Dieser im Sommer 2010 geschriebene Text zirkulierte in den darauf folgenden Monaten und drückt einen Bruch aus mit der insurrektionalistischen „anarchistischen“ Strömung. Bei weitem nicht fehlerlos versucht dieser Brief, einer Szene von Aktivisten einige grundlegende Fragen zu stellen, ohne den Anspruch zu erheben, diese klar zu formulieren. Die Vorhersagen zum Verlauf des Kapitalismus und zum Schicksal des radikalen Demokratismus haben sich unter anderem als falsch erwiesen, das beweist die Vertiefung der Krise und die globale Verbreitung der Bewegung der „Empörten“. Andere Punkte – die Wichtigkeit des Bruchs der 70er Jahre, die Kritik der aktivistischen Tätigkeit usw. – bleiben abzuklären. Trotz dieser Mängel beschäftigte sich der Autor dieses Briefes mit dem Verständnis des revolutionären Prozesses als Kommunisierung: In diesem Sinne hat er seine Nützlichkeit. (Januar 2010)
Von der Bescheidenheit, die einen sozialen Kämpfer ausmacht
Liebe Genossen, ich schreibe euch diesen Brief, weil ich den Drang verspüre, einige meiner Zweifel klar auszudrücken bezüglich der Tätigkeit, welche ihr im Moment hervorhebt, grösstenteils ohne meine Beteiligung. Ich habe mich während diversen Gelegenheiten seit ich letzten Winter nach Bologna zurückgekommen bin etwas distanziert, diese Distanz wird immer grösser. Seither versuche ich das für mich zu klären. Ich bin heute zu einigen provisorischen Gewissheiten gekommen, die ich in den folgenden Zeilen offen lege.
Ich versichere euch, dass es nicht meine Absicht ist, euch zu meiner „Schule“ zu konvertieren und auch nicht, euch von irgendwas zu überzeugen: Der sokratische Dialog, durch welchen die Beteiligten auf der Suche nach der Wahrheit zusammenarbeiten, ist nichts mehr als ein rationalistischer Mythos. Die alltägliche Erfahrung zeigt uns hingegen, wie der Dialog, die Argumentationen, die Weisheit und der sogenannte „gesunde Menschenverstand“ unwirksam sind, sobald man sich nicht zum Vornhinein in gewissen Punkten einig ist. Ich habe also überhaupt nicht den Drang, euch „das neue Wort“ zu verkünden. Ich suche nach jenen, welche wie ich denken (zumindest in gewissem Masse), um gewisse Wege gemeinsam zu gehen. Andererseits ist es nicht mein Ziel, ein esoterisches Wissen für mich zu behalten, und deshalb teile ich diese kritischen Reflexionen; doch da deren Ausarbeitung für mich keinen anderen Nutzen hat als zu klareren Positionen zu kommen, kann ihre Zirkulation keinen anderen Zweck haben als Verhältnisse auf der Grundlage konvergenter Orientierungen zu kreieren oder jene abzubrechen, welche durch eine tiefe Meinungsverschiedenheit geprägt sind.
Niemand wird bezweifeln, dass der grösste Teil der Aktivitäten, welche wir zusammen in den letzten Jahren an den Tag legten stark durch den Willen charakterisiert waren (und es immer noch sind), „auf der Strasse“ zu sein: Besetzungen, Flugblätter, Demonstrationen usw. Was bezweckte diese organisierte Präsenz? Was erhofft man sich zum Beispiel vom Schreiben und vom Verteilen eines Flugblatts an die „Leute“? Ich denke, dass ihr mir antworten werdet, dass jede „kommunikative“ öffentliche Präsenz bezweckt, eine Perspektive des Kampfes zu verteidigen, auszuweiten und zu verstärken, in einem Wort die „Leute“ zu überzeugen.
Ich glaube auch nicht, dass mein Vorgehen dies bezwecken kann oder muss: Um zur Sache zu kommen, das bedeutet, aus der Propaganda – dem Wort oder der exemplarischen Aktion – den Motor der sozialen Veränderung zu machen.
