Istanbul, Nacht vom 3. auf 4. Juni 2013

istanbul

Zum Abend hin haben sich besetzter Taksim-Platz und Gezi-Park immer weiter gefüllt. Mittlerweile gibt es dort einen hohen Grad an aufgebauter Selbstverwaltung. Es gibt 24h warmes Essen, mehrere Verpflegungsstellen, eine Bücherei, viele Handy-Ladestellen (Strom von Straßenlaternen), Soundsystem für Reden, organisierte Müllentsorgung und vieles mehr. Darüber, wie überall in Istanbul üblich, zahlreiche mobile Verkäufer_Innen, die Essen und Trinken aber auch Atemmasken und Schwimmbrillen verkaufen.

 

Sichtbar sind im Park zahlreiche verschiedene politische Gruppen. Bisher sind keine großen Spannungen zwischen den Gruppen zu spüren. Die Bewegung wird auch von zahlreichen national eingestellten Menschen unterstützt. Nicht selten sind Rufe wie "Wir sind Mustafa Kemal("Atatürk")'s Soldaten" zu hören und es gibt viele türkische Flaggen. Viele Menschen arbeiten daran die Awareness für Toleranz zu schaffen. Sexistische Slogans werden direkt kritisiert - auch direkt im Gasnebel an den Barrikaden. Gleichzeitig werden sexistische Grafittis entfernt und teilweise auch das Nationalflaggen und die angesprochenen Slogans thematisiert. Der Park ist mit Abstand der Ort, wo es am wenigstens Türkeiflaggen gibt und an selbstverwalteter Infrastruktur gearbeitet wird.
Für 19 Uhr wurde über das Internet in den Park für eine Kundgebung mobilisiert. Es ist schwierig eine Angabe über die Anzahl der Menschen zu geben. Der "besetze Bereich" ist sehr groß und umfasst den Taksim-Platz, die komplette(ehemalige) Baustelle, den Park, die beiden angrenzenden Straßen und die Straße runter zum Besiktas-Stadtion mit mehreren großen und zahlreichen kleinen Barrikaden (für die Ortskundigen..). Dieser Bereich ist auf allen Seiten mit hohen Barrikaden gesichert - teilweise mit mehrfachen Barrikaden. Der Zugang zur Istikal-Straße ist offen. Taxis und Krankenwagen können so auf den Platz gelangen. Im gesamten Bereich sind rund um die Uhr viele Menschen unterwegs. Imbisse und Hotels direkt am Platz haben offfen und haben ihre Wifi-Netze geöffnet. Zur Kundgebung wurde das Soundsystem in Betrieb genommen und es gab mehrere Reden. Unter anderem kam um diese Zeit die Organisation der Anwälte und Anwältinnen in der Türkei. Der Vorsitzende hielt eine Reide. Die AnwältInnen unterstützen den Aufstand, rufen zu Widerstand auf und setzen Staatsanwälte und Regierung unter Druck. Gegen 21 Uhr - es war immer noch voll - wurde von einem Helikopter unvermittelt Gas auf Platz und Park abgefeuert. Tausende Menschen flüchteten in Richtung Istiklal-Straße und schlagartig halbierte sich (gefühlt) der Platz. Es gab auf dem Platz die Information, die Polizei würde aus Richtung Besiktas zum Platz kommen. In Zusammenhang mit dem Gas aus der Luft wurde das sehr ernst genommt und Menschen machten sich auf den Weg zu den entsprechenden beiden Straßen. Es spielte sich nun in den nächsten Stunden von 21 Uhr bis mindestens 4 Uhr eine Schlacht zwischen Polizei und Menschen ab. Zu Beginn konnte die Polizei bis fast auf Höhe (des Armee-Krankenhaus) vordringen. Nach und nach wurde die Polzei zurückdrängt und für viele Stunden war der Hang am Besiktas-Stadion das Konfliktfeld. Die Polizei schoss Unmengen an Gas in Richtung der Demonstrierenden. Es enstanden neue Barrikaden auf der Straße, die den Hügel runterführt. Die Polizei wurde mit Steinen und anderen Geschossen eingedeckt. Die Meisten Gasbomben flogen ebenfalls zurück. Trotzdem war der ganze Bereich über den ganzen Zeitraum voller Gas. Mit "nur" Atemmaske und Schwimmbrille ist es schwer sich in dem Bereich lange aufzuhalten. Auch hier eine hohes Maß an Solidarität und Selbstorganisation. ÄrztInnen, Krankenzimmer in Wohnungen an der Straße, unzählige Menschen, die nur daran arbeiten "Medizin" in die Gesicht der zurück taumelnden zu sprühen. Menschen, die Essen bringen und Menschenketten, die die ganze Zeit neue Barrikaden bauen. Die Straße hoch zum Taksimplatz fungiert als Ruhezone. Im Grunde ist es ein ständiges vor und zurück. Menschen kommen erschöpft aus dem Gas und sitzen. "Frische" Menschen kommen den Berg herunter und stellen sich der Polizei entgegen. Hunderte (leere) Wasserkanister werden den Berg runter auf die Polizei gerollt. Es gibt Verletzte: Blutungen und starke Atembeschwerden. Gegen 3 Uhr ein wenig Feierstimmung, die Polizei musste sich um die Ecke zurückziehen.

