Übersetzung: Aufstand vs. Organisation. Betrachtungen aus GR über eine sinnlose Spaltung

Aufstand vs. Organisation

Vorwort der Übersetzenden
Insurrection vs. Organisation. Reflections from Greece on a Pointless Schism wurde 2007 geschrieben, 2010 erschien der Text erneut in der Broschüre Koukoulofori: stories, lessons and inspiration from the greek anarchist movement, einer sehr lesenswerten Annäherung an das Phänomen der griechischen anarchistischen Bewegung, die spätestens seit der Dezember-Revolte 2008 unter Anarchist_innen weltweit für Verzauberung und Hoffnung Anlass gibt.
Im Grunde geht es um die für viele Anarchist_innen zentrale Frage: Wie kann die anarchistische Bewegung gestärkt werden?
Gelderloos plädiert in diesem Zusammenhang für einen Pluralismus innerhalb der anarchistischen Bewegung, anstatt sich in inneranarchistischen Grabenkämpfen zu verlieren. Der Text spricht damit ein Thema an, das weit über Griechenland oder die USA hinaus von grosser Relevanz für Anarchist_innen aller Couleur ist. Auch im deutschsprachigen Raum werden politische Fragen innerhalb des radikalen Spektrums oft als eine Angelegenheit des «entweder-oder» diskutiert, was nicht selten zu Streit und Spaltung führt. Der Text unternimmt den Versuch, eine Synthese zwischen den vermeintlichen Gegensätzen – insurrektionalistische, informelle Perspektive auf der einen, formelle Organisation auf der anderen Seite – zu finden, ohne dabei die Kritik an beiden Formen zu vernachlässigen bzw. ihre Eigenheiten aufzulösen. Es geht schliesslich weniger darum, einen Konsens herzustellen, als vielmehr die teilweise sehr verschiedenen Ansätze eines anarchistischen Kampfes als unterschiedliche Herangehensweisen zu akzeptieren und darauf aufzubauen.
In vergleichsweise verständlicher Sprache geschrieben, gehört «Aufstand vs. Organisation» zu einer Sorte Text, die in anarchistischen Zirkeln momentan nur wenig Anerkennung zu finden scheint. Im Unterschied zu vielen anderen anarchistischen Schriftwerken widersteht der Text der Versuchung, sich über die Kritik an anderen Positionen zu profilieren, den eigenen Standpunkt über die Ablehnung der Anderen zu definieren. In Zeiten fehlender revolutionärer Perspektiven scheint der Drang nach Abgrenzung, das unbewusste Hochhalten von Worthülsen und das sture Beharren auf den eigenen Konzepten oft stärker zu sein als der Wunsch nach dem kollektiven Erarbeiten von konkreten Strategien für die nahe Zukunft. Wir finden das bedauerlich und möchten dem mit dieser Broschüre etwas entgegen halten.
Die Verbreitung dieses Textes ist denn auch mit dem Aufruf verknüpft, bereits vollzogene Brüche zu hinterfragen, neue zu verhindern und an deren Stelle eine solidarische Kritik der verschiedenen Organisationsformen zu setzen.

Anmerkungen zur Übersetzung: Wir haben eigene Untertitel gesetzt sowie einige Fussnoten hinzugefügt, um die Übersichtlichkeit und Verständlichkeit zu erhöhen. Nach längerer Diskussion haben wir uns zudem dazu entschlossen, den zentralen Begriff der organization bzw. der organizationalists mit Organisationalismus bzw. Organisationalist_innen zu übersetzen, auch wenn diese Begriffe im Deutschen so nicht existieren. Die Wortkonstruktion «organisierte Anarchist_innen» schien uns hierbei zu unpräzise und verwirrend.


 


 

 

Aufstand vs. Organisation. Betrachtungen aus Griechenland über eine sinnlose Spaltung

(P. Gelderloos)

 

«Ich finde es furchtbar, dass unsere Bewegung überall zu einem Sumpf aus belanglosen persönlichen Streitereien, Anschuldigungen und Schuldzuweisungen verkommt. Es gibt zu viele von diesen miserablen Geschichten, insbesondere in den letzten beiden Jahren.»

Aus einem Brief von Alexander Berkman an Senya Fleshin und Mollie Steimer aus dem Jahre 1928. Im Nachwort ergänzt Emma Goldman:

«Liebe Kinder, ich stimme Sasha vollkommen zu. Ich bin zutiefst erschüttert ob dem Gift der Unterstellungen, der Vorwürfe und Beschuldigungen innerhalb unserer Reihen. Wenn das nicht aufhört, gibt es keine Hoffnung auf ein Wiederaufleben unserer Bewegung.»


Zum Glück vermeiden die meisten Anarchist_innen in den USA jede ideologische Orthodoxie und weichen sektiererischen Trennungen aus. Unglücklicherweise scheinen die meisten von uns ebenso zu vermeiden, ernsthaft Strategien zu entwerfen. Jene, die diesen Schritt wagen, tendieren stärker zu dieser oder jener Orthodoxie, so dass Aussenstehende, die die anarchistischen Journale des Landes lesen, den Eindruck gewinnen könnten, dass die Bewegung tatsächlich sektiererisch sei. In der Tat gibt es viele Kontroversen, aber keine klaren Spaltungen. Eine Kluft jedoch, die sich momentan verstärkt auftut, ist dieselbe, die sich durch einen grossen Teil Europas zieht: Die Debatte zwischen Aufstand und Organisation. Erstere Position überschneidet sich mit post-linken Anarchist_innen, letztere wird oft von anarchistischen Kommunist_innen vertreten. Hier in Griechenland, wo ich die letzten beiden Wochen verbracht habe, ist die Kluft zwischen den insurrektionalistischen Anarchist_innen, die mit dem Schwarzen Block assoziiert werden und der massiv organisierten «Antiautoritären Bewegung» (Alpha Kappa, kurz AK genannt) sehr gross.


In dieser, wie in den meisten anderen Kontroversen, in die Anarchist_innen verwickelt sind, scheint es eine fortbestehende Neigung zu gewissen westlichen Werten zu geben, die grundlegend sind für Staat und Kapitalismus: Ein auf Dichotomien aufbauendes Weltbild sowie eine logische Struktur, die erschreckend monotheistisch ist. Wenn es zum Beispiel zwei verschiedene revolutionäre Strategien gibt, sehen das viele von uns nicht als zwei von verschiedenen Gruppen von Menschen begangene Wege. Statt den eigenen Weg zu gehen und gleichzeitig zu versuchen, den der Anderen zu verstehen, wird davon ausgegangen, dass einer der beiden falsch sein muss (dies ist mit grosser Sicherheit der Weg der Anderen).