Dem ganzen liegt eine Konzeption zu Grunde, gemäss welcher – ich würde nicht mal sagen „den Proletariern“, denn dorthin müssten wir erst noch kommen – doch den „Leuten“ etwas fehlen würde und diese fehlende Sache könnte und müsste ihnen vom Revolutionär gegeben werden (das Bewusstsein, die Konterinformation usw.).Es ist eine Art Vermittlung zwischen den „Leuten“ – die später die Proletarier sein werden – und der Revolution, zwischen dem Sein und dem Bewusstsein, da zwischen ihnen eine totale Zäsur existiert, ein Graben. Die angeblichen „Revolutionäre“ wollen eine Brücke über diesen Graben sein. Daher die Sisyphusarbeit der Gruppen und Grüppchen, die sich wirklich an der „Peripherie“ des Seins (also der Klasse) befinden und ihr Wille, sich als Zauberer und Vermittler dieser Schnittstelle mit dem Bewusstsein zu zeigen. Einerseits verlangt die Abwesenheit dieser unmittelbaren Schnittstelle die kontinuierliche Rechtfertigung: „Wir sind die einzigen, die...“, „Wir sind anders als die anderen...“ usw.; andererseits muss dieses äussere Bewusstsein übermittelbar sein, um den Sein der Klasse eingeimpft zu werden, was eine Verstümmelung der Theorie bedingt, falls diese ihre Bestätigung nicht findet: „Die Leute verstehen die komplizierten Diskurse nicht, usw.“
Ich denke nicht, dass dieser Gedankengang haltbar ist, noch weniger vom Standpunkt der praktischen Effizienz. Und auch wegen der widerlichen Pädagogik, mit der er getränkt ist. Ich sprach von einer Diskontinuität zwischen dem Sein und dem Bewusstsein, die eine Vermittlung erfordert; doch wie ist es möglich, dass eine derartige Zäsur für die anderen gilt, aber nicht für sich selbst? Entweder existiert ein solcher Bruch, unüberwindbar für alle und das Bewusstsein ist also unmöglich oder der Bruch hat nicht a priori radikale Ursachen und gilt nicht mehr für die anderen als für mich selbst.
„Die materialistische Lehre, dass die Menschen Produkte der Umstände und der Erziehung, veränderte Menschen also Produkte anderer Umstände und geänderter Erziehung sind, vergisst, dass die Umstände eben von den Menschen verändert werden und dass der Erzieher selbst erzogen werden muss. Sie kommt daher mit Notwendigkeit dahin, die Gesellschaft in zwei Teile zu sondern, von denen der eine über der Gesellschaft erhaben ist. (Z.B. bei Robert Owen.)“ Marx, Thesen über Feuerbach, 1845.
Dieser Diskurs, gültig für alle vergeblichen Versuche, ein Bewusstsein „einzuführen“, gilt auch für die sogenannte Konterinformation. Man kommuniziert wirklich in Hinblick auf das, was man gemeinsam hat. Ausserhalb einer effektiv erfassten gemeinsamen Lage, einer schon bestehenden Kampfgemeinschaft ist jegliche Verbreitung („Dieser oder jener Kampf da und dort“, „Sie haben diesen oder jenen aus irgendeinem Grund festgenommen“ usw.) komplett nutzlos: Es wird nur ein zusätzliches Ereignis sein in der unbezwinglichen und überflüssigen Flut, die uns jeden Tag überschwemmt.
Die Begriffe selbst der „Intervention“ oder der „öffentlichen Präsenz“ täuschen die Wahrnehmung, indem sie eine Äusserlichkeit suggerieren zum Raum und zur Zeit, wo sich der Klassenwiderspruch entwickelt.
