entstammten Haushalten, wo das Einkommen geringer als 20800 £ ist. Die Stipendien erlaubten Jugendlichen ärmerer Familien weitere Bildung und etwa einem Drittel davon höhere Bildung.
[17] Für eine frühere Ausarbeitung dieser Idee, siehe The Glass Floor über die Ausschreitungen 2008 in Griechenland von Theo Cosme.
[18] „Vergiss die Universität, ich kann mir nicht mal mehr das College leisten. Wo ist meine Zukunft?“ (ein Transparent während der Studentenbewegung).
[19] Gewalttätige Ausbrüche von Lumpenproletariern waren in der Geschichte des Kapitalismus ein konstantes Thema.
[20] Siehe The Rise of the (Non-)Subject von Blaumachen und Freunde, Februar 2012.
[21] Viele historische Aufstände gingen natürlich nicht mit Forderungen einher. Der Aufstand in den 1980er Jahren im Vereinigten Königreich oder der Watts-Aufstand zuvor in den USA z.B. hatten keine besonderen unmittelbaren Forderungen, doch die Aktionen der Aufständischen waren Teil einer Bewegung, welche historisch die Integration der Schwarzen (als Schwarze) in die Zivilgesellschaft zum Ziel hatte. Heutzutage gibt es keine solche affirmative Bewegung.
[22] „Ausschreitungen zerstören allerdings das wenige, was unsere Gemeinschaft noch besitzt, sie sind auch ein grosses Risiko, sowohl für die Aufständischen als auch die Umstehenden. […] Brandanschläge, Zerstörung und die Leben von Mitgliedern unserer Gemeinschaft aufs Spiel setzen ist nicht der Weg, um unsere legitime Wut darüber auszudrücken, dass wir in den Boomjahren vernachlässigt wurden und dass man von uns erwartete, mit eurer Zukunft zu zahlen, als die Wirtschaft zusammenbrach. Ihr seid fähig, wirtschaftliche und soziale Gerechtigkeit auf einfallsreichere und wirksamere Art und Weise zu fordern“ (Flugblatt von Hackney Unite). „Unsere Gemeinschaften brauchen eine vereinte Antwort, sowohl auf die Ausschreitungen als auch auf die Gründe für Verzweiflung und Frustration, welche zu Ausschreitungen führen“ (A North London Unity Demonstration).
[23] Es ist ein Fehler, zu behaupten, dass es „implizite Forderungen“ gab, in dem Sinne, dass Forderungen vielleicht nicht deutlich ausgesprochen wurden, doch in späteren Interviews mit jungen Aufständischen sagten viele, dass es als Reaktion auf die Sparmassnahmen, die Arbeitslosigkeit, die Kontrolle usw. geschah. Wenn Jugendliche mit Kapuzenpullover über das sprachen, was für sie die Ursachen ihrer Aktionen waren, beweist das einzig und allein, dass sie nicht barbarische Idioten sind, entgegen der medialen Darstellung. Das sind nicht „implizite Forderungen“.
[24] Aufgrund des diffusen Charakters der Unruhen ist es unmöglich, einzuschätzen, wie viele Leute daran beteiligt waren. Leider sind die einzigen verfügbaren Informationsquellen bezüglich Beteiligung die verschiedenen Artikel, Studien und Reporte von staatlichen Kommissionen. Gemäss der Sunday Times vom 21. August „ist die Polizei auf der Suche nach 30000 Aufständischen“ und gemäss dem Guardian, „nahmen sich bis zu 15000 Leute die Strasse im August“. In den meisten Epizentren der Unruhen beteiligten sich einige Hunderte aktiv, etliche Leute hingen allerdings herum und beobachteten die Ereignisse, sie unterstützen in vielen Fällen passiv, was geschah, oder hinderten zumindest die Polizei daran, die Kontrolle zu gewinnen. In einigen Fällen war die Anzahl an Aufständischen höher, z.B. in Tottenham, Hackney, Salford, Birmingham und Manchester (Menschenmassen von über 1000 Leuten).
[25] „Sagen wir es ohne Umschweife. Die grosse Plünderung in Catford war verdammt lustig. Einkaufen bei Argos wird nie mehr das gleiche sein. Hunderte von Leuten aus dem Quartier waren auf der Strasse, die Launen variierten von Begeisterung, kaum versteckter Belustigung oder gelegentliche Mahnfinger, wenn Leute jeden Alters sich mit grossen Flachbildschirmfernsehern nach Hause schleppten. Lange Zeit war kein Bulle in Sicht. Die Plünderer, welche man im JD Sports sah, probierten die Kleider an, bevor sie entschieden, welche Trainerhosen sie nach Hause nehmen. Ein drückender Schweissgeruch lag in der Luft. Es hätte nur noch ein Soundsystem gebraucht und die Karnevalsatmosphäre wäre komplett gewesen. Die Plünderung von Blockbusters war nicht so erfolgreich. Die Playstationpackungen erwiesen sich als leer, genau wie die DVD-Hüllen, welche schliesslich die Strasse bedeckten. Ausgeschossene Unterhaltungselektronik war auch unter den Trümmern, ihr Wert war abrupt ausgelöscht in der allgemeinen Anarchie. Der Akt des Plünderns war genauso wichtig wie die Beute.“ Johny Void, Rioting for Fun and Profit, August 2011.
[26] Socialism and/or Barbarism, Open Letter.
