Der neonazistische Mord an Halit Yozgat in Kassel 2006 (zum 7. Todestag des neunten Mordopfers neonnazistischen Terrors)
Wenn der hessische Verfassungsschutzmitarbeiter Andreas Temme in wesentlichen Punkten eine Falschaussage gemacht hat, wenn der Neonazi und V-Mann, mit dem der VS-Mitarbeiter mehrmals am Mordtag telefonierte zum NSU-Netzwerk gehört, wenn die Weigerung des damaligen Innenministers Volker Bouffier, eine Aussagegenehmigung für diese ›Quelle‹ zu erteilen, gar nicht dem Wohl des Landes diente, sondern der Verschleierung dieser Zusammenhänge … warum werden dann nicht die Ermittlungen neu aufgenommen?
In Kassel ereignete sich am 6. April 2006 der neunte Mord, der dem Nationalsozialistischen Untergrund/NSU zugeordnet wird. Während der Mord an Halit Yozgat aus kriminalistischer Sicht professionell und kaltblütig ausgeführt wurde, scheinen alle Umstände drum herum – wieder einmal – dem puren Zufall geschuldet zu sein. Zu diesem zählt wohl auch, dass abermals ein Mord ins ›ausländische Milieu‹ abgeschoben wurde. Dass »nie Richtung Rechtsextremismus ermittelt wurde« (FR vom 24.11.2011) bekommt im Mordfall Kassel eine besondere Bedeutung. Hätte man dies getan, wäre man u.a. auf den Escortservice des Verfassungsschutzes für Neonazis gestoßen. Die einzigen, die an der offiziellen Version Zweifel hegten, waren migrantische Vereine und Organisationen: Sie riefen für Mai 2006 zu einem Trauermarsch auf, dem über 2.000 kurdische, alevitische und türkische Menschen folgten. Der Trauermarsch stand unter dem Motto: ›Kein 10. Mordopfer‹. Sie waren fast vollständig unter sich. Das rassistische Stereotyp vom ›kriminellen Ausländer‹ wurde nicht nur von der medialen Öffentlichkeit bereitwillig und kritiklos aufgenommen. Man nutzte das Stigma zugleich, das Opfer in den toten Winkel der kritischen als auch der linken Öffentlichkeit abzulegen – sehr erfolgreich.
Das Internetcafé ist am 6. April 2006 durchschnittlich besucht, als ein Mann das Geschäft gegen 17 Uhr betritt, an die Theke tritt, eine Pistole mit Schalldämpfer zieht und kurz darauf mit zwei Schüssen in den Kopf den Internetbesitzer Halit Yozgat schwer verletzt. Halit Yozgat stirbt noch am Tatort. Die Mordkommission sichert kurze Zeit später den Tatort. Man hält die Personalien der noch anwesenden Internetbesucher fest, sichert die Spuren, die Internetbenutzerdaten (und die Videobänder der Überwachungskamera). Dem Aufruf der Polizei, sich als mögliche ZeugInnen des Mordes zu melden, folgen fünf Personen, die einen weiteren Besucher erwähnen. Die Polizei kann die Identität dieser Person feststellen: Es ist Andreas Temme. In den ersten Vernehmungen stellt sich Andreas Temme als Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes vor und erklärt, er habe zur fraglichen Zeit in einem Erotik-Portal gesurft. Das sei auch der Grund gewesen, sich nicht als möglicher Zeuge zu melden. Weiterhin behauptet er, dass er weder von dem Mord etwas mitbekommen habe, noch den Täter gesehen habe. Mit diesen Aussagen macht sich die Mordkommission an die Arbeit. Sie bringt in Kenntnis, dass Andreas Temme neben behaupteter ›Chat-Affäre‹ zur selben Zeit im operativen Einsatz war. Auf seinem Handy werden Verkehrsdaten sichergestellt, die belegen, dass er sowohl vor als auch nach seinem Internetbesuch Telefonkontakt zu Neonazis hatte. Unmittelbar zuvor hatte er »mit einem von ihm geführten V-Mann aus der Kasseler Neonazi-Szene telefoniert.« (FR vom 8.6.2012). Genau jener Neonazi war nach Informationen der Frankfurter Rundschau vor seiner Anwerbung »dreimal bei Kundgebungen in Thüringen« (FR vom 24.11.2011) Damit konfrontiert, erklärt Andreas Temme, dass er V-Mann-Führer dieses Neonazis sei. Um aufzuklären, welche Rolle diese Telefonate mit Neonazis spielen, während zeitgleich ein türkischer Internetcafebesitzer ermordet wurde, beantragt die Polizei Aussagegenehmigungen für den vom VS-Mitarbeiter Temme geführten Neonazi. Diese Amtshilfe wird zuerst vom Chef des hessischen Verfassungsschutzes, wenig später vom Hessischen Innenminister Volker Bouffier abgelehnt: »Ich bitte um Verständnis dafür, dass die geplanten Fragen … zu einer Erschwerung der Arbeit des Landesamtes für Verfassungsschutz führen würden.«
Auch weigerte sich der Innenminister und heutige Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) in einer Innenausschusssitzung vom 17. Juli 2006, zum Stand der Ermittlungen Stellung zu nehmen. Dermaßen mit Verschleierungen der Umstände konfrontiert, laufen alle Bemühungen der Aufklärung ins Leere. Dermaßen beschützt und abgeschirmt, werden die Ermittlungen gegen den VS-Mann Temme im Januar 2007 eingestellt. Eine Meisterleistung in Sachen Behinderung der Aufklärung und des Verschwinden-Lassens von taterheblichen Beweismitteln.
Was haben den Chef des hessischen Verfassungsschutzes und den damaligen Innenminister Volker Bouffier, als oberster Dienstherr, dazu bewogen, dem ›Schutz‹ des Verfassungsschutzes einen höheren Rang einzuräumen, als der Aufklärung eines Mordes? Was hätte der Neonazi und V-Mann des Verfassungsschutzes aussagen können, was den Verfassungsschutz hätte gefährden können?
Eine Antwort darauf zu geben, ist keine große Detektivleistung: Hätte der als V-Mann geführte Neonazi weder etwas mit dem Mord an dem Internetcafebesitzer zu tun, noch mit dem NSU, wäre er geradezu als Entlastungszeuge des in Nöten geratenen VS-Mitarbeiters Temme aufgerufen worden! Gefährden kann dieser Neonazi den hessischen Verfassungsschutz nur, wenn er eine Verbindung zu dem Mord, zu den Mördern herstellt!
Über vier Jahre lang gab es für diese naheliegende und einzig logische Schlussfolgerung keine Belege, keine Indizien. Alle an dem Mordfall beteiligten Behörden hielten dicht – von dem ansonsten so viel beschworenen Behördenwirrwarr keine Spur. Das änderte sich erst, als Beate Zschäpe als Folge der tödlichen Ereignisse am 4. November 2011 – mit der Versendung der Video-Kassetten – dafür sorgte, dass die Existenz des NSU nicht mehr geleugnet werden konnte. Seitdem wissen wir zwar noch lange nicht alles, aber genug, um die Behinderung, um die Verhinderung der Aufklärung dieses neonazistischen Mordes belegen zu können. Fast nichts stimmte, was damals als offizielle Version bekannt gemacht wurde:
Andreas Temme war kein Verfassungsschützer, sondern ein staatlich verbeamteter Verfassungsfeind. In seiner Jugend gab man ihm den Namen ›Kleiner Adolf‹, dem er auch als V-Mann-Führer von Neonazis gerecht wurde. In seiner Wohnung fand man Auszüge aus Hitlers ›Mein Kampf‹ und weitere neonazistische Propaganda. Und was das hessische Innenministerium über fünf Jahre erfolgreich zu schützen versuchte, ist mittlerweilen auch bekannt: Andreas Temme hat am Tattag nicht mit irgend einem Neonazi telefoniert, sondern mit Benjamin G.: »Benjamin G. hatte offenbar über seinen Stiefbruder, der in der Kasseler Szene ein bekannter Rechtsextremist gewesen sein soll, Zugang zu Neonazigruppen. Der Stiefbruder soll zum Beispiel im rechtsradikalen Netzwerk ›Blood & Honour‹ aktiv gewesen sein. Bitten der Polizei, auch diese Quellen befragen zu dürfen, um so einen ausländerfeindlichen Hintergrund des Yozgat-Mordes abzuklären, seien vom Verfassungsschutz aber abgebügelt worden, heißt es. Der ›Spiegel‹ zitiert in seiner aktuellen Ausgabe einen Verfassungsschützer, wonach derlei Geheimhaltung für ›das Wohl des Landes Hessen‹ bedeutsam gewesen sei. Der Mord an Halit Yozgat sei demgegenüber nicht so wichtig gewesen.« (Hessische/Niedersächsische Allgemeine/HNA vom 9.9.2012)
Dass genau der Neonazi, mit dem VS-Mann Temme mehrmals am Mordtag telefonierte, nicht nur beste Kontakte zur Kasseler Neonaziszene, sondern auch zum NSU-Netzwerk hatte, unterstreicht die Liste, die BfV/Bundesamt für Verfassungsschutz und BKA im Oktober 2012 zusammengestellt haben: Auf ihr sind 129 Personen aufgeführt, die diese beiden Behörden zum NSU-Netzwerk zählen: »Auch Benjamin G. gehört zu den neuen Namen auf der 129er-Liste. G., ein Neonazi aus der Umgebung von Kassel, hatte unter der Bezeichnung ›GP 389‹ von 2003 bis mindestens 2006 für das hessische Landesamt für Verfassungsschutz gespitzelt.«
Wenn man weiß, dass bei allen neun Morden, Neonazis aus der betreffenden Region, aus der betreffenden Stadt mit dem Ausspähen von Örtlichkeiten und Opfern eingebunden waren, dann weiß man, was das hessische Innenministerium um jeden Preis verhindern wollte: Ermittlungen, die dem Verdacht nachgehen, dass ein vom Verfassungsschutz geführter Neonazi am Mord des Internetcafebesitzers beteiligt war, Ermittlungen, die dem Verdacht nachgehen, dass der V-Mann Führer Andreas Temme seine ›Quelle‹ erfolgreich abgeschöpft hatte, also von den Mordvorbereitungen, vom Mord selbst gewusst haben müsste.
All dies erklärt jedenfalls viel schlüssiger, dass nicht die angebliche oder aber auch inszenierte ›Chat-Affäre‹ der Grund war, seine Anwesenheit zu Mordzeit zu verheimlichen, sondern die mögliche Verwicklung in diesen neonazistischen Mord. Bekanntlich reichen für den Vorwurf der Beihilfe zu Mord auch ›unsichtbare Tatbeiträge‹, wie das Gewähren-Lassen einer Tat, das Führen und Decken von Mittätern. Wie berechtigt dieser Vorwurf ist, belegt ein weiteres Indiz. Jahrelang behauptete man, Andreas Temme habe vor dem Mord das Internetcafe verlassen. »Nun heißt es nicht mehr, der Mann habe den Tatort eine Minute vor dem Mord verlassen, sondern er könne noch im Café gewesen sein.« (FR vom 17.11.2011)
Aus dem Konjunktiv ist nach sechs weiteren Monaten ein Fakt geworden: »Anhand der Ein- und Ausloggzeiten hat die Polizei ermittelt, dass er während Yozgats Hinrichtung am Tatort war.« (Mely Kiyak, FR vom 30.6.2012) Dementsprechend wurden die Aussagen des V-Mann-Führers nachjustiert. Jetzt soll es so gewesen sein: »Er legte die 50 Cent für die Computernutzung auf die Ladentheke, hinter der wohl schon die Leiche lag. Die Polizei fand diese 50 Cent am Tatort.« (FR vom 24.11.2011) Manchmal können auch nachgebesserte Aussagen fatale Folgen haben: Denn was immer als Theke bezeichnet wurde, ist tatsächlich nicht mehr als ein Schreibtisch gewesen, der bekanntlich wesentlich niedriger ist. Wenn also V-Mann-Führer Temme nach dem Mord bezahlt hat, dann hat er seine 50 Cent Münze auf einen Schreibtisch gelegt, der voller Blutspritzer war, dann konnte er gar nicht an dem hinter dem Schreibtisch liegenden Ermordeten vorbeisehen. Die Behauptung von Herrn V-Mann-Führer Temme, er habe von dem Mord gar nichts mitbekommen, ist jetzt noch unhaltbarer.
Ob das Wahrscheinliche oder wieder einmal das Unwahrscheinliche am 6. April 2006 geschehen ist, ist relativ einfach zu klären:
Öffentlichmachung aller Akten, die im Zusammenhang mit dem als V-Mann geführten Neonazi Benjamin G. existieren
Vernehmung des Neonazi Benjamin G.
Phonische Auswertung der Gespräche, die Andreas Temme mit seinem Diensthandy vor, an und nach dem 4. April 2006 gemacht hatte
Öffentlichmachung des Tatortfotos mit Schreibtisch
Strafanzeige gegen VS-Mann Temme wegen dringenden Verdachts der Falschaussage und der Beihilfe zu Mord.
Einrichtung einer unabhängigen Untersuchungskommission, die die Umstände dieses Mordes neu aufrollt.
Wer zu dem Neonazi Benjamin G. mehr weiß, wer den Nachnamen kennt und genauere Informationen zu diesem Stiefbruder hat, der möge sich melden: www.wolfwetzel.wordpress.com über die Kontaktmöglichkeit.
Wolf Wetzel 6. April 2013
Autor des Buches:
Der NSU-VS-Komplex. Wo beginnt der Nationalsozialistische Untergrund – wo hört der Staat auf?
Unrast Verlag 2013, ISBN: 978-3-89771-537-0
Wohnt in Helsa bei Kassel
Der Nazi heißt Benjamin Gärtner, geboren am 23.11.1980 in Kassel
Kassel
ganz herzlichen Dank für diese Information.
Jetzt wäre nur noch die Frage offen, wer etwas über den Stiefbruder, der in Blood & Honor Gruppen aktiv ist, weiß.
Auf jeden Fall könnten wir damit beweisen, dass wir zur "Aufklärung" mehr beitragen können, als allen "Aufkläreren" lieb ist. In diesem Sinne sollten wir weitermachen.
Wolf Wetzel
Über Stiefbruder zum Nazi geworden
Der als Anführer der Kameradschaft Karlsruhe bekannte Stiefbruder von Benjamin Gärtner heißt Christian Wenzl.