Wollen wir andere zwingen, etwas zu tun, das sie nicht tun? Doch das ist genau die Essenz der Politik. Ungeachtet der Absichtsbekundungen jagt man zur Tür hinaus, was man zum Fenster hineinkommen lassen will. Sich um das, was wir die „Politik“ nennen, zu kümmern, ist nicht etwas, wovon man sich mühelos befreit, einfach eine subjektive Wahlmöglichkeit, eine Denkgewohnheit, gegen welche es reichen würde, sie moralisch zu verwerfen: Es ist eine Form, in welcher die gesamte menschliche Tätigkeit historisch gespalten ist. Die Politik als Beruf wird geboren und wuchert ab einem gewissen Grad der gesellschaftlichen Arbeitsteilung: Das Gewerbe, das daraus besteht, die Menschen zu sammeln zum Zweck bestimmter Ziele kann nur dort gedeihen, wo sie in ihren aufgesplitterten Tätigkeiten getrennt und dazu gezwungen sind. Daraus ergibt sich das politische Denken, entweder die (aktive) Neigung, die anderen zu organisieren, oder die (passive) Neigung, sich organisieren zu lassen. Man kann eine Analogie machen mit dem, was wir „Religion“ nennen: Phänomene wie New Age oder andere aktuelle Synkretismen, anfällig für etliche individuelle Deklinationen (die sogenannten Individualreligionen), zeigen, dass der Wunsch, Zugang zum Übersinnlichen zu haben, Formen annehmen kann, die sich stark von den grossen historischen Glaubensformen wie dem Christentum, dem Islam usw. unterscheiden können. Doch was ist die Grundstruktur, die sie zusammenhält? Immer der Bezug auf eine notwendigerweise vorherbestimmte Ordnung des Seins, an welche man sich anpassen muss: alles in allem ein „Sein-Müssen“.
Ich stelle mir nun folgende Fragen: Wie kann man eine individuelle oder kollektive Ethik begründen, ohne eine Transzendenz einzuführen? Und wie oft, ohne dass man sich dessen bewusst wäre, wurde an eine solche von der Geschichte losgelöste Ethik appelliert? Die Revolution löst die Frage des „Sollens“ und des „Könnens“, denn sie tritt den Ursachen entgegen. Der Kommunismus bedeutet eine Welt jenseits von Gut und Böse. Eine Welt, in welcher die menschliche Tätigkeit nicht mehr getrennt ist, da alle Bedingungen, welche diese Trennung determinieren, nicht mehr wirken; es ist nicht die Realisierung guter Gefühle, der Kommunismus trägt ein strukturell anderes gesellschaftliches Verhältnis in sich als der Kapitalismus.
Marx kritisierte die Religion, die Politik und die Philosophie in ein und derselben Bewegung, nicht von Fall zu Fall. In seinen Texten setzt er sich häufig mit der Wissenschafts- und Fortschrittsgläubigkeit auseinander; trotzdem war seine Polemik gegen die „utopischen Sozialisten“ seiner Zeit angetrieben von zutiefst richtigen Motiven: Sich unter diesen Umständen auf die Wissenschaft zu berufen, bedeutet, den Kommunismus nicht als eine in den Köpfen isolierter Denker geborene „schöne Idee“ zu begreifen, sondern als eine materielle Kraft, die die Realität durchdringt. Doch er war auch fähig, die gültigen Beiträge dieser Denker zu integrieren.
„Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben [wird]. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt.“ (K. Marx, Die deutsche Ideologie, 1846).
Die Theorie als normativen Diskurs über die Realität zu verstehen (was man tun und nicht tun sollte, was die anderen tun sollten), ist die schlimmste Vorgehensweise: Es ist wieder der Anspruch eines „Sein-Müssens“. Es ist nicht die Funktion der Theorie, ein Rezeptbuch zu sein: Sie ist immer das Produkt von etwas, das schon im Gange ist und die selbst-reflexive Bewegung eines Wandels im Gange.
Nun, wie verhält sich der politische Aktivist? Welches Verhältnis unterhält er zum Beispiel mit der Theorie? Er erwartet von ihr, dass sie ihm sagt, was zu tun ist und wenn er glaubt, verstanden zu haben, beginnt er damit, die Seele der anderen zu zerreissen, damit sie ihn imitieren. In alledem handelt er immer mittels einer Sichtweise, die ausserhalb von ihm bleibt und die sich in seinem Leben kaum verändert; er glaubt, mit einer Bewegung verbunden zu sein, im Zentrum der gesellschaftlichen Realität zu stehen, doch in Wirklichkeit trennt er sich von ihr.
Auch eine Aktion, sagen wir eine Aktion des „Angriffs“, bar jeglicher symbolischen Funktion, nur durch wirtschaftliche Probleme motiviert, bleibt eine aktivistische Aktion, wenn derjenige, welcher daran teilnimmt, als Verteidiger der unglücklichen Anderen handelt, historisch betrachtet hat diese Art von Verhaltensweise eher die Passivität der prinzipiell Betroffenen verstärkt, als dass sie sie dazu gebracht hätte, selbst zu handeln.