Jene von uns, die mit weissen Privilegien aufgewachsen sind, wurden zu schlechten Zuhörer_innen erzogen und es ist eine verdammte Schande, dass wir die Betonung immer noch nicht auf einen Pluralismus legen, wie ihn Magonistas (1) und indigene Anarchist_innen lehren. Ich würde sehr gerne den momentanen Diskussionen im Internet die Schuld zuschieben, da es offensichtlich sehr einfach ist, ein Arschloch zu sein und jegliche gesunde, wechselseitige Unterhaltung über Differenzen zu sabotieren, wenn du sie bereits zu Worten auf dem Bildschirm abstrahiert hast. Aber die Spaltungen sind weitaus älter als die Telekommunikation (obwohl unsere starke Abhängigkeit vom Internet es zweifellos wahrscheinlicher macht, dass Uneinigkeit sich in kontraproduktives Gezänk verwandelt).


Ihr könnt mich naiv nennen, aber ich denke, dass ein Grossteil der internen Streitigkeiten mehr einer schlechten Kommunikation und der grundlegenden monotheistischen Weltsicht angekreidet werden können als dem tatsächlichen Inhalt unterschiedlicher Strategien. Ohne Zweifel sind die Inhalte wichtig, zum Beispiel die notwendige Kritik an der Verwaltung der Rebellion durch die Linke, die von den insurrektionalistischen Anarchist_innen (ich zögere, einfache Zuschreibungen zu benutzen, aber der Einfachheit halber werde ich diesen Begriff benutzen) in Umlauf gebracht wurde. Aber selbst wenn gewisse Leute alle richtigen Antworten gefunden haben, wird sie nichts davon abhalten, den Weg der ersten anarchistischen Bewegung einzuschlagen, wenn wir nicht alle lernen, über unsere Unterschiede auf bessere Art und Weise zu kommunizieren und ein besseres Verständnis dafür zu entwickeln.


In Griechenland hat die Spaltung zwischen Insurrektionalist_innen und Antiautoritärer Bewegung sogar zu physischen Auseinandersetzungen geführt. Auf beiden Seiten haben Leute Scheisse gebaut. Aus dem Schwarzen Block wurden inmitten eines Tumults Molotow-Cocktails auf die Polizei geworfen, wodurch Demonstrant_innen Verbrennungen erlitten. AK-Leute schikanierten und verprügelten Anarchist_innen, die sie verdächtigten, während einer von AK organisierten Veranstaltung in der Universität einige Computer gestohlen zu haben, was sie in Schwierigkeiten gebracht hat. Als Reaktion darauf brannten Insurrektionalist_innen die Büros der Antiautoritären Bewegung in Thessaloniki nieder. In Verallgemeinerungen sind schnell Stereotypen zur Stelle, die sicherstellen, dass die andere Seite der Feind ist: «Die unorganisierten Insurrektionalist_innen schmeissen sogar Molotow-Cocktails auf andere Demonstrant_innen!» oder «Die formell organisierten Anarchist_innen spielen sich als Polizei der Bewegung auf». Schnell können wir das vorgefertigte Bild der faulen, chaotischen Insurrektionalist_innen bzw. der eigentlich autoritären, sich anarchistisch nennenden Marxist_innen erkennen, das die tatsächlich Beteiligten in Abstraktionen verwandelt.


Ich will nicht behaupten, dass es keine ernsthaften Schwachstellen in bestimmten oder in allen diesen Gruppen gibt, an denen gearbeitet werden muss. Ich glaube nicht einmal, dass man beiden Seiten gleichermassen die Schuld geben kann. Tatsächlich neige ich dazu, mit Leuten, die eine beschissene Hippie-Konfliktlösung nach dem Motto «Ich bin okay, du bist okay, alle sind okay» bevorzugen, die Kritik zu Gunsten eines scheinbaren Friedens verhindert, ziemlich heftigen Streit anzufangen. Aber in Thessaloniki und Athen habe ich Leute beider Seiten getroffen, die meisten von ihnen waren sehr nett; Leute, die ich gerne als Nachbar_innen hätte, nachdem wir zusammen den Staat zerschlagen haben. Einige von ihnen zogen über die andere Gruppe her, andere versuchten wirklich, Frieden zu schliessen, wobei sie auch Mitglieder ihrer eigenen Gruppe kritisierten, die jemandem der anderen Seite Unrecht getan hatten. Im Grossen und Ganzen sind diese Leute allerdings in der Minderheit und die Kluft vertieft sich. Die Plakate für eine Präsentation, die ich in Athen gemacht habe, wurden heruntergerissen, weil das soziale Zentrum, in dem ich untergebracht war, mit AK verbunden war (obwohl die Leute, die den Anlass eigentlich organisierten und mich aufnahmen, keine AK-Leute waren und versuchten, eine Mittelposition einzunehmen). Das Squat, in dem ich in Thessaloniki wohnte, war von Leuten besetzt, die den Insurrektionalist_innen nahestehen und mehrere von ihnen sagten mir, ich solle mich in Athen nicht mit den Leuten von AK abgeben.


Ich würde diese Probleme als speziell griechische einordnen, hätte ich nicht ähnliche Spaltungen in Deutschland und Bulgarien gesehen, hätte ich nicht auch in Frankreich Beschimpfungen gehört, die auf die gleichen internen Streitigkeiten zurückgehen, und die auf die anarchistische Buchmesse in Montreal überschwappten. Ebenso habe ich in der anarchistischen Presse in Grossbritannien und den USA eine Menge Auseinandersetzungen dieser Art gelesen. Weil ich aus den Staaten komme und ich dorthin zurückkehren werde, konzentriere ich mich auf die dort auftretende Form der Spaltung. Da die meisten US-Anarchist_innen auf alltägliche Aktivitäten konzentriert zu sein scheinen, denke ich, dass viele sich in dieser Spaltung nicht positionieren, oder sich nicht einmal bewusst darüber sind. Sie existiert gewissermassen als theoretische Uneinigkeit, jedoch ohne das unwahrscheinliche Gewicht, das schrille Persönlichkeiten im Verlauf der Auseinandersetzung bekommen (ok, einige Leute vom Anarchy Magazine oder NEFAC mögen dies anders sehen). So entstehen unversöhnliche Frontlinien, da personifizierte Ideologien noch starrsinniger sind. Daher haben wir in den USA im Moment die bessere Gelegenheit, mit dem Problem auf theoretischer Ebene umzugehen.


Stärken und Schwächen des Insurrektionalismus

Als Anhang (2) habe ich die Kritik aus vier Essays von beiden Seiten der Debatte angefügt, aber zuerst möchte ich allgemein darstellen, was meines Erachtens die Stärken und Schwächen beider Seiten sind. Von Insurrektionalist_innen kommen einige zentrale Beiträge, deren wichtigste Aussage wohl ist, dass es jetzt an der Zeit ist zu handeln und dass die Unterscheidung zwischen «Alternativen aufbauen» und «den Kapitalismus angreifen» falsch ist. Die Kritik an der linken Bürokratie als einer rekuperierenden (3) Kraft, als Staat innerhalb der Bewegung, der Rebellionen stets in den Schoss des Bestehenden zurückholt und so den Kapitalismus am Leben erhält, ist ebenso richtig – auch wenn häufig das Wort «Organisation» verwendet wird statt «Bürokratie», was zu Unklarheiten führen kann, denn für viele ist auch die Bezugsgruppe eine Organisationsform. Es kann zu einem gewissen Fundamentalismus führen, wenn einige vorhaben, alle formalen Organisationen zu exkommunizieren, selbst wenn die Beteiligten sie als temporäres Werkzeug sehen und nicht die grosse Gewerkschaft wollen (4).


