Am Abend war es im Park wieder drängend voll. Es gibt überall Musik und viele Menschen tanzen. Unterbrochen wird dies immer wieder durch Parolen wie z.B. "Tayip (Erdogan) tritt zurück" oder "In Solidarität gegen Faschismus". Dazu gibt es immer wieder kleine Umzüge von Menschen über den Platz und Park. Die Abendstunden wirken generell immer weniger politisch. Es kommen viele Menschen, die, was aus Gesprächen hervorging, sich nie zuvor für Politik interessierten. Manche scheinen auch den Anlass und die Hintergrunde nicht genau zu wissen. Während der Feier- und Festivalstimmung im Park ist die Situation an den Barrikaden etwas anders. Gegen 23 Uhr wird davon berichtet, dass es einen Angriff von Demonstrierenden auf unten beim Dolmabahce Palast im Park chillende gab. Es gibt auch viele Gerüchte über Zivilpolizisten, die diesen Angriff initiert hätten, um mittels dieser Bilder den Gegenangriff zu rechtfertigen. An den Barrikaden führte dies zu der Situation, dass die organisierten Gruppen (es gibt Security-Schichten an allen Barrikaden) die Menschen (die teilweise sehr betrunken, unerfahren und ohne Gasmaske gegen die Polizei kämpfen wollten) versucht haben niemanden hinter die Barrikaden zu lassen. Nach den Berichten der Barrikaden-Schicht (nördlicher Weg nach Besiktas) ist jeweils als eine Gruppe unbedingt gehen wollte und sich nicht aufhalten lies, dies mit einem Gas-Angriff beantwortet worden. Das Gas reichte bis zum Divan-Hotel (Nord-Seite, Gezi-Park) und löste leichte Panik im Park aus. Dramatischer war die Situation in Gümüsüyü (südlicher Weg nach Besiktas), wo viel mehr Menschen waren und nach unten Richtung Polizei strömten, und Menschen die vergeblich versuchten die anderen Menschen dazu zu bewegen hinter den Barrikaden zu warten und sich für einen möglichen Angriff der Polizei vorzubereiten. Mindestens zwei Menschen wurden hier verletzt auf Barren Richtung Taksimplatz getragen. Die organisierte Gruppen gingen davon aus, dass die Polzei aus eigener Initiative keinen Angriff starten wird und da auf Park und Platz sich Zehntausende Menschen dicht gedrängt waren, sollte jede mögliche Provokation verhindert werden. Ab 2 Uhr leerte sich Park etwas und Menschen konnten ihre mitgebrachten Zelte aufbauen (wofür es jetzt Platz gab). Es war etwas leerer, aber dennoch sehr voll im Park. Viele Menschen saßen im Park oder schliefen im Freien ohne Zelt. Gegen 4 Uhr setzte starker Regen und ein kurzes Gewitter ein, was dazu führte, dass nochmal mehr Menschen den Park verliessen. Am Morgen gegen halb 6 wurde Alarm geschlagen. Alle Leute wurde geweckt und die weitergegebene Nachricht lautete, die Polizei breche eine Barrikade. Dazu gab es wenige Minuten später Gas im Park, unsichtbares Gas.. Kein Helikopter und keine uniformierte Polizei. Das Gas muss also auf anderem Wege in den Park gelangt sein. Viele Menschen gingen zu den verschiedenen Barrikaden. Die Security-Schichten dort waren sehr überrascht. Alle Barrikaden waren ruhig und Polzei sei nirgendswo gesehen worden. Im Park wird jetzt immer wieder davor gewarnt, alles zu glauben und skeptisch zu sein.
Da jetzt eh alle wach waren, begann der Arbeitstag, Leute fingen an alles mögliche zu organiseren. Hunderte beteiligten sich (wie jeden morgen) an der Müllbeseitigung. Dies läuft momentan so, dass riesige Berge von Müllsäcken an bestimmten Stellen an den Barrikaden entstehen und die Stadtreinigung diese von dort wegnimmt. Um 7 Uhr war der Park komplett sauber. Viele Menschen versuchten wieder ein bisschen zu schlafen. Am Vormittag bis Nachmittag ist es natürlich deutlich leerer, aber gerade in dieser Zeit sind tausende AktivistInnen damit beschäftigt den Freiraum zu gestalten. Es wird mittlerweile dazu aufgerufen im Parks nichts zu kaufen (auch wenn es nach wie vor unzählige VerkäuferInnen im Park gibt). Es gibt verschiedene Orte an denen das Essen ausgegeben wird, u.a. 24 Stunden warmes Essen. Darüber hinaus kommen immer wieder Menschen mit Essen/Trinken und verteilen es im Park. Durch die entstandene Infrastruktur kann im Park ohne Geld gelebt werden. Die ehemaligen Bezahlklos sind "besetzt", jetzt umsonst und werden von Freiwilligen saubergemacht. Am 5. Juni ist ebenfalls ein recht großer Garten entstanden, wo überwiegend Gemüse angepflanzt wurde. Darüber hinaus gibt es zwei weitere Büchereien und der große FreeShop wurde gepimpt. Büchereien und FreeShop werden gut genutzt!
Der 5. Juni ist religiöser Feiertag in der Türkei. Dies ist im Park durch Unmengen an Kandil - Keksen sichtbar, die traditionell an diesem Feiertag gegessen werden. Darüber hinaus wurde an diesem Tag im gesamten Park kein Alkohol getrunken.