„Solange die Sekten berechtigt sind (historisch), ist die Arbeiterklasse noch unreif zu einer selbständigen geschichtlichen Bewegung. Sobald sie zu dieser Reife gelangt, sind alle Sekten wesentlich reaktionär.“ (Karl Marx, Brief an Bolte, 29.11.1871)
Andererseits scheint es mir widersprüchlich, die Relevanz und die Notwendigkeit der Rolle der Revolutionäre für das Aufkommen eines adäquaten Bewusstseins durch die Zirkulation gewisser Informationen und die Ausführung exemplarischer Aktionen zu beteuern und sich gleichzeitig nicht an einen gewissen gesellschaftlichen Sektor zu richten. Das Proletariat erziehen zu wollen ist gerade noch so akzeptabel (ja, echt...), doch diese interklassistische Scheisse namens „die Leute“ erziehen zu wollen, geht mir doch etwas zu weit.
Die unter euch am meisten verbreitete Position, so scheint mir, – wie ich sie heute verstehe – kann in zwei Postulaten zusammengefasst werden:
1) Die Revolution bleibt möglich, doch sie wird das Werk von Gattungsindividuen sein, die Klassenunterschiede sind (zumindest teilweise) überwunden durch die Entwicklung des Kapitals;
2) es gibt Möglichkeiten und Wege, um diese Gattungsindividuen zu subversiven Aktionen zu veranlassen.
Ich bin vom Gegenteil überzeugt: Einerseits existiert weiterhin eine Teilung der Gesellschaft in Klassen und der Widerspruch zwischen ihnen ist der Motor jeder zukünftigen Revolution. Aufgrund der Verwertung des Wertes – und somit die Erpressung des Mehrwerts – ist die grundlegende Tätigkeit, welche diese Welt vorwärts treibt immer noch und stets die Arbeit – die produktive Arbeit nicht weniger als in der Vergangenheit – die zwangsläufige Vermittlung, durch welche sich die Verwertung manövrieren muss, erzeugt weiterhin den grundlegenden Widerspruch, der dieser Gesellschaft zugrunde liegt. Das Proletariat bleibt also aufgrund seiner internen Position in der Reproduktion des Kapitalismus – da es sie möglich macht und sie aus dem gleichen Grund zerstören kann – das historische Subjekt der Revolution und des Klassenkampfes und die einzige wirkliche und mögliche Dynamik desselben.
Andererseits glaube ich nicht mehr an irgendeine äussere Vermittlung zwischen Proletariat und Revolution: „Es gibt keine autonomen Organisationen des Proletariats, welche nicht gleichzeitig Tätigkeit des Proletariats sind, die die Welt und, mit der Welt, es selbst kommunisiert. Folglich existiert die Frage nicht, ob die Revolutionäre gegenüber dem Proletariat inner- oder ausserhalb stehen.“ (La Banquise, Le roman de nos origines, 1983)
Letztendlich erscheinen alle Probleme in Verbindung zum Verhältnis mit den „Massen“ sobald man eine Position ausserhalb sucht. Die Unterscheidung zwischen „Arbeiterbewegung“ und „sozialistischem Bewusstsein“, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts aufkam und seitdem von fast allen reformistischen und revolutionären Strömungen im kommenden Jahrhundert verstärkt wurde, materialisierte sich in der historischen Trennung zwischen wirtschaftlichem Kampf (die Gewerkschaft, die Taktik usw.) und politischem Kampf (die Partei, die Föderation, die Strategie usw.) mit dem Ziel, ein Programm zu verwirklichen; diese Unterscheidung wurde, nicht in der Welt der Ideen, sondern in der Praxis von der radikalen Minderheit der 1970er Jahre überwunden. Sie schloss aus dieser Erfahrung „die historisch noch nie da gewesene Gewissheit: die Möglichkeit eines Kommunismus, der ohne ’Übergangsphase’ verwirklicht werden kann“ (Giorgio Cesarano, Piero Coppo, Joe Fallisi, Cronaca di un ballo mascherato, 1974), „der Aufbau einer neuen Ordnung durch die Zerstörung der alten“ (« Ludd. Bollettino d’informazione », Nr. 1, Oktober 1969). Vergessen wir nicht, dass sich aus der Frage der „Übergangsphase“ (die auch im offiziellen Anarchismus früher wie auch heute durchaus präsent ist) Problematiken ergeben wie die Machtergreifung, das Bündnis mit anderen gesellschaftlichen Klassen usw.
„In den etwa 15 Jahren, welche das Datum „68“ symbolisiert, taucht eine andere Perspektive auf, die mit diesen drei Strömungen verbunden ist und sie gleichzeitig überwindet: die Verweigerung gewerkschaftlicher und parteilicher Organisation; die Ablehnung jeglicher Übergangsphase, um die Grundlagen des Kommunismus aufzubauen, obwohl sie schon existieren; die Forderung einer Veränderung des alltäglichen Lebens, unserer Art zu essen, zu wohnen, zu reisen, zu lieben...; die Verweigerung der Trennung zwischen „politischer“ und „sozialer“ oder „wirtschaftlicher“ Revolution und jener zwischen der Zerstörung des Staates und der Erschaffung neuer Tätigkeiten, welche andere gesellschaftliche Verhältnisse in sich tragen; die Überzeugung, dass jeglicher Widerstand gegen die alte Welt, der sie nicht entscheidend angreift, indem er zum Unumkehrbaren tendiert, sie letztendlich reproduzieren wird. All das kann mit einem unbefriedigenden Begriff, den wir trotzdem provisorisch übernehmen, zusammengefasst werden: die Revolution als Kommunisierung.“ (Karl Nesic, L’appel du vide, 2003)
Meine theoretische Hypothese – die wie alle anderen das Risiko eingeht, dass ihr die Tatsachen widersprechen – ist, dass diese Perspektive der Kommunisierung, die ausgehend von einer Minderheit in den 1970er Jahren in den Europa und den USA aufgekommen ist, erheblich aufgegriffen und ausgebreitet werden wird, wenn das Proletariat in der Lage sein wird, sich gegenüber dem Kapital offensiv zu positionieren (was im Moment nicht wirklich auf der Tagesordnung steht).
Ich glaube nicht, dass darin die sogenannten „Revolutionäre“ eine dermassen andere Position und dermassen andere „Aufgaben“ haben können als die anderen Proletarier, Angestellten oder Arbeitslosen. Ich denke nicht, dass man präzise sagen kann, was sie tun „müssen“. Der einzige Wink, den ich geben kann, ist, dass sie sich ausgehend von einem nicht-aktivistischen und durch und durch antipolitischen Ansatz und ihren eigenen individuellen und gesellschaftlichen Bedürfnissen selbst organisieren können wie alle anderen Proletarier.
Heutzutage geht es der sozialen Kritik schlecht. Kann man sagen, dass sie an einer mangelnden Verbreitung leidet? Man könnte auch behaupten, dass sie an Überbelichtung leidet: Sie ist zu einem Gemeinplatz geworden, der glaubt, alles auswendig zu kennen.
Die Annahme zum Beispiel, dass „der Kapitalismus seine eigenen Totengräber erzeugt“ wird vielen als archaisches marxistisches Dogma erscheinen, ohne dass das Verständnis darüber hinaus ginge. Doch im Licht der Tatsachen kann nur der Widerspruch zwischen Kapital und Proletariat seine Überwindung produzieren: Abschaffung des Werts, des Eigentums, des Staates usw. Das kapitalistische gesellschaftliche Verhältnis als etwas homogenes und steriles zu konzipieren führt dazu, dass man ausserhalb davon dessen Opposition sucht, in gewisser Weise etwas, das vorher schon da gewesen wäre oder daneben existierte. Doch die Opposition ist innerhalb des gesellschaftlichen Verhältnisses als solches: Sie befindet sich innerhalb des gesellschaftlichen Verhältnisses, solange das Überleben des Kapitals von der Tätigkeit des Proletariats abhängt. Es ist dieser widersprüchliche Charakter des gesellschaftlichen Verhältnisses, der eine Möglichkeit zum Ausstieg bietet. Die Individuen sind weder vom gesellschaftlichen Verhältnis „beeinflusst“, noch „korrompiert“. Die Lösung befindet sich in ihnen insofern, dass sie dieses gesellschaftliche Verhältnis sind und den Widerspruch, der sie strukturiert, leben. Sonst, ich wiederhole es, muss man suchen und herausfinden gehen, was dem Widerspruch vorausgeht: Etwas notwendiges wie „wiederentdecken“, „wiedererlangen“; es ist so oder so eine willkürliche Spekulation, egal welche Züge diese nach und nach annimmt.
Die Kämpfe, welche sich seit den 1960er Jahren am Rande der Lohnarbeit (gegen die Verschmutzung, die Psychiatrie, die Gefängnisse) entwickelt haben, bezogen ihre Kraft von der Tatsache, dass sie den Klassenkampf als unmittelbares Substrat hatten: Asbest, die Psychiatrie, die Schinderei der Gefängnisse wurden als Waffen der Bosse wahrgenommen. Das hatte eine doppelte Bedeutung: Einerseits war die proletarische Bewegung von damals, oder zumindest ein Teil davon, auch für jene, welche von der Lohnarbeit ausgeschlossen waren (von den Studenten bis zu den Kleinkriminellen und Gefangenen), zum zentralen Bezugspunkt geworden; andererseits wurde diese Minderheit nun zur Trägerin einer totalen Kritik des Systems. Was geschieht, wenn der Klassenkampf an Intensität verliert, gar fast vollständig verschwindet, wie in allen Perioden der Konterrevolution? Entfernt von ihrem Bezugspunkt tendieren diese Kämpfe dazu, sich einzurollen. Ohne eine Wiederaufnahme des Klassenkampfes ist es unmöglich, dass sie, insofern sie wirklich existieren (wie seit Jahren im Val Susa gegen den TAV zum Beispiel), es schaffen, den gesellschaftlichen Kontext zu dynamisieren, die Situation zu „deblockieren“; früher oder später kommen sie in eine Sackgasse. Es soll gesagt sein, dass das Niveau der Konfrontation mit dem Staat und seinen Ordnungskräften nie ein verlässlicher Gradmesser für die Reife eines Kampfes sein und auch nicht aufdecken kann, wovon er der Träger ist: Sozialdemokraten und Konservative aller Art befanden sich auch schon einige Male in Konfrontation mit dem Staat und seiner Polizei, ohne dass ihre Gewalt irgendeinen revolutionären Gehalt gehabt hätte.
Es gibt kein revolutionäres Erbe, das für sich die Reinheit in Anspruch nehmen kann und es erlaubt, alles ganz einfach und unbeschwert zu verstehen.
Verschiedene Strömungen, welche zumindest mit einer praktischen Kritik, die nicht immer möglich ist, in Kontakt waren, haben einige tiefsinnige Wahrheiten ausgedrückt. Es reicht, an die heute verkannte italienische kommunistische Linke („Bordigisten“) zu denken, welche, wenn auch im Rahmen eines rigiden Marxismus, häufig sehr respektable Positionen verteidigt hat: gegen die antifaschistischen Volksfronten, gegen den Pädagogismus, gegen den Mythos der Wissenschaft und der Technik. Dann die deutsche Linke („Rätekommunisten“), die situationistische Internationale und natürlich sowohl der kollektivistische als auch der individualistische Anarchismus sowie noch andere. Diese Strömungen waren und bleiben alle gleich einseitig. Man kann von ihnen nur Elemente zurückbehalten, die eine mögliche Synthese erlauben, welche ausserdem immer wieder neu erstellt werden muss.
„Die Anarchisten haben ein Ideal zu verwirklichen. Der Anarchismus ist die noch ideologische Negation des Staates und der Klassen, d.h. der gesellschaftlichen Bedingungen selbst der abgesonderten Ideologie. Er ist die Ideologie der reinen Freiheit, die alles gleichmacht und jede Idee des geschichtlichen Übels beseitigt. Dieser Gesichtspunkt der Fusion aller Teilforderungen hat dem Anarchismus das Verdienst eingebracht, die Ablehnung aller bestehenden Verhältnisse für die Gesamtheit des Lebens zu repräsentieren und nicht hinsichtlich einer privilegierten kritischen Spezialisierung, aber da diese Fusion im Absoluten, nach der individuellen Laune, vor ihrer tatsächlichen Verwirklichung, betrachtet wird, hat sie den Anarchismus auch zu einer allzu leicht merklichen Zusammenhangslosigkeit verdammt. Der Anarchismus hat nur in jedem Kampf seine gleiche einfache totale Schlußfolgerung zu wiederholen und wieder aufs Spiel zu setzen, denn diese erste Schlußfolgerung war von Anfang an mit der vollständigen Vollendung der Bewegung gleichgesetzt worden. […] Ohne Zweifel behält diese Auffassung vom geschichtlichen Denken des Proletariats diese Gewißheit, daß die Ideen praktisch werden müssen, aber sie verläßt den geschichtlichen Boden, wenn sie voraussetzt, daß die adäquaten Formen für diesen Übergang zur Praxis schon gefunden sind und nicht mehr verändert werden. […] Die im echten Anarchismus mehr oder weniger ausdrücklich unterhaltene Illusion ist das ständige nahe Bevorstehen einer Revolution, die der Ideologie und der aus ihr abgeleiteten praktischen Organisationsform durch ihre augenblickliche Vollendung Recht geben soll.“ Guy Debord, Die Gesellschaft des Spektakels, 1967.
Diese Kritik des Anarchismus bleibt auch nach vierzig Jahren sowohl erbarmungslos als auch wahrheitsgetreu und ausgeglichen. Man sollte „Unmittelbarkeit des Kommunismus“ nicht mit „Augenblicklichkeit“ verwechseln.
Die anarchistische Theorie und Praxis, wie sie heutzutage in Erscheinung tritt, tendiert dazu, die Grenzen der Kämpfe als etwas äusseres, auferlegtes zu sehen. Daher die vergebliche Praxis des „Stossens“ während Demonstrationen: Man glaubt, etwas „befreien“ zu können, das existiert, jedoch blockiert bleibt (von den Bürokratien der Bewegung, den sogenannten „Feuerwehrmännern“ usw.). In Wirklichkeit sind diese Grenzen ausnahmslos innere Grenzen und das Produkt der Kämpfe selbst. Schauen wir noch einmal die Vergangenheit an, die Geschichte der alten Arbeiterbewegung. Die Gewerkschaftsbürokratien und die Parteien sind nicht vom Himmel gefallen, sie wurden schlichtweg nicht „auferlegt“. Sie sind das Produkt der Tätigkeit des Proletariats, der Probleme, mit welchen es auf dem Weg seiner Organisation konfrontiert war, da es zu einem gewissen Moment seiner Geschichte Probleme nur lösen konnte, indem es Führungsfunktionen an eine spezifische Kategorie von Anführern delegierte. Was geschah in Russland nach 1917? Wie schaffte es die bolschewistische Partei, die Sowjets zu „monopolisieren“, ihnen jegliche Funktion zu entziehen und sie danach verschwinden zu lassen? In Wirklichkeit waren die Mitglieder der Partei Lenins die einzigen, welche konkrete Vorschläge machten und es waren Vorschläge, die „passten“. Alles andere war nur folgenloses Geschwätz.
Andererseits sind alle Versuche gescheitert, die Basis eines Dispositivs gegen die Anführer zu legen. Heute noch hat die (zunehmend lächerliche) Basis des radikalen Demokratismus, das was übrig bleibt zwischen Nichi Vendola (http://de.wikipedia.org/wiki/Nichi_Vendola) und den Resten der Autonomie, die Anführer, die sie verdient.
Es gibt keinen Willen, der sich behauptet. Wenn der Wille zum höchsten Wert wird, lässt sich der Wahn blicken.
Die Bedingungen der Unterordnung unter die Schicksale des radikalen Demokratismus, welche die Bewegung der direkten Aktion erdulden musste, versetzt sie in die gleiche Position wie der alte Linkskommunismus (Lotta Continua, Potere Operaïo usw.) im Verhältnis zum PCI: Es ist der Versuch, den „wahren“ Antikapitalismus, den „wahren“ Antifaschismus zu verkörpern, um die „Massenbasis“ des Reformismus zu gewinnen. Doch ohne einen Raum autonomer Mobilität lohnt sich das Spiel nicht: Als der PCI sich auflöst, existiert Lotta Continua bereits nicht mehr. Im Wettbewerb mit dem PCI werden sich einige vom besten Willen getriebene Persönlichkeiten in eine Bande von Gangstern, in Schutzgelderpresser verwandelt.
Jeder, der behauptet zu intervenieren mit dem Ziel, die aktuellen Kämpfe von ihren eigenen Grenzen zu befreien, kann nur ebendiese Grenzen reproduzieren.
„Der radikale Demokratismus ist jene Tätigkeit, welche die Grenzen des Klassenkampfes dieses Zyklus als unüberwindbaren Horizont formalisiert; die Bewegung der direkten Aktion sieht sich selber als Formalisierung der Dynamik dieses abstrakten Zyklus des unmittelbaren Ganges des Klassenkampfes, er verwandelt den Klassenkampf in einen Kampf zwischen zwei abstrakten individuellen Situationen: die Subversion und die Unterwerfung. Für die Bewegung der direkten Aktion und den radikalen Demokratismus geht es nur noch, um einen Kampf um die Vergesellschaftung freier Individuen: die gute, subversive und freie gegen die schlechte, zwingende und entfremdete.“ (Théorie Communiste Nr. 17, S. 73)
Wenn man sagt: „Die Normalität unterbrechen“, „Momente des Bruches erschaffen“, spricht man nur von den Modalitäten des Kampfes innerhalb eines Klassenkampfes (und sogar die Revolte ist eine dieser Modalitäten): Es geht um ein anderes gesellschaftliches Verhältnis als jenes des Kapitalismus, das sich augenblicklich in solchen Momenten zeigte. Es wäre nicht mehr ein Kampf innerhalb eines widersprüchlichen gesellschaftlichen Verhältnisses, sondern zweier verschiedener Verhältnisse, die sich in direkter Konfrontation gegenüber stehen. Man verliert damit den Sinn für den totalen Bruch, wenn das neue gesellschaftliche Verhältnis faktisch schon im individuellen Lebensstil (von der Ernährung bis zu den musikalischen Vorlieben) sowie in der kollektiven Bewegung (die berühmte nie bezeugte „Art des Zusammenlebens“) präsent ist, es wird reichen, dass all das sich ausbreitet. Ich sage das, um zu zeigen, in welcher Hinsicht der radikale Demokratismus und die Bewegung der direkten Aktion einige Sachen gemein haben, einige mehr als sie denken; sie praktizieren auf ähnliche Art und Weise ihre respektiven Tätigkeiten auf einer materiellen Grundlage, von welcher sie sich autonomisieren: der Klassenkampf.
Mittlerweile ist der radikale Demokratismus auf dem absteigenden Ast. Sein moralischer Reformismus hat keine Perspektive, die über öko-solidarischen Handel hinausgeht und war unfähig, sich gesellschaftlich durchzusetzen. Er könnte in den nächsten Jahren die letzten Bastionen verlieren, die ihm bleiben. Und was wird mit der „Bewegung der direkten Aktion“ geschehen? Es zeigen sich umgekehrte Tendenzen. Ein Teil davon wird gewiss zum Klassenkampf übergehen. Dieser Beitrag ist ein Zeugnis dieser Tendenz.
Versteht nach all dem, dass ich nicht das geringste Interesse habe, den bis anhin gegangenen Weg weiterzugehen, ohne ihn jedoch a posteriori in Abrede zu stellen oder herabzuwürdigen, was wirklich absurd wäre. Ihr bleibt selbstverständlich (beinahe) die einzigen, mit welchen es Sinn macht, ein politisches Verhältnis zu haben, die problematischen Punkte, die ich etwas zusammenfassend angegangen bin, hindern mich jedoch heute, an einer Aktion mit euch teilzunehmen: Es wäre Selbstverstümmelung und ausserdem eine ziemlich unehrliche Haltung euren Kämpfen gegenüber.
Doch keine Angst, ihr werdet mich noch lange antreffen.
„la vanità tua e mia
all’espressione timida
d’un timido confronto,
lo stesso andremo fieri:
come l’amore dico.
Come l’amore non sappiamo dove e perché
come l’amore non possiamo forzare o sfuggire
come l’amore spesso noi piangiamo
come l’amore raramente rispettiamo“
(Wystan Hugh Auden, Un’altro tempo, 1940)
Robert Ferro,
Passo Principe sul Catinaccio, Juli 2010
Übersetzt aus dem Französischen von Kommunisierung.net