Genauso haben die Insurrektionalist_innen eine Reihe von Schwachpunkten. Ihre häufige Kritik am «Aktivismus» tendiert dazu, oberflächlich und vage zu sein und spiegelt eher die Unfähigkeit wieder, mit dem persönlichen (oder beobachteten) Scheitern einer anderen Art von Aktion klarzukommen, als irgendein verbessertes theoretisches Verständnis zu signalisieren – was praktisch garantiert, dass sie die Fehler, denen sie im Aktivismus begegnet sind, reproduzieren oder schlicht das umdrehen, was auch immer sie letztlich als Insurrektionalist_innen tun (5). Auch gibt es einen gewissen Mangel an Klarheit in den Aktionsvorschlägen der Insurrektionalist_innen. Bezug nehmend auf die jüngsten Kämpfe in Mexiko, Argentinien, Algerien usw. sind Insurrektionalist_innen gut darin, deutlich zu machen, dass es darum geht, von Leuten zu lernen, die keine Anarchist_innen sind. Dieser Umstand ermöglicht ihnen aber auch, den Unterschied zwischen aufständisch und insurrektionalistisch zu verschleiern. Nahezu alle von ihnen schwören Ideologien ab, doch indem sie in historischen Beispielen von Aufständen schürfen, um daraus eine allgemeine Theorie und Handlungsanleitung zu fördern und herauszudestillieren, gewinnen sie das -istisch beim Unterscheiden, was aufständisch und was insurrektionalistisch ist. Sie haben scharfsinnig erkannt, dass das Aufständische in einem sozialen Kampf oft das effektivste, ehrlichste und anarchistischste Element ist; aber da sie nur durch die insurrektionalistische Brille schauen, vernachlässigen oder ignorieren sie all die anderen Elemente des Kampfes, an welche das Aufständische gebunden ist oder auf denen es sogar gründet, was häufig vorkommt. In diesem Fall bringt der -ismus jenes monotheistische Beharren mit sich, dass alle Elemente, die auf einen anderen -ismus reduziert werden können, verkehrt sein müssen. So wird uns gesagt, wir sollen die Augen aufmachen, wenn die Leute in Oaxaca Busse anzünden und autonome Räume verteidigen, aber wenn der von der Lehrergewerkschaft geführte Streik in weiten Teilen den Aufstand auslöst, wenn die Aufständischen entscheiden, sich für einen gewissen Zweck formell oder in der Legalität zu organisieren, sollen wir die Augen schliessen.


Insurrektionalist_innen rufen zu Aktionen innerhalb und ausserhalb von sozialen Bewegungen auf, womit ich einverstanden bin. Menschen sollten für sich selbst kämpfen, aus ihren eigenen Gründen und für ihr eigenes Leben, selbst wenn sie allein kämpfen müssen. Schliesslich sehen viele soziale Bewegungen am Anfang so aus, bevor sie als soziale Bewegungen anerkannt werden. Um eine Kritik zu kontern, die ich von einigen stärker auf Organisierung orientierten Anarchist_innen gehört habe: Es ist überhaupt nicht avantgardistisch, zuerst zu handeln oder sogar zu versuchen, Aktionen zu eskalieren, denn mit eigenen Motiven zu kämpfen oder andere Leute per Beispiel zum Handeln zu inspirieren, ist so ziemlich das Gegenteil von Avantgardismus. Tatsächlich ist ein herkömmliches Kennzeichen der Avantgarde die Ablehnung aller anderen Leute, die vor der Herde laufen (folglich: auch vor der Avantgarde der Herde). Allerdings sind insurrektionalistische Haltungen häufig von einer abschätzigen Sicht auf soziale Bewegungen begleitet, ganz so, als ob jede Bewegung von Natur aus autoritär, bürokratisch und rekuperativ sei (6). Wir sollten die Bedeutung sozialer Bewegungen nicht unterschätzen. Ich hatte vor kurzem die Gelegenheit, fünf Monate bei Anarchist_innen in der ehemaligen Sowjetunion zu verbringen, vor allem in der Ukraine, in Rumänien und in Bulgarien. Unisono erzählten mir die Anarchist_innen, die ich dort traf, dass die sozialistischen Diktaturen sämtliche sozialen Bewegungen zerstört hatten und anschliessend verhindert haben, dass neue entstehen. Als Erbe hinterlassen sie Leute, welche die Regierung hassen und ihr misstrauen (viele sind auch mit dem Kapitalismus unzufrieden), die aber zugleich über keinerlei Tradition oder Neigung verfügen, auf soziale Bewegungen zu setzen und sich an ihnen zu beteiligen – sie arbeiten nicht mal mit ihren Nachbar_innen zusammen. Die anarchistische Situation dort sieht bei weitem düsterer aus als in den USA: Die Anarchist_innen sind alleine, isoliert, ohne jeden klaren Ansatzpunkt für Aktionen, geschweige denn für einen Aufstand. Ein rumänischer Anarchist sagte: «Sich in meiner Heimat zu organisieren ist so, als ob ich in ein fremdes Land reisen würde, wo ich die Sprache nicht verstehe, und versuchen würde, dort die Anarchie aufzubauen». (In Polen und Tschechien ist die anarchistische Bewegung viel stärker. Das sind auch die beiden Länder, in denen sich in den 1980er Jahren dissidente soziale Bewegungen entwickelten. Übrigens wurde die Diktatur in Rumänien nicht durch eine Bewegung gestürzt, sondern durch einen in weiten Teilen inszenierten Aufstand – auch dieser kann rekuperiert werden.)


In diesem Licht erscheint es als eklatanter Mangel, dass Insurrektionalist_innen dazu neigen, Aktionen und Analysen zu meiden, die auf den Aufbau sozialer Bewegungen abzielen (wenn wir von Bewegung reden, ist damit ein grosses informelles Netzwerk oder eine Bevölkerung gemeint – die jedoch formelle Organisationen beinhalten kann –, die sich in Reaktion auf wahrgenommene Probleme als soziale Kraft konstituiert und anfangs ausserhalb der Reichweite routinierter und institutionalisierter Formen sozialen Handelns agiert).


Insurrektionalistische Vorschläge drehen sich meist darum, autonome Räume zu schaffen, die uns tragen und uns erlauben, ein gemeinsames anarchistisches Leben im Hier und Jetzt zu führen, die als Basis dienen, um gegen den Staat Krieg zu führen. Dieser Vorschlag ist so gut wie jede andere anarchistische Strategie, in der Tat ist er sogar ein gutes Stück besser als einige andere, aber genau wie die anderen herumschwirrenden Strategien wurde er schon einmal vom Staat besiegt. US-amerikanische Insurrektionalist_innen müssen nicht einmal die typische amerikanische Ausrede des Gedächtnisverlustes anführen; in diesem Fall ist der Isolationismus Schuld. Die in weiten Teilen anarchistische Besetzer_innenbewegung, die in den 1970ern und 1980ern in Westeuropa aufblühte (und als Schatten ihrer selbst bis heute überlebt), einschliesslich der deutschen Autonomen, hat diese Strategie – auf sehr ernstzunehmende Art – bereits erprobt. Heute setzen US-Insurrektionalist_innen die gleiche Strategie in Umlauf, aber ohne Veränderung, die ernsthaft genug wäre, um als Überarbeitung oder Lehre aus vergangenen Fehlern gelten zu können. Und selbst wenn sie jemals auch nur halb so viel Schwung entwickeln werden wie die Europäer_innen, was unter den aktuellen Umständen sehr unwahrscheinlich ist, so ist absehbar, dass sie exakt auf die gleiche Art enden werden: Eine isolierte, drogenabhängige Einöde ghettoisierter Subkulturen, in trotziger Geste eingefroren, eine Parodie ihrer selbst (ja, das ist eine pessimistische Sicht und sie setzt einige wunderbare Squats und soziale Zentren herab, die immer noch durchhalten, aber ich glaube, dass Insurrektionalist_innen darin mit mir übereinstimmen würden, dass es keinen Sinn macht, nach der Sonnenseite einer Bewegung zu suchen, die sich im Kapitalismus eingerichtet hat).


Und das geht so: Der Staat und die Kulturindustrie isolieren die Bewegung (indem sie beinahe wie taoistische Kampfkünstler agieren, sie in die Richtung stossen, in die sie ohnehin gehen, nur fester als diese beabsichtigten), überschwemmen sie (wie oft berichtet) mit harten Drogen, die eine neue Nachfrage befriedigen, da der Stress häufiger Polizeiangriffe im anhaltenden Belagerungszustand immer mehr zunimmt. Nicht alle können unter diesen Bedingungen leben, vor allem ältere Menschen und solche mit Kindern fallen raus oder flüchten sich in weniger kämpferische Formen. Die Militanten bleiben so lang hinter ihren Barrikaden, dass sie Insider-Ästhetiken und -Mentalitäten herausbilden; in diesem Moment befinden sie sich schliesslich im Krieg mit dem Rest der Welt. Letzten Endes verlieren die Rebell_innen alle echten Verbindungen zur Aussenwelt und damit jede Möglichkeit, den Kampf zu verbreiten. Derart geschwächt und ohne externe Solidarität wird die Hälfte der besetzten Häuser eins ums andere geräumt, die restlichen sind ausgepowert und geben den Kampf auf.


Wegen ihrer Nähe zu dieser Geschichte konnte eine gewisse Gruppe französischer Anarchist_innen die Schwächen dieser Strategie nicht einfach ignorieren. Diese Gruppe, Autor des Appel («Aufruf») (7), dem intelligentesten und einsichtigsten insurrektionalistischen (um ihm ein Etikett zu verpassen, das es selbst nicht beansprucht) Traktat, dem ich begegnet bin, trifft den Nagel auf den Kopf, wenn sie, indem sie eine weiterentwickelte, lebendigere Form dieser Strategie voranbringen, darauf hinweisen, dass die Besetzer_innenbewegung starb, weil sie aufhörte, Strategien zu entwickeln (und so aufhörte zu wachsen und sich zu verändern, also stagnierte). Allerdings braucht es, um eine Strategie zu halten, mehr als einen Nagel. Aufgrund ihrer Struktur und folglich der Struktur der staatlichen Repression war Stagnation das zu erwartende Ergebnis der Besetzer_innenbewegung. Der Rückgang des Entwickelns von Strategien war das wahrscheinliche Resultat der Strategie selbst.


Wie steht's um den Organisationalismus?

Zunächst sollte ich anmerken, dass es sich dabei eher um eine formlose Gruppe handelt, nur wenige Leute betrachten sich als solche. Ein grosser Teil besteht aus den alten oder klassischen Anarchist_innen: Anarcho-Kommunist_innen, deren Strategie auf den Aufbau einer starken Föderation setzt oder Syndikalist_innen, die anarchistische Gewerkschaften aufbauen oder anderweitig in der Arbeiter_innenbewegung tätig sind. Einige in diesem Lager sind soziale Anarchist_innen, die es vorziehen, sich in der Mainstream-Gesellschaft beteiligen, als irgendetwas zu unternehmen, das nach Kampf aussieht (weder Klassenkampf noch aufständische Kämpfe). Nicht wenige davon sind anarchistische Aktivist_innen, die in offenen Organisationen an bestimmten Themen arbeiten, vielleicht ohne dabei eine langfristig ausgerichtete Strategie zu verfolgen. Sie werden von der insurrektionalistischen Kritik mit allen anderen in einen Topf geworfen und gleichermassen kritisiert. Ich werde mich im Folgenden auf die klassischen Anarchist_innen konzentrieren, da diese deutlich artikulierte Strategien haben (dies ist auf keinen Fall als Kritik an den Übrigen zu verstehen, im Grunde kann es besser sein, keine Strategie zu haben, als eine übervereinfachte, dogmatische). Hoffentlich ist die Kritik, die ich hier anbringe, hilfreich für Anarchist_innen, die in Erwägung ziehen, formale Organisationen zu nutzen. Einerseits ist es gut gewählt, dem Aufbau sozialer Bewegungen und der Zugänglichkeit für Aussenstehende grosse Bedeutung zu geben. Es ist offensichtlich, dass die Isolation eines der Hauptprobleme amerikanischer Anarchist_innen ist. Die Organisation in offenen Gruppen um Themen, die bereits im Bewusstsein einer breiten Masse sind, kann helfen, diese Isolation zu überwinden. Es ist überaus hilfreich, wenn es Formen anarchistischer Aktionen gibt, bei denen Leute mitmachen können, die relativ easy sind; Aktionen, die keinen Sprung direkt vom gewöhnlichen Leben in den kompromisslosen Krieg gegen das System erfordern. (Einem Nebenarm folgend: Häufig preisen Insurrektionalist_innen die Nachahmbarkeit bestimmter Aktionen, aber ich frage mich, wie viele von ihnen als aktivistische Anarchist_innen angefangen haben und wie viele von Beginn an Insurrektionalist_innen waren. Anders gesagt: Wie nachahmbar ist der insurrektionalistische Anarchismus für die meisten Leute?)


Die Kommunikation und Koordination, die – sagen wir mal – eine Föderation zu leisten vermag, kann in gewissen Fällen hilfreich sein. Viele europäische Organisationen zur Gefangenenunterstützung, auf die sich Anarchist_innen aller Art verlassen, sind als Föderationen organisiert. Organisationen können den Kampf auch aufbauen und eskalieren. Die Aktionen einer anarchistischen Gewerkschaft etwa können den Anarchismus mehr Leuten zugänglich machen. Sie können einen unmittelbar erkennbaren Weg bieten, sich einzubringen, ein Forum zur Verbreitung von Ideen sein und die Aufrichtigkeit und praktische Ader von Anarchist_innen zeigen, kurzfristige Verbesserungen erreichen zu können. Ich würde darauf wetten, dass Leute, die ein paar Erfahrungen in einer Gewerkschaft sammeln konnten und so aus erster Hand etwas über Streiks gelernt haben, viel eher einen wilden Streik beginnen werden als solche, die keine Gewerkschaftserfahrung haben.