Für den Tag haben große Gewerkschaften zu einem Streik aufgerufen. Gegen Mittag laufen sie als riesiger Demozug aus Richtung Mecideyeköy auf den Taksim-Platz. Darüber hinaus kommen Unmengen an SchülerInnen um diese Zeit zum Platz. Nach Berichten eines verlässlichen Tickers haben die SchülerInnen gemeinsam entschieden zu "streiken" und wollten die Schule verlassen, woraufhin Lehrere die Türen abgeschlossen hätten. Die SchülerInnen seien darauf aus den Fenstern aus dem Gebäude gelangt und als Demozug Richtung Taksim gelaufen. Um Park und Platz herum läuft der Taksim-Alltag dennoch weiter. Die U-Bahn fährt wieder bis direkt zum Platz und viele Leute laufen über das Gelände auf dem Weg zur Arbeit. Auf dem gesamten Platz hängen Transparente, auch von großen Hochhäusern und wird auch sehr viele Gruppen, die Flyer verteilen oder einfach über Megaphone Ideen geben. Dabei wird versucht aufzuzeigen, warum es nicht nur um diese Regierung und das rücksichtlose Wirtschaftswachstum in Istanbul, sondern um Herrschaftskritik und Kapitalismuskritik im Allgemeinen geht. Sehr positiv scheint der Protest und der geschaffene Freiraum auch auf die Beziehung zwischen kurdischen und türkischen Menschen. Kurdischen AktivistInnen als auch sich vorher als Kemalisten bezeichnende türkische Menschen berichten für sie sei in diesen paar Tagen mehr passiert, als in dem andauernden von Öcalan und der Erdogan-Regierung angefangen Friedensprozess. Dies lässt sich auch durch Situationen belegen, die vorher kaum vorstellbar gewesen wären: Öcalan-Fahnen und Atatürk-Fahnen auf dem Taksim-Platz, Menschen mit "Türkei-T-Shirt" und Menschen mit kurdischen Armbändern in einem Halay-Tanz-Kreis, eine Person mit BDP und türkischer Flagge in einer Hand etc..
Am Abend gab es diesbezügliche kurze Spannungen, nachdem eine "Biji Serok Apo"(kurdisch: Unser Führer Apo.) skandierende und eine "Mustafa Kemal'ın askerleriyiz" (türkisch: Wir sind Mustafa Kemal's Soldaten) skandierende Gruppe sehr nebeneinander waren. Als es zu eskalieren drohte und Personen aus den Gruppen aufeinander zuliefen, gab es gleichzeitig aus den Gruppen Menschen und viele Umstehende, die sich dazwischen stellten und deeskalierten. Die Situation beruhigte sich und es wurde gemeinsam "Faşizme Karşı Omuz Omuza" (Schulter an Schulter gegen Faschischmus) skandiert.
Vielleicht ist es noch interessant Gruppen aufzuzählen, die auf dem Platz sichtbar und identifizierbar(!) sind..
ÖDP, TKP, LBGTT, VeganerInnen, international student group, genc türk(nationalistisch, bei den Demos präsent gewesen, auf dem Platz und Park gar nicht), TGB, diverse Studierendengruppen von verschiedenen Unis, AnarchistInnen mit schwarzen Flaggen, AnarchistInnen mit rot-schwarzen Flaggen, LAF, Müstereklerimiz(stellt viel Organisation von Infrastruktur), Taksim Dayanisma (verhandeln mit der Regierung), Menschen mit Zelt und Ägyptenfahnen (solidarity from tahrir), KESK (Gewerkschaft), DISK (Gewerkschaft),
(die Liste ist sicher unvollständig, da es sehr viel Gruppen gibt und es sagt natürlich nichts über die Bedeutung der einzelnen Gruppen in der Bewegung, die Mehrheit sind halt Menschen, die sich zuvor keiner dieser Gruppen zugehörig fühlten)
Nach den anstrengenden Tagen (bis ca. Sonntag) an denen viele fast ohne Unterbrechung sich mehr oder weniger aktiv und passiv gegen die Polizei gestellt haben, gibt es jetzt viele glückliche Gesichter. Von den AktivistInnen, die lange hier lange aktiv sind, wird insbesondere die Politisierung der Menschen als am Wichtigsten bewertet.
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danke
Danke für den informativen Text.
Solidarische Grüße.
News
http://turkishspring.nadir.org/
Danke aus Stuttgart
Danke für den lebendigen Eindruck! Das hört sich ganz an, wie vor zwei Jahren bei uns in Stuttgart. Ihr werdet einen langen Atem brauchen und viel Geduld. Es wird viele Enttäuschungen geben, aber es lohnt sich, durchzuhalten. Jetzt ist die Bewegung bei Euch unglaublich bunt, kreativ, lebendig und selbstbewusst. Es tut gut, so viel Solidarität zu erleben, so viele Menschen, denen die Augen aufgehen und die sich zu wehren beginnen, die bisher nicht politisch gedacht haben oder sich engagiert haben. Bei uns in Stuttgart ist es inzwischen ruhiger geworden, viele Menschen gehen nicht mehr auf die Strasse, aber dennoch sind wir jeden Montag noch immer ca 2000 Menschen, die nun schon seit vier Jahren regelmässig zur Montagsdemo kommen. Das ist sehr viel, finde ich. Das Wichtigere ist aber, auch die Menschen, die nicht mehr kommen, haben sich verändert. Sie sind aufgewacht und so schnell werden sie nicht mehr eingeschläfert oder eingelullt werden können. Die Menschen glauben nicht mehr alles, was man ihnen erzählt, sie sind misstrauisch geworden und sie informieren sich selber.
Ich wünsche Euch alllen Mut und alle Kraft und alle Geduld, die ihr braucht! Herzliche und solidarische Grüße aus Stuttgart!!!!!
Rose