[27] Es war eindeutig, dass der Staat und die Medien die Beteiligung von Gangmitgliedern (im strikten Sinn) in den Unruhen nutzten, um ihren ideologischen Angriff auf die Ausschreitungen zu vereinfachen und sie als organisiertes Verbrechen zu präsentieren. Nachdem sie anfangs behauptete, 28% der Verhafteten in London seien Gangmitglieder, korrigierte die Polizei später die Zahl auf 19%, eine Zahl, die landesweit auf 13% fiel.
[28] Jugendliche von griechischen Arbeiter-, kleinbürgerlichen oder Mittelschichtfamilien und integrierte Immigranten der zweiten Generation, hauptsächlich aus dem Balkan. Man sollte nicht vergessen, dass der von der Polizei erschossene Teenager – der Auslöser der Ausschreitungen – aus einer weissen griechischen Mittelklassenfamilie kam, die in einer wohlhabenden Vorstadt von Athen wohnt.
[29] Siehe der Text On the „Indignados“ Movement in Greece in Sic Nr. 1, November 2011.
[30] Es ist wichtig, dass in New York das Ghetto im Ghetto blieb; sie befanden sich nicht plötzlich im Zentrum. Nur einige wirklich Arme, Obdachlose und Bettler, beteiligten sich an der Besetzung, eher in einer Wechselbeziehung der Wohltätigkeit (Beschaffung von Essen und Schutz) und sogar diese Tatsache führte zu Spannungen in den Camps, denn Schmutz, Alkohol und Nicht-Beteiligung an den Versammlungen (was Opportunismus genannt wurde) waren Feinde des politischen Charakters der Bewegung. Der Abscheu der Mittelschicht bezüglich ihrer Nähe zu den Ärmsten war eine noch zentralere Dynamik in Santa Cruz. In Oakland hingegen brachten die geographische Nähe des Camps zu den Ghettos und die radikale Klassenkampftradition der Staat ziemlich viele Enteignete auf den Platz, mit einem doppelten Effekt: die Bullen waren definitionsgemäss auf der anderen Seite der Barrikade; die Beteiligung eher marginaler Schichten von den Ghettos wurde entschärft durch schwarze Zivilgesellschaftsorganisationen, welche einen beträchtlichen Einfluss auf die schwarzen Bevölkerungen haben und der Weitergabe des Radikalismus von einer Generation an die nächste verpflichtet sind (für weitere Ausführungen zur Kommune von Oakland und der Occupybewegung, siehe Under the Riot Gear, nächstens veröffentlicht in Sic Nr. 2).
[31] Blaumachen und Freunde, The Rise of the (Non-)Subject.
[32] Siehe die Einleitung zu The Transitional Phase of the Crisis: The Era of Riots von Woland, September 2011.
[33] In diesem Sinne ist der Versöhnungsversuch zwischen verschiedenen Interessen, zwischen Aufständischen und Besitzer kleiner Läden der türkischen und kurdischen Gemeinschaft Nordlondons gegen die auf die Ereignisse folgende Polizeirepression ein politischer Versuch, einen Widerspruch aufzulösen, der keine politische Lösung haben kann: „Vergessen wir nicht, dass die türkische und kurdische Jugend auch ein Teil der Jugend dieses Landes ist und somit steht auch die Zukunft der türkischen und kurdischen Jugend als Resultat der Sparmassnahmen auf dem Spiel. […] Wir können die Entwicklung einer instinktiven Tendenz beobachten, ihre kleinen Läden zu beschützen und manchmal die Jugendlichen anzugreifen. Die Händler haben gewiss das Recht, ihre Läden zu beschützen. Doch solche Ereignisse sollten nicht […] benutzt werden, um die Vorurteile zu stärken, welche die Unterdrückten und Migranten gegeneinander haben“. Diese interklassistische Aufruf zur Brüderlichkeit versuchte, eine „Gemeinschaft der Armen“ mit dem zu ersetzen, was nur durch einen direkten Angriff auf die Produktionsmittel und den Lebensunterhalt erreicht werden kann: Die konfliktreiche Frage des Zusammenkommens verschiedener Teile des Proletariats und armer Kleineigentümer. Wenigstens bemerkte eine 39-jährige Mutter unter den Aufständischen: „Wir werden für die Läden keine Tränen vergiessen; sie trugen nie etwas zur Gemeinschaft bei, sie kümmern sich mittlerweile nur noch um ihre Mittelklass-Hipster-Kunden“.
[34] Die Polizei sollte den Gebrauch von echter Munition in Betracht ziehen, um Angriffe auf Gebäude zu stoppen, wenn das Leben von den Personen darin gefährdet wird. Der Gebrauch von „geschützten“ Gefährten gegen die Aufständischen, Gummigeschossen, Wasserwerfern und militärischer Unterstützung wurden ebenfalls vorgeschlagen. Für die olympischen Spiele wird das technologische Repressionsarsenal des Staates ebenfalls mit neuen Gesichtserkennungskameras und anderen Geräten verstärkt, während die Armeepatrouillen auf der Strasse normalisiert werden.
[35] Siehe Théorie communiste, Self-Organisation Is the First Act of the Revolution, It then Becomes an Obstacle which the Revolution Has to Overcome, 2005.
[36] Die Verbindung zwischen alltäglichen Kämpfen und der Revolution ist nicht mehr eine theoretische Abstraktion und wird in der Krise der kapitalistischen Produktionsverhältnisse zu etwas direktem.
Rocamadur/Blaumachen
August 2012
Übersetzt aus dem Englischen von Kommunisierung.net
Hallo?
Aaaaals ob ich das lesen würde!
auf die Länge kommts nicht an :-)
Ich habs gelesen. Und für so nen langen Text ganz gut geschrieben, Form passt ;-). Alles in Allem ne recht interessante und gute Analyse.