Ein Ansatz, der sich stark auf formale Organisationen stützt, hat auch eine Reihe von Schwächen. Da sich diese Schwächen über ein Jahrhundert lang immer und immer wieder in aller Klarheit gezeigt haben, ist es eine verdammte Schande, sie hier einmal mehr aufzählen zu müssen, aber unglücklicherweise sieht es so aus, als ob es notwendig sei. Demokratische Organisationen, die irgendeine Form von Repräsentation kennen, können schnell bürokratisch und autoritär werden. Basisdemokratische Organisationen laufen immer noch Gefahr, von politischen Schwergewichten dominiert zu werden (wie Bob Black in Anarchy After Leftism (8) detaillierter herausgearbeitet hat). Und es wird immer problematisch, sobald eine Gesellschaft das Wirtschaftliche vom Politischen trennt und einen begrenzten Raum kreiert, in dem die Entscheidungen gefällt werden und deren Entscheidungen mehr Autorität haben als die Entscheidungen und Kommunikationen anderswo im sozialen Leben.


Organisationen sollten temporär sein, gebunden an den Bedarf, für den sie gebildet wurden, und sie sollten übergreifend und pluralistisch sein. Ansonsten entwickeln sie ein Interesse an ihrem eigenen Überleben und Wachstum, was schnell in Konflikt mit den Bedürfnissen der Leute gerät. Dieses organisationseigene Interesse wurde wieder und wieder benutzt, um radikale soziale Bewegungen zu kontrollieren und zu rekuperieren. Es sollte schon lange klar sein, dass das Verwenden formaler Organisationen riskant und bestenfalls mit Vorsicht zu geniessen ist. Dennoch beharren einige «organisierte» Anarchist_innen sogar darauf, dass alle Anarchist_innen einer einzigen Organisation beitreten sollen. Ich habe noch nie ein Argument dafür gehört, wie das in irgendeiner Form effektiv sein könnte, ausserdem ist die Frage irrelevant, da es weder möglich ist noch befreiend wäre. Die freiwillige Assoziation wird als Prinzip bedeutungslos, wenn von allen erwartet wird, einer bestimmten Organisation beizutreten, selbst wenn diese noch so perfekt wäre. Trotzdem habe ich von einigen Anarcho-Kommunist_innen den widerlichen Satz gehört: «Das sind keine echten Anarchist_innen» – einfach weil diese Nicht-Anarchist_innen nicht mit ihnen zusammenarbeiten wollten. Das Interesse an der Zusammenarbeit in einer erfolgreichen Organisation unterstützt die Konformität der Ideen ihrer Mitglieder, insbesondere wenn sie einzigartig ist (wie The Only Anarchist Group You'll Ever Need to Join!), was dazu führen kann, eine ganze Menge Zeit damit zu verschwenden, die richtige Linie zu finden und in der Zusammenarbeit mit anderen Leuten unerträglich zu werden (das 1995er Pamphlet «Die Rolle der revolutionären Organisation» der anarcho-kommunistischen Föderation – Fédération Anarchiste – sagt sehr klar, dass sie sich selbst nur als eine von vielen Organisationen der Bewegung sehen, sie schwören dem Ziel jeglicher organisatorischen Hegemonie ab; vielleicht ist das Problem das Fehlen der tiefen Erkenntnis, dass all diese Organisationen sich der Bewegung auf gänzlich verschiedene Weise nähern könnten, sich anders darauf beziehen und sie anders wahrnehmen).


Kooperation & Pluralismus

Hoffentlich ist mittlerweile klar geworden, wie diese beiden Strömungen kooperieren können, um eine grössere Wirksamkeit zu erzielen. Zuallererst, indem sie die fürchterliche Anmassung aufgeben, dass die Anderen, nur weil sie mit unserer Sichtweise nicht übereinstimmen, nichts Stichhaltiges zu bieten hätten. Daraus folgt anzuerkennen, dass verschiedene Leute es vorziehen, auf verschiedene Arten aktiv zu sein. Ohnehin zieht es verschiedene Temperamente zu verschiedenen anarchistischen Strömungen, lange bevor die Theorie ins Spiel kommt. Einige werden nie zu euren langweiligen Treffen kommen wollen oder sich an ihrem Arbeitsplatz organisieren (sie wollen noch nicht einmal einen Arbeitsplatz). Andere werden nie einen Fuss in euer abgeranztes Squat setzen wollen oder mit der Angst leben, dass der Staat ihnen aufgrund ihrer Lebensweise die Kinder wegnimmt (sie werden ihre Kinder nicht mal dem Stress eines Lebens im ständigen Kriegszustand aussetzen wollen). Und weisst du was? Das ist voll ok und natürlich so – wenn wir einander den Rücken stärken. Öffentlich agierende Organisationalist_innen, die Unterstützung für Insurrektionalist_innen aufbauen; die vermummten Terrorist_innen beistehen, anstatt sie zu denunzieren, werden eine stärkere Bewegung schaffen. Insurrektionalist_innen, die jene Sabotage durchführen, zu denen die Organisationalist_innen aufgrund ihrer exponierten Lage nicht aufrufen können, die mit der Aussenwelt in Kontakt stehen und dafür sorgen, dass die Organisationalist_innen ehrlich bleiben und das grössere Bild, den Horizont des Möglichen nicht aus den Augen verlieren, werden eine stärkere Bewegung schaffen. Organisationalist_innen, die Insurrektionalist_innen ausschliessen, helfen ihnen, sich zu isolieren. Insurrektionalist_innen, die in Organisator_innen den Feind sehen, helfen ihnen, den Kampf zu rekuperieren. Dies sind selbsterfüllende Prophezeiungen. Den Insurrektionalist_innen kann der Aufbau von Bewegungen und die sozialen Ressourcen der Organisationalist_innen helfen, denen wiederum die radikalere Perspektive und die manchmal stärkeren Taktiken der Insurrektionalist_innen, Träume direkt in die Praxis umzusetzen, helfen kann.


Von den griechischen Anarchist_innen lernen

Da die anarchistische Bewegung in den USA, vor allem die Insurrektionalist_innen, für ihre Inspiration oft nach Griechenland schielt, finde ich interessant, dass die griechische Erfahrungen zu zeigen scheinen, dass die beiden Herangehensweisen sich ergänzen, obwohl die involvierten Spektren bittere Feinde sind. In den Staaten hören wir meist von den Griech_innen, wenn sie eine Polizeiwache angreifen oder Überwachungskameras abfackeln – ungefähr jede Woche. Aber wir hören nichts über die Basis, die das ermöglicht. Für Neulinge sei gesagt, dass Griechenland sich einer anarchischeren Kultur erfreut. Familienbande sind stärker als die Loyalität zum Staat (griechische Anarchist_innen waren schockiert, als sie hörten, dass einige Häftlinge in den USA von Verwandten verpfiffen wurden), Misstrauen gegenüber der Obrigkeit ist weitverbreitet, viele Leute erinnern sich noch an die Militärdiktatur und verstehen die potentielle Notwendigkeit, gegen die Bullen zu kämpfen. Die US-Kultur unterstützt unseren Einsatz nicht annähernd so stark, also müssen wir herausfinden, wie wir auf die breitere Kultur Einfluss nehmen können, damit sie fruchtbarer wird für die Anarchie.


Der Staat macht seit Jahrhunderten das Gegenteil. Ich kann nicht beurteilen, in welchem Ausmass die Anarchist_innen in Griechenland die sie umgebende Kultur beeinflusst haben und inwieweit sie einfach darauf aufbauen konnten, aber es gab eindeutig bewusste Versuche, Einfluss auf die soziale Situation zu nehmen. Ein enormer Teil des Aktivismus wird auf den Kampf gegen das EU-Einwanderungsregime verwendet, darauf, mit Immigrant_innen zusammenzuarbeiten und diese zu unterstützen. Die besetzten sozialen Zentren spielen dabei eine wichtige Rolle. Solcherlei Arbeit trägt auch dazu bei, die anarchistische Bewegung vielfältiger zu machen. Die Organisierung von Arbeiter_innen spielt eine Rolle in Griechenland, wobei ich davon während meines Aufenthaltes viel weniger mitbekommen habe. In Athen ist das Fundament, das den Grossteil der lokalen anarchistischen Bewegung lebendig und aktiv hält, ein Stadtteil: Exarchia. Das gesamte Viertel, angesiedelt im Zentrum der Hauptstadt, vermittelt das Gefühl einer halb-autonomen Zone. Du kannst ohne grosses Risiko am Tage sprühen gehen (kleistern ist noch sicherer), siehst mehr anarchistische Propaganda als kommerzielle Werbung und nur ganz selten begegnest du Bullen. Oft findest du entlang der Grenzen des Viertels Einheiten nervöser Riot Cops (nervös, weil es für sie nicht ungewöhnlich ist, angegriffen zu werden). Die autonomen Zentren, die Zerstörung von Überwachungskameras, die Angriffe auf Cops mit Molotow Cocktails, sind alle charakteristisch für den insurrektionalistischen Ansatz. Aber für die rebellische Natur von Exarchia ebenso wichtig sind die von den sozialen Zentren organisierten Sprachkurse für Immigrant_innen, die freundlichen Beziehungen zu den Nachbar_innen (worin «Black-Block-Typen» nicht immer brillieren) und sogar – seltsamerweise – einige von Anarchist_innen geführte Geschäfte.


In den USA würde der Ausdruck «anarchistisches Geschäft» verächtlich verspottet werden, obwohl niemand etwas gegen anarchistische Buchläden einzuwenden hat. Aber in Exarchia (und das ist auch in Berlin und Hamburg so) stärken Geschäfte, hauptsächlich Bars, deren Eigentümer_innen Anarchist_innen sind, der anarchistischen Bewegung den Rücken. Ich finde den Gedanken dahinter ziemlich einleuchtend. Wenn einige Anarchist_innen zwischendurch Arbeit brauchen (was in den USA häufiger vorkommt als im Grossteil Europas), kann es besser sein, eine eigene Bar als Ressource für die Bewegung zu eröffnen, als bei Starbucks zu arbeiten. Wenn Anarchist_innen sich jeden Freitag Abend in einer Bar treffen (was auf Kinos und andere Dinge übertragen werden kann), wieso dann nicht in einer Bar, die einen Freund und die Bewegung (als Ort für Veranstaltungen und sogar als Spendenquelle) unterstützt? So können auch Erfahrungen zur Gründung von Kollektiven gesammelt und die lokale Bourgeoisie aus dem halbautonomen Viertel gedrängt werden, die sonst eine reaktionäre Kraft dort darstellen würde. Ich plädiere hier ganz sicher nicht für das «Aufkaufen der Kapitalisten» als revolutionäre Strategie, aber in Exarchia und andernorts haben anarchistische Geschäfte beim Aufbau einer stärkeren Bewegung eine Rolle gespielt.


Am Wichtigsten für die Stärke der griechischen Anarchist_innen war die studentische Bewegung. Die Studierenden befanden sich ein Jahr lang im Streik (zusammen mit Professor_innen und sogar vielen Oberstufenschüler_innen). Sie protestierten gegen eine neoliberale Bildungsreform, welche die Universitäten nach wirtschaftlichen Massstäben ausrichten würde, einige von ihnen privatisieren und die offiziell anerkannte Tradition des Asyls – welche es der Polizei verbietet, auch nur einen Fuss in die griechischen Universitäten zu setzen – beenden würde. Auf der oberflächlichsten Ebene hat die studentische Bewegung den Anarchist_innen viele weitere Gelegenheiten gegeben, mit der Polizei zu kämpfen. Etwas tiefgründiger betrachtet, ist dies vielleicht der soziale Konflikt mit dem grössten Potenzial, in Griechenland zu einer aufständischen Situation zu führen, in einigen Aspekten ähnlich wie Paris 1968. Eine strikt organisationalistische Strategie, egal ob in der syndikalistischen oder der anarcho-kommunistischen Variante, wäre zu schwach und zu zahm. Eine weitere Organisation wäre einfach nur eine Konkurrentin der kommunistischen Partei und hätte einen konservativen Effekt auf die Leidenschaften der Studierenden, die die Tendenz zeigen, lange vor den Plänen und Vorhersagen der Organisationen zu explodieren und zu handeln, woraufhin die Organisationen die Wut der Obrigkeit zu spüren bekommen. Ein strikt insurrektionalistischer Ansatz würde die Anarchist_innen von der studentischen Bewegung isolieren, welche die Anarchist_innen zunehmend als Parasiten sehen würde, die nur kommen, um mit den Bullen zu kämpfen. Ohne Verstrickung einer anarchistischen Perspektive wird nichts die politischen Parteien dabei aufhalten, die Bewegung zu kontrollieren. Und es ist unwahrscheinlich, dass die Anarchist_innen viel Respekt in der studentischen Bewegung erlangen würden, wenn sie den Einsatz für das kurzfristige Ziel verachten, die Bildungsreform zu verhindern. Das Dogma über den Reformismus beiseite legend, sollte es möglich sein, den tragischen taktischen Verlust zu sehen, den die Anarchist_innen erleiden würden, sollte den Universitäten ihr Asyl-Privileg entzogen werden (im Moment können Leute eine Gruppe Bullen attackieren, zurück in die Uni rennen und dort sicher vor ihnen sein). Und sicherlich ist eine wild entschlossene Bewegung mit Mitteln der direkten Aktion weit eher als eine passive, von Parteipolitik dominierte Bewegung dazu in der Lage, die Regierung vom Inkraftsetzen dieser Bildungsreform abzubringen.


Anarchist_innen können Leute inspirieren, Leidenschaften entfachen, nationale Aufmerksamkeit erregen und die unmittelbar wahrnehmbare und berauschende Befürchtung schüren, dass die Dinge sich verändern können – indem sie gegen die Polizei kämpfen, sich die Strasse zurücknehmen und die Universitäten besetzen. Indem sie anarchistische Ideen verbreiten, Universitäten in freie Schulen verwandeln, Besetzungskomitees gründen, Streiks organisieren und die Übernahme studentischer Versammlungen durch die politischen Parteien verhindern, können andere Anarchist_innen Brücken schlagen, damit mehr Leute mitmachen können; sie können den Raum eröffnen, um Solidarität mit anderen Bereichen der Gesellschaft zu ermöglichen und so die Bewegung stärken, die Basis der Chance auf Veränderung ist. Wenn Anarchist_innen beider Art zusammenarbeiten, wird es unwahrscheinlicher, dass die Insurrektionalist_innen als Aussenstehende verstossen, isoliert und der Polizei ausgeliefert werden, weil sie Verbündete inmitten der Bewegung haben. Wenn der Staat auf die organisierten Anarchist_innen zugeht, um ihnen Verhandlungen anzubieten, wird es unwahrscheinlicher, dass sie nachgeben, weil sie Freund_innen ausserhalb der Organisation haben, die sie in die Verantwortung nehmen und sie daran erinnern, dass die Macht auf der Strasse ist.


Lehren aus der Geschichte: Spanien 1936 & Paris 1968

Ähnliche Lehren über die Vereinbarkeit dieser beiden Ansätze können aus der anarchistischen Geschichte in Spanien 1936 und Frankreich 1968 gezogen werden. Beide Episoden zeigen letztlich, dass der Aufstand eine fortgeschrittenere Form des Kampfes ist, dass das Warten auf den richtigen Moment reaktionär ist, dass bürokratische Organisationen wie die Gewerkschaft CNT oder die französische Studierendenvereinigung in Kollaboration mit der Macht endeten und die Bewegung rekuperierten. Was dabei leicht übersehen werden kann, ist, dass aufständische Taktiken nicht die zentrale Kraft im Aufbau der nötigen Basis für die Revolution waren, für den die CNT sowie die französische Studierendenvereinigung eine wichtige Rolle spielten (erstere durch das Verbreiten von anarchistischen Ideen, das Anzetteln von Streiks und Aufständen, den Aufbau solidarischer Verbindungen, die Vorbereitung der Arbeiter_innen auf die Übernahme der Wirtschaft und das Zurückschlagen des faschistischen Putsches in einem Grossteil Spaniens. Letztere beim Verbreiten radikaler Kritik – wenigstens in gewissen Sektionen – und beim Organisieren von Versammlungen zur kollektiven Entscheidungsfindung). Sie scheiterten, weil sie nicht erkannten, dass es mit ihrer Nützlichkeit zu einem bestimmten Zeitpunkt vorbei war und dass ihre Organisationen, so wichtig sie auch waren, nicht die Revolution selbst sind (dies soll keinesfalls heissen, dass es eine Vorbereitungsphase geben soll, in der die Zeit nicht reif ist für aufständische Taktiken. Klandestine Angriffe können in jeder Phase helfen, eine starke, entschlossene Bewegung aufzubauen. Mit dem Angriff zu warten, bis die Bewegung gross genug ist, führt zu einer grossen, schwachen Bewegung ohne Erfahrung in Taktiken, die nötig sein werden, um zu wachsen und die steigende Repression zu überleben. Es könnte sogar zu einer grossen, pazifistischen Bewegung führen, was schrecklich wäre). Ob es um das Leben in einem besetzten Haus geht, oder um das Leben in einer Wohnung und das Organisieren einer Mieter_innenvereinigung – es wird immer Leute geben, die das eine oder das andere bevorzugen, die theoretische Ebene einbringen oder nicht. Dies ist eine gute Sache, weil beide Aktionen helfen können, eine anarchistische Welt aufzubauen. Wenn wir als Anarchist_innen unseren engstirnigen Dogmatismus aufgeben und die Komplexität willkommen heissen, die es in jedem revolutionären Prozess gibt, kommen wir dem näher.


Weil ich offenbar nicht sehr glücklich bin mit einem Happy End, möchte ich einige Probleme betonen, von denen ich denke, dass sie beiden Tendenzen gemeinsam sind. Ich habe bereits die monotheistische Mentalität erwähnt, die zu Spaltungen in der Bewegung führt. Insbesondere in den USA existiert dies in grösserem Umfang, als Unfähigkeit der meisten Anarchist_innen, auf gesunde Art mit Leuten ausserhalb der Bewegung zusammenzuarbeiten. Man scheitert darin, herauszufinden, wie andere Amerikaner_innen ticken, für was sie sich begeistern, welcher Bereich ihres Lebens illegal ist, unter welchen Umständen sie rebellieren werden und wie man sie einbinden kann. Es gibt darauf keine einfache Antwort und die komplexen Antworten werden sich je nach Region, Gemeinschaften und Individuen unterscheiden, aber ich denke, die meisten Anarchist_innen gleich welcher Richtung bleiben lieber in selbstbezogenen, repetitiven Aktionen stecken, anstelle sich in diese langweilige Arbeit hineinzubegeben. Zugegebenermassen ist die Bevölkerung in den USA nicht einfach für anarchistische Ideen zu gewinnen. Unsere Kultur fördert Anpassung, Isolation und protestantische Arbeitsethik stärker als die meisten anderen. Wir sollten dies als Herausforderung sehen und weiter machen.


Die Unfähigkeit, mit anderen zusammen zu arbeiten, offenbart auch einen anderen westlichen Wert, der mit dem Anarchismus krasser im Widerspruch steht als mit dem Monotheismus, nämlich die «Reissbrett-Mentalität», die tiefsitzende Sicht der Welt von oben, mit uns selbst in der Position des Architekten oder des Generals. Es ist das Verständnis, die Gesellschaft zu verändern, indem du die Leute zwingst, sich auf eine bestimmte Art und Weise selbst zu organisieren. Die klassischeren Anarchist_innen nehmen die eine Extremposition ein – was meistens die Ursache für die Kritik ist, sie seien autoritär oder marxistisch – indem sie ein Programm pushen oder darauf bestehen, dass es nur zur Revolution kommt, wenn die Leute die Welt durch die enge Brille des Klassenbewusstseins sehen. Die Insurrektionalist_innen haben dies ansatzweise kapiert und gehen in das andere Extrem, indem sie dem Aktivismus abschwören und den Kontakt mit Leuten, die sehr anders sind als sie, weitestgehend meiden. So müssen sie nicht fürchten, ihre Meinung irgendwem aufzuzwingen. Es sollte offensichtlich sein, dass beide Ansätze auf der Annahme beruhen, dass Kontakt zu Leuten, die anders sind, zu einer missionarischen Beziehung führen muss, in der einer den anderen bekehrt. Die Idee gegenseitiger Beeinflussung, der Organisierung mehr im Sinne des Aufbaus von Beziehungen mit Leuten als im Sinne des Rekrutierens, fehlt generell.


Privilegien der Weissen

Meiner Ansicht nach besteht das grösste Problem von Insurrektionalist_innen und organisierten Anarchist_innen (und ebenso der meisten anderen) im Weiss-Sein: Mehr noch als das Versagen weisser Anarchist_innen, einen Umgang mit dem mystifizierenden Problem weisser Privilegien zu finden, meine ich damit das absichtliche Bewahren eines Bewegungsnarrativs, das die Geschichten von Weissen erzählt und die Werte von weissen Leuten enthält, und die Weigerung, die Tragweite der weissen Vorherrschaft als System von Unterdrückung anzuerkennen, das in jedem Moment ebenso wichtig ist wie Staat, Kapitalismus oder Patriarchat.


Verschiedene weisse Anarchist_innen finden, je nach Analyse, unterschiedliche Wege, die Frage der Rassendiskriminierung herunterzuspielen. Aber eine weit verbreitete Ansicht scheint der anhaltende kolonialistische Glaube zu sein, dass die Anderen, um erlöst zu werden, d.h. damit wir mit ihnen klarkommen, so werden müssen wie wir – oder zur Hölle fahren. Einerseits kann dieser Glaube im Beharren darauf bestehen, dass weisse Vorherrschaft nichts anderes ist als ein Werkzeug und eine Erfindung des Kapitalismus, was sich ökonomisch wunderbar begründen lässt. Darum sollen People of Color, um sich zu befreien, jegliche partikuläre Erfahrung und Geschichte preisgeben, die sie in dieser Welt aufgrund ihrer Hautfarbe gemacht haben. Sie sollen sich vor allem als Arbeiter_innen verstehen, die nichts als fiktive Barrieren von den weissen Anarchist_innen trennt, die in ihren Gewerkschaftshäusern sitzen und warten, dass ein bisschen Vielfalt hereinspaziert. Das Kleinreden der Rassendiskriminierung kann sich auch hinter der missbräuchlichen Verwendung der Erkenntnis vestecken, dass Rasse eine Erfindung ohne physiologische Grundlage ist. Viele Anarchist_innen führen dieses Argument weiter und sagen, dass Rasse nicht existiert. Ich kann mir vorstellen, dass dies für sehr viele Menschen auf der Welt ein Schlag ins Gesicht ist, auch widerspricht es eindeutig meinen eigenen Erfahrungen und ist zudem in sich ein höchst idiotisches Statement. Etwas, das nicht existiert, kann per Definition keine Auswirkungen auf die reale Welt haben. Ich denke, dass die meisten Anarchist_innen, die so etwas sagen, schockiert wären, sollte jemand behaupten, dass es keinen Rassismus gibt. Offenbar kommt bei ihnen eine Form der Verleugnung zum Tragen, wie sie mit Missbrauchsbeziehungen einhergeht, die sie daran hindert zu erkennen, dass sie genau das Gleiche sagen (andere Anarchist_innen wählen den unehrlicheren, aber unangreifbaren Weg, jede ausführlichere Beschäftigung mit dem Thema Rasse als «Identitätspolitik» zu brandmarken). Rasse ist eine schädliche Kategorie, die abgeschafft werden muss, aber ebenso wie der Kapitalismus oder der Staat kann sie nicht einfach weggewünscht werden. Das Problem löst sich nicht dadurch, dass man die Kategorie aus der eigenen Analyse ausschliesst, ebenso wenig wie AIDS oder Wunden einer Schlägerei weggewünscht werden können. Die liberale Mentalität der «Farbenblindheit», an der so viele Anarchist_innen festhalten, kann die weisse Vorherrschaft nur verlängern. Solange bis weisse Anarchist_innen aller Couleur zulassen – oder vielmehr: dazu ermutigen – dass der Anarchismus nicht-weisse Geschichten annimmt, wird Anarchismus für die meisten People of Color in etwa so relevant sein wie Wählengehen für Immigrant_innen. So lange Anarchist_innen fortfahren, Differenzen auf die gleiche Art wahrzunehmen, wie uns der Staat und die Zivilisation, der wir uns entgegenstellen, gelehrt hat, solange werden wir niemals die Breite an Perspektiven und Beteiligung erreichen, die wir brauchen, um zu gewinnen.



(1)   Anm. d. Üb.: Die Anhänger_innen von Ricardo Flores Magón waren eine treibende Kraft der mexikanischen Revolution (1910). Sie verknüpften anarchistische Ideale mit den Erfahrungen ihrer indigenen Vorfahren bei der gemeinschaftlichen Bewirtschaftung des Gemeindelandes. Ihre Forderung nach «Land und Freiheit» («Tierra y Libertad») wurde später auch von den Zapatist_innen aufgegriffen.

(2)  Anm. d. Üb.: Die erwähnten Texte finden sich unter http://www.anarkismo.net/newswire.php?story_id=5319

(3)  Anm. d. Üb.: Rekuperation: Auf Systemerhalt abzielende Integration des Widerstands durch Vereinnahmung.

(4)   «One big Union!» ist der Schlachtruf der Industrial Workers of the World (IWW), auch Wobblies genannt, die zu Beginn des letzten Jahrhunderts die Massenarbeiter_innen der USA organisierte. Sabotage zählt ebenso zu ihrem Repertoire wie wilde Streiks und betriebsübergreifende Solidaritätsaktionen. Ihre Zeitungen erschienen in mehreren Sprachen, anders als die Facharbeitergewerkschaft AFL-CIO standen die IWW auch Frauen und Schwarzen offen.

(5)  Anm. d. Üb.: Auf diesen Punkt wird im Anhang (http://www.anarkismo.net/newswire.php?story_id=5319) noch ausführlicher eingegangen.

(6)   In der Zeitschrift Green Anarchy habe ich sogar einen ziemlich blöden Aufruf gelesen, Momentum statt Bewegung zu sagen. Sollte der Autor dieses Textes irgendwas anderes gewollt haben, als «Bewegung» als «die schlechte Art von Bewegung» zu definieren und alles andere «Momentum» zu nennen, dann ist das aufgrund der unter (anti)politischen Schreiber_innen angesagten Präferenz für Worte statt Bedeutungen nicht sehr klar geworden.

(7)  Anm. d. Üb.: Der betreffende Text findet sich unter http://tarnac9.noblogs.org/gallery/5188/Aufruf.pdf

(8)  Anm. d. Üb.: http://theanarchistlibrary.org/library/bob-black-anarchy-after-leftism

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ich denke auch "Rassen" existieren, aber die Reihenfolge ist wichtig.

Erst gibt es Rassismus, und dieser konstruiert "Rasse" als Unterscheidungsmerkmal für Menschen, die dann als Kategorie im allgemeinen Gedächtnis haften bleiben als wären sie tatsächlich da.

Ähnliches gilt auch für Nationalismus und derlei Kategorisierungen.