Dieser Bericht soll auch deutlich machen, was für enorme Anstrengungen notwendig sind, um den Platz zu halten. In den Mainstream-medien entsteht der Eindruck, dass die Polizei nicht zum Park kommt, weil er voll Menschen ist. Der Polizei ist das aber egal. Sie schießen weiter Gas, wenn Menschen sich vor Schmerzen quälen, auf dem Boden liegen oder auf panische Menschengedrängelknäuel. Darüber hinaus wurde die ganze Zeit aus dem Hubschrauber weiter Gas auf die gesamte Straße runter nach Besiktas und auch auf den Park gelassen. Dieses Gas ist unsichtbar und steht sehr lange in den Luft. Ohne Atemmaske und die ganzen Hilfsmittel (Milch, Zitronen, Calciummix, Essig) ist es dort nicht auszuhalten. Nahezu alle Menschen klagen über Schwindel, Übelkeit, die sich in diesen Situationen befinden. Die Besetzung und der Aufbau der Selbstverwaltung wird also nicht von der Regierung toleriert, sondern Nacht für Nacht von Menschen verteidigt. Die Menschen, mit ihren verschiedenen Hintergrunden und politischen Ansicht kämpfen hier gemeinsam für die Freiheit.

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Was ich gerne wüsste ist ob die Tränengasreserven in der Türkei nicht langsam mal zur Neige gehen müssten. Nach einer Woche konstantem , großzügigen und gründlichen rumgeballere von Tränengaskartouschen in sämtlichen größeren Städten der Türkei, müssten die Vorräte der Bullen doch irgendwann erschöpft sein!

 

Wieviele billionen Tonnen haben die türkischen Repressionsbehörden denn davon auf Lager?

 

Oder werden diese etwa nachgeliefert? Wenn ja, von wem? Von der EU wie dies bei der Revolte in Griechenland der Fall war? Von den USA? In beiden Fällen wäre diese extrem heuchlerisch und zynisch. Aus dem nahen Osten? Oder werden die in der Türkei selber produziert?

 

Weiss irgendwer wie das läuft? Denn wenn Deutschland oder andere EU Länder nämlich tatsächlich Tränengas in die Türkei liefern sollten, könnte man ja zumindest von hier aus die rebellierenden Genossen in der Türkei unterstützen indem man besagte Produzenten/ Exportunternehmen anprangert, sabotiert oder ihnen sonstwie mit solidarischen direkte Aktionen das Geschäft beeinträchtigt...  

http://www.defense-technology.com/chemical.aspx

(Firmenseite)

 

Diese Firma ist ansässig in Caspar Wyoming. Die Produkte sind dem Twitterfoto recht ähnlich.

 

Unsichtbares Tränengas? Mich hat es selber interessiert und nach einer kleinen "recherche" bin ich auch nicht zu einer befriedigenden Antwort gekommen. Nur vielleicht so viel:

 

https://www.fas.org/nuke/guide/usa/doctrine/dod/fm8-9/3ch7.htm#tab7_ip3

(720 CA)

Die Tabelle in der Eigenschaften von BA ausgeführt werden. Das war vorerst das einzige Gas was jetzt als spezifisch "unsichtbar" ausgewiesen wurde und welches ich gefunden habe. Natürlich will ich diese Info nicht als sicher und bestätigt stehen lassen, besonders in anbetracht der Beschreibung.

Dennoch ist die Seite www.fas.org recht informativ, vielleicht finden sich da noch so manch andere (nützliche